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Full text of "Russische Literaturgeschichte"

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m 



Russische Literaturgeschichte 



I 



Russische 
Literaturgeschichte 

Von 

Dr. Ernst Friedrichs 



Verlag Friedrich Andreas Perthes A.-G. Gotha 1921 



V 



Copyright 192 1 by Friedrich Andreas Perthes A.-G» Gotha 



Alle Rechte, einschließlich des Über^etzungsrechtes , yorbehalten' 



Russische Literaturgeschichte 



YI Vorwort 

diese oder jene Anregung empfangen hat , und so führt der Weg 
ganz von selbst weiter in andere Länder, zu andern Völkern. Da ge- 
nügt dann aber nicht mehr ein allgemeiner Hinweis mit allgemeinen 
Redensarten auf das andere Land, sondern man muß wirklich tiefer 
in die Werkstatt, in die Arbeitsstube des Dichters eindringen. Das 
Interesse hierfür wird sich speziell in unserem Fall noch steigern, 
wenn man sieht, welchen außerordentlichen Einfluß gerade 
die deutsche Literatur auf die russische ausgeübt hat. 
Es hat Zeiten in Rußland gegeben, wo die russische Literatur 
direkt ein Ausfluß der deutschen gewesen ist, wo rus- 
sisches Wissen und russische Kunst deutsches Wissen 
und deutsche Kunst waren. Man liest so viel vom französischen 
und englischen Einfluß auf die russische Literatur und so wenig vom 
deutschen. Der deutsche ist aber nicht allein weit mächtiger als 
diese beiden gewesen, sondern der englische und der französische 
Einfluß sind häufiger nur durch die Vermittlung des deutschen erst 
in die russische Literatur hineingetragen worden. Natürlich je höher 
sich eine Kunst entwickelt, desto mehr enträt sie der Anlehnung. 
So verflüchtigt sich von Puschkin ab das fremde Fluidum nach und 
nach, und die neueste Zeit kennt besonders die deutsche Einwirkung 
überhaupt nicht mehr. 

Ich möchte eine korrekte Aussprache der Namen auch dem 
die russische Sprache nicht Beherrschenden ermöglichen. Dazu scheint 
mir die in sprachwissenschaftlichen Büchern geltende Transkription 
nicht passend; für die große Mehrzahl erhöht sie eher noch die 
Schwierigkeiten. Ich wähle deshalb die gerade heute allen liegende 
Orthographie unserer Tagespresse, muß aber auch dabei noch auf 
einiges hinweisen: „sh" vertritt den Zischlaut in „Genie". — An- 
statt „ss" schreibe ich (des Aussehens halber) nur „s" zwischen 
zwei Konsonanten und vor „t" und „k", da die Aussprache hier 
von selber scharf genug wird. — Für „w" setze ich am Ende eines 
Wortes „ v", um die bei uns beliebte Aussprache „Lützo" (= Lützow) 
zu vermeiden. — Das russische jotierte „e" gebe ich nicht überall 
durch „je" wieder, nicht nach „1", da unser „1" schon reichlich 
weich ist, ebenso nicht nach „g" und „r". — Um die betonte 
Silbe richtig zu treflen, ist sie im Namenverzeichnis akzentuiert. 

Berlin, November 1920. 



Inhalt 



Seite 

I. Kapitel: Die ältesten DenkmiUer bis zum Einfall der Tataren i 

. 2. ,, Unter dem Mongolenjoch 12 

3. „ Die vorpetrinische Zeit 14 

4. „ Peter der Große 18 

5. „ Die Anfänge des rassischen Theaters und des rassischen Dramas . 21 

6. „ , Wissenschaft und Kunst unter Peters Nachfolgern. — Lomonossov 26 

7. „ Katharina II. — Petersburg und Moskau 32 

8. „ Die französische und die deutsche Richtung. — Die Freimaurerei. — 

Djershawin 34 

9. „ Karamsin 44 

10. „ Der russische Roman. — Die Karamsinisten 48 

11. yy Die Romantik. — Shukowskij 53 

12. . yy Der romantische Realismus 59 

13. ,, Alexander Ssergejewitsch Puschkin 60 

14' » Michael Jurgewitsch Lermontov 65 

15. „ Um Puschkin herum 70 

16. yy . Die Realisten (Naturalisten). — Die Westlinge. — Die Slawophileo 74 

17. ,, Der realistische (naturalistische) Roman. — Turgenjev. — Gontscharov 81 

18. „ ^ic „ Anklageliteratur ", ihre Ausströmungen und Gegenströmungen . — 

Die Narodniki S6 

19. „ Dostojewski] 109 

20. „ Leo Tolstoj III 

21. „ Der Pessimismus der letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts . . 116 

22. „ Die Gegenwart: Pessimismus. — Symbolismus. — Erotik. — 

Futurismus. — Realismus (27 

Anhang: Anmerkungen 138 

Verzeichnis der literarischen Persönlichkeiten 149 



\ 



Erstes Kapitel 
Die ältesten Denkmäler bis zum Einfall der Tataren 

§ 1 I Die Slawen, die ältesten Bewohner des östlichen Europas (im 
Altertum Skythen und Sarmaten), nahmen den weiten Raum von der Oka 
bis zur Elbe, von der Donau bis zur Ostsee ein und teilten sich in viele 
Stämme, von denen die bedeutendsten sind: die Poljänen am mittleren 
Lauf des Dnjepr, die Kriwitschen an der Mündung der Wolga, die Now- 
gorodzer an den Ufern des Ilmensees. 

Die Slawen gehören, wie wir, zur indogermanischen Sprachenfamilie. 
Vor Annahme des Christentums war ihre Religion, wie bei uns, Natur- 
verehrung. Ihre Hauptgötter waren Pjerun, der Gott des Donners, des 
Blitzes und des Kriegs, Dashbog, der Sonnengott, Woloss, der Schützer 
der Herden. Ihren Göttern brachten sie Tiere, auch Menschen zu Opfern. 
Sie waren starke, kräftige Leute, gastfreundlich, sanftmütig, im Norden 
blondhaarig, im Süden dunkel. 

Im 9. Jahrhundert gaben die Slawen das Nomadenleben auf und be- 
schäftigten sich mit Ackerbau und Viehzucht. Die ersten Städte waren 
Nowgorod, Pskov, Polozk, Ssmolensk, Kijev. Öie rieben sich jedoch in 
inneren Zwistigkeiten auf und wurden so leicht eine Beute kriegerischer 
Nachbarn, besonders der Chasaren und der Normannen. Die Chasaren, 
türkischen Stammes, bedrängten sie von Süden und nahmen von ihnen 
Tribut; sie herrschten in Kijev. Die Normannen, die Bewohner von 
Skandinavien (Waräger), bedrängten sie von Norden. 

Durch die inneren Kämpfe erschöpft, kamen mehrere verbündete 
slawische Stämme im Norden zu der Überzeugung, daß nur eine starke, 
einheitliche Macht sie vor dem Elend der Gesetzlosigkeit retten könnte, 
und erbaten deshalb bei einem befreundeten normannischen Stamme 
Rus (Rus ist die finnische Bezeichnung der Schweden) einen Fürsten. 
So geht die Sage ; in Wirklichkeit haben sich die Waräger kaum bitten 
und nötigen lassen; sie werden wohl von selber gekommen sein. Jeden- 
falls zog im Jahre 862 Rurik, begleitet von zwei Brüdern und seinem 
ganzen Stamm, in das slawische Land ein und setzte sich in Ladoga, 
Nowgorod, Pskov, Polozk, Rostov, Bjelosjersk fest. Dieses Land empfing. 

Friedrichs, Russische Literaturgeschichte I 



Erstes Kapitel 



den Namen Rufiland. Die Hauptstadt war Nowgorod. Rurik nahm 
den Titel GrofifÜrst an. 

Rurik und seine Nachfolger dehnten die Grenzen des neuen Reiches 
weit aus, von den Ufern des ümensees bis zu den Stromschnellen des 
Dnjepr, bis zu den Quellen der Weichsel und zum westlichen Bug, bis 
zur Mündung der Oka und den Quellen des Chopjer. Alle slawischen 
und zum Teil auch finnischen Stämme erkannten die unumschränkte 
Herrschaft von Ruriks Haus an und traten in den Verband Rußlands, 
dessen Hauptstadt jetzt Kijev wurde. Oleg, ein Verwandter Ruriks und 
Vormund seines Sohnes Igor, belagerte sogar Zargrad (Konstantinopel). 

Der Urenkel Ruriks war Wladimir, der heilige Wladfmir. Im 
Anfang seiner Regierung führte er nach dem Beispiel seiner Vorgänger 
Kriege ; er unterwarf das jetzige Galizien und einen Teil von Litauen und 
Livland. Das Hauptverdienst Wladimirs war jedoch die Einführung des 
christlichen Glaubens in Rußland. Im Jahre 988 nahm er den christ- 
lichen Glauben der orientalisch-orthodoxen-katholischen 
(griechischen) Kirche an. 

Mit dieser Zeit kamen auch die ersten Anfänge einer Literatur. 
Mit dem christlichen Glauben erhielt Rußland die Bibel in der 
Übersetzung der Brüder Kyrill und Methodius, und auf ihr bauen 
sich bald andere religiöse Werke auf. Neben dieser Kunst- 
literatur läuft aber, mit ihren Anschauungen oft in die heidnische Zeit 
zurückreichend, viel, viel reichhaltiger und innerlich schöner, weil spezieU 
russisch, eine Volksdichtung, die, wenn man sie auch erst im Anfang 
des 19. Jahrhunderts zu sammeln begonnen hat, doch deutlich auf jene 
Zeit zurückzuftihren ist. 

Natürlich ist alles nach und nach entstanden. Denn auf die russi- 
schen Fürsten hatte das Christentum zunächst nur sehr geringen Einfluß. 
Nach dem Tode des heiligen Wladimir (f 10 15) brachen, genährt durch 
die Thronfolge „bestimmuDg", nach der jeder Sohn einen gleichen An- 
teil am väterlichen Reich hatte — und Wladimir hatte acht Söhne — , 
zwischen diesen Teilfürsten die schlimmsten, blutigsten Kämpfe aus, 
welche feindliche Völker wie die Polowzer, am nördlichen Ufer des 
Schwarzen Meeres, oder die Petschenegen, gleichfalls am Schwarzen Meer, 
die Litauer, die Polen, die Griechen zu Raubzügen ausnützten. Aber nach 
und nach ebnen sich auch diese Fluten. Man gründete Städte, Kirchen, 
Klöster, Schulen, und wir sehen unter Jarosslav dem Weisen (Mitte des 
II. Jahrhunderts) zwei der großartigsten Bauwerke entstehen: die Sophien- 
kathedrale in Kijev, ein herrliches Denkmal byzantinischer Kunst, noch 
heute erhalten, und ebenso noch heute erhalten das vornehmste KJoster 
Rußlands, das „Höhlenkloster" in Kijev. Man sagt kaum zuviel, wenn 
man die zweite Hälfte des 1 1 . Jahrhunderts und das 1 2 . Jahrhundert eine 
Blütezeit in der russischen Entwicklung nennt, auch auf literarischem Gebiet.. 



I 



. j 



Die ältesten Denkmäler bis zum Einfall der Tataren 



a) Volksdichtung 

§ 2 I In jedem Volk entwickelt sich zuerst die Lyrik i). Solche 
Lieder sind zunächst rituelle, an religiöse Gebräuche anknüpfend. Es 
erinnert ein Teil dieser russischen Lieder noch direkt ah die heidnische 
Zeit, an ihre großen Feste, an die ja nachher in kluger Weise die christ- 
liche Kirche angeknüpft hat. Für den ersten Kulturmenschen, den Acker- 
bauer, ist die Sonne das gütigste Wesen. Der Russe hat daher, genau 
wie unsere Vorfahren, die Sonnenwenden gefeiert, durch Tänze und durch 
Gesänge. Noch heute werden zur Sommer- wie zur Wintersonnenwende 
in den Dörfern der Ukraine und in Weißrußland auf den Feldern Holz- 
haufen angezündet; um sie herum wird getanzt und gesungen; die jungen 
Burschen und Mädchen springen durch das Feuer hindurch, um sich vor 
Krankheit zu bewahren. In der Nacht des Sommersonnenwendtags ver- 
sammeln sich nach dem Volksglauben die Hexen; da blüht auch der 
Farn, und seine Blüte hat die Zauberkraft, verborgene Schätze in der 
Erde zu zeigen. 

Andere Lieder besingen den Jegor-Tag (23. April), der noch jetzt vom 
Volke außerordentlich gefeiert wird. Der heilige Jegor-Jurij ist der heilige 
Georg. Seine Rolle war ^ vordem auch bei den höchsten Kreisen sehr 
groß, hat doch das Großfürstentum Moskau, das spätere russische Kaiser- 
reich, ihn in den Herzschild seines Wappens aufgenommen. An diesem 
Tag erschließt Jurij die Erde, gießt den Tau nieder und pflanzt die 
Gräser und das Korn. Er hat auch Macht über das Vieh. Deshalb 
fuhrt man am 23. April das Vieh zum erstenmal auf die Weide und ruft 
Jegor um Schutz an ; der Wolf kann ihm ohne Jegors Willen nichts tun. 

Ein anderer Feiertag ist der Ssjemik, der 7. (ceMt) Donnerstag nach 
Ostern. Die Jugend zieht in die VVälder und Haine an den Fluß, und 
da beginnt das „ Kränzeraten *' : wessen Kranz am schnellsten fortschwimmt, 
der heiratet zuerst; wessen Kranz untergeht, der heiratet nicht oder stirbt 
wohl gar. Der Ssjemik gehört auch den Russalki (bis ins 12. Jahrhundert 
hieß die ganze Festwoche Russalnja). Die Russalki sind im Süden unsere 
lustigen, mutwilligen Wassernymphen ; im Norden und Osten dagegen ge- 
hören sie zur Zahl der bösen Kobolde; in Kleinrußland sind sie auch 
die Seelen der ungetauft gestorbenen Kinder. 

Auch an wichtige menschliche Einrichtungen knüpfen die Gesänge 
an. Die wichtigste ist die Ehe. Die Lieder sind nun recht charakteristisch 
für die Entwicklungsstufen der Ehe. In der ältesten Zeit, wo jeder 
kleinere Kreis für sich abgeschlossen lebte und jeder dem andern nur 
als Feind gegenüberstand, klagt das junge Mädchen, man solle es 
vor den „Räubern", d. h. dem Nachbarstamm, schützen. Dann ver- 
wischen sich diese Schranken, und nun klagt sie, man solle sie nur nicht 
zu billig verkaufen, und erst nachher kommt die freie{re) Wahl. 



A Entei Kapitel 

§ 3 I Eiaen Schritt weiter in der Entwicklung eines Volkes bedeutet 
das Epos, bei den Russen die ByUaeo. Die nissischen Bylinen 
erzählen Tom Vergangenen ((tbiJio = es war), natürlich vom ver- 
gangenen Großen, Hervorragenden. Freilich ist da ein Unterschied 
zwischen dem deutschen Heldenepos, den französischen chansona de 
geste, der englischen Rttterpoesle einerseits und andrerseits den russischen 
Bylinen der älteren Zeit Zwar hat auch in unsera Gedichten der Held eine 
ganz auSergewöhnliche Körperkraft und Gewandtheit, aber er stellt sie in 
den Dienst des Ideals, er kämpft für Recht, Tugend, Schönheit. In den 
rufisischen Bylinen, den älteren, ist von sittlichen Ideen, von Ritterlich- 
keit keine Spur. 

Der Hauptheld der älteren Bylineii*) ist Sswjatogor. Er ist von 
Riesenwuchs und hat eine solche Kraft, daS ihn die Erde kaum tragen 
kaim. — Neben ihm steht Wolga Sswjatosslawitsch. Auch seine Stärke 
ist auSerordentlich ; als der Knabe erst li Stunden alt ist, bittet er 
schon, ihn nicht mehr in Windeln zu wickeln, sondern in einen festen 
Stahlpanzer und ihm einen Stab von 300 Pud Gewicht in die Hand zu 
geben. (Der „Stab" entspricht unserm Szepter, ist also ein Zeichen der 
Würde — I Pud =: 40 Pfimd.) Jedoch neben dieser Stärke tritt jeUt 
ein anderer Zug hervor, mit dem diese Byhne in ihrer Weltanschauung 
um einen Schritt über Sswjatogor hinausgeht: Wolga ist auch schlau. 
Schlau ist er, weil von der Schlange geboren. Mit seiner Schlauheit 
besiegt er den türkischen Zaren, tätet ihn, heiratet seine Frau und wird 
in dessen Land selber Zar. Da er von einem Tier abstammt, kann er 
sieb selber in ein Tier, in einen Fisch, einen Falken, einen Wolf ver- 
wandeln, je nachdem es seine Schlauheit erfordert. Er ist abo unser 
Werwolf, der übrigens durch die ganze indogermanische Sagenwelt geht. 
Diese Byline führt uns auch wohl insofern einen Schritt weiter, als 
man in dem Zuge gegen den fremden Zaren Anklänge an die wirkliche 
Geschichte sehen kaim, an Olegs Zug nach Zargrad. 

Wiederum einen Schritt weiter geht die Byline in Mikula Sseljani- 
wowitsch. Auch er ist ungeheuer stark, aber die Kultur leuchtet hmein. 
Er ist der Sohn eines Ackerbauers, er selber ist Ackerbauer, er liebt die 
Mutter Erde. 

Von diesen älteren Bylinen unterscheiden sich die jüngeren 
j — cl.o-. ..jj(J ^pj Form nach. Wie die Weltanschauung der älteren 
so ist auch ihre Sprache, ihr Versbau einfacher, elemen- 
ze sind ohne Partikel straff aneinander gereiht. Den Reim 
ins weder die älteren noch die jüngeren. Den Wendepunkt 
n das Christentum und damit verbunden die sittlichen Eigen- 
Handelnden. 

t die jüngeren Bylinen gewöhnlich in den Wladimir- 
in den Nowgorod-Zyklus. Der erste spielt also im Süden, 



Die ältesten Deokmäler bis sam Einfall der Tataren 



5 



wo Wladimir herrscht, der letztere im Norden, wo die Republik Groß- 
Nowgorod die gebietende Macht war. 

Wladimir selbst spielt keine führende Rolle; diese haben nur seine 
„Paladine*', die er nach seiner Hauptstadt Kijev ruft, damit sie von dort aus 
Befehle empfangen, um dem Vaterlande zu dienen. Die „Brüderschar'' kehrt 
dann nach vollbrachter Tat zurück und empfängt nun aus seinen Händen 
den „grünen Wein". Es liegt also bedeutende Ähnlichkeit mit Artus 
und seiner Tafelrunde vor. Wir treten in diesem Zyklus auf geschicht- 
lichen Boden, nicht allein durch Wladimir, sondern durch die noch heute 
im Volke so beliebte Figur des Ilja Muromjez^), d. h. Ilja aus Murom 
(zwischen Wladimir und Nishnij Nowgorod gelegen). Dja ist Ackerbauer, 
und als solcher sorgt er für Ordnung auf der heimatlichen Scholle; er 
ist aber auch Kasakenataman, und als solcher kämpft er gegen die zahl- 
reichen Steppenfeinde des heimatlichen Bodens, gegen die räuberischen 
Tataren ; er ist auch Christ, und als solcher kämpft er gegen die Heiden 
für die christliche Kirche, für den christlichen Glauben, für den Glauben, 
der vor allem Schutz der Armen, der Witwen und Waisen will. Da ist 
also eigentlich schon „der Ritter" vorhanden. Weniger christlich, dafür 
desto russischer ist, daß ihm die Kräfte beim Trinken kommen. Mit 
diesen Kräften fangt und tötet er den Drachen Ssolowjej, der durch sein 
furchtbares Pfeifen und Zischen alle Menschen betäubt, dann andere Un- 
geheuer, ferner den Heiden Idolischtsche , endlich befreit er Kijev vom 
Zaren Kaiin. 

Zum Wladimir- Zyklus gehört auch der aus Rjäsan aus fürstlichem 
Geschlecht stammende ehrlich-tapfere Dobrynja, der einen Feuerdrachen 
tötet und Ilja im Kampfe hilft, im Gegensatz zu einer dritten Hauptperson 
dieses Zyklus, dem Aljoscha Popowitsch, der zwar auch sehr kühn und 
tapfer ist, aber „neidische Augen und raffende Hände" hat. Bedenkt 
man, daß Popowitsch der Sohn eines Popen bedeutet, so stimmt das 
nachdenklich. 

. Wie sehr den Dichtem daran lag, Iljas Kraft als ganz außerordent- 
lich hinzustellen, zeigt sehr hübsch eine Byline, die Ilja mit Sswjatogor 
zusammenbringt: Einstmals zog Sswjatogor mit Ilja Muromjez über das 
Blachfeld, und sie stießen auf eine große Gruft, auf der eine Aufschrift 
geschrieben war: „Wem bestimmt ist in der Gruft zu liegen, der wird 
sich auch hineinlegen." Es legte sich zuerst Ilja hinein, die Gruft paßt 
nicht für ihn ; es legte sich Sswajatogor hinein, die Gruft war wie eigens 
für ihn gemacht. Sswjatogor bat Ilja die Gruft mit einem Deckel zu 
schließen, aber Ilja weigerte sich. Da deckte sich Sswjatogor selber zu. 
Aber als er sich zugedeckt hatte, konnte er den Deckel nicht mehr 
heben. Er bat Ilja, mit dem Schwerte auf den Deckel zu schlagen. 
Ilja schlug querüber den Deckel, da wuchs ein eisernes Band über ihn 
hin; und er schlug längs, und ein zweites Band wuchs darüber. N* 



Erstes Kapitel 



verstand Sswjatogor, dafi für ihn die Zeit gekommen war zu sterben. Er 
bat Bja sich zum Grabe herabzubeugen und gab ihm einen Teil seiner 
Heldenkraft; er selber entschlief. 

Andere Helden des Wladimir-Zyklus sind weniger charakteristisch. 

Ein hiervon verschiedenes Bild bietet der Nowgoroder-Zyklus. 
Nowgorod ist die große, mächtige, reiche Handelsstadt, die ihre Schifife 
weithin in das Ostmeer sendet und sie von fernen Landen unermeßliche 
Reichtümer hereinbringen läßt. Zu solchen Seefahrten gehört Mut, Kühn- 
heit, Unternehmungslust. Zwei Personen treten da hervor: „Ssadko, der 
"teiche Handelsherr", ein solch kühner Seefahrer, und aus den ihn um- 
gebenden Scharen „Wasska Busslajew". Diese Scharen müssen natür- 
lich auf der See außerordentlich wagmutig und tollkühn sein; das Toll- 
kühne bringen sie aber auch nach Hause zurück, und in diesem Gefühl 
setzen sie sich hier über jede Ordnung, jedes Recht, jeden Zwang hin- 
weg. So ist denn Nowgorod selber der Mittelpunkt wilder, blutiger Un- 
ruhen , in denen sich besonders Wasska Busslajew hervortut : er hätte, 
wenn ihn die Mutter unter Flehen nicht davon abgehalten, 5000 Now- 
goroder Bauern auf einmal getötet; er kann, als er ins Heilige Land zur 
heiligen Stätte zieht, sein tolles Wesen selbst hier nicht lassen und büßt 
dann seinen Frevelmut mit dem Tode. 

Später liegt, dem 12. Jahrhundert angehörend und zugleich das 
wichtigste Denkmal des 12. Jahrhunderts, ein Helden- 
epos in unserem Sinne, „Das Lied vom Heereszug Igors 
gegen die Polowzer"*). Der geschichtliche Vorgang, der in das Jahr 
II 85 fallt, ist an und flir sich unbedeutend: der Nowgoroder Fürsten- 
sohn Igor kommt den Städten Kijev und Tschernigov gegen die räube- 
rischen Polowzer zu Hilfe. Im Anfang glücklich, gerät er nachdem in 
Gefangenschaft. Schließlich kann er entfliehen, während sein gleichfalls 
gefangener Waflengefahrte Wladimir die Tochter des Polowzerchans heiratet 
tmd dann nach Hause zurückkehrt. Das Gedicht überragt die vorher- 
gehenden Bylinen bei weitem: einmal durch den wirklich historischen 
Untergrund, dann durch die ganze Auffassung seines Dichters, durch den 
Ausdruck der tiefen Gefühle und Gedanken über die traurige Lage der 
russischen Heimat — traurig, weil sich die Häupter gegenseitig zer- 
fleischen — , und durch den Ausdruck der Erinnerung an die erhabenen 
Taten der Vorfahren. Dazu gibt der Dichter herrliche Landschaftsbilder. Wer 
er selber ist? Wahrscheinlich ein Teilnehmer am Zuge, jedenfalls ein vor- 
nehmer, gebildeter Mann, vielleicht ein Sänger, wie sie damals am Kijewer 
Hof häufiger waren. Das Lied selber nimmt Bezug auf einen solchen 
Sänger, namens Bojan, der im 11. Jahrhundert gelebt und Jarosslav ver- 
herrlicht hat. Es hebt aber ausdrücklich hervor, daß es nicht wie die 
früheren Bylinen und wie jener Bojan „ Erdachtes " bringt , sondern wirk- 
liche Geschichte. Der Dichter versichert uns, daß er von jener alten 



Die ältesten Deakmäier bis zom Einfall der Tataren 



Art nichts wissen will. Und doch sind gerade die Stellen, wo er ihr 
folgt, die schönsten, d. h. da, wo er das mythologische Element ver- 
wendet: „Auf der Spitze des Baumes sitzt der böse Div*' und ;,die 
(Walküren-) Jungfrau streift mit den Schwanflügeln über das blaue Meer." 

NatürUch ist bei allet Geschichte die Phantasie das Überwiegende — 
rein historische Lieder kommen erst nach der Tatarenzeit. 

§ 4 I Von den Bylinen sind die Märchen^) zu unterscheiden. 
Märchenhaftes haben ja auch die Bylinen ; aber diese haben einen Ort der 
Handlung und haben handelnde Personen, wenn auch märchenhafte Wun- 
der vollbringende. Das Märchen ist aber nur Phantasie, jenseits von 
Raum und Zeit. Auch äußerlich tmterscheiden sich beide: die Byline hat 
die gebundene Form des Verses, das Märchen die freiere, prosaische Form. 

Handelnde Personen sind die Sonne, der Mond, der Donner, der 
Wind oder Phantasiewesen : der Zar vom Meer, der Waldgott, die zwölf- 
köpfige Schlange, der unsterbliche Zauberer Koschtschej, die böse Hexe 
Baba-Jaga. Diese sehen die Zukunft voraus, helfen oder schaden durch 
irgendein Naturwunder dem Helden, und der Held sucht etwas Phan- 
tastisches: das goMene Borstenschweinchen , den Wundervogel, dessen 
Federn wie Feuer funkeln, den Hirsch mit dem goldenen Hom, das 
lebende und das tote Wasser. Hierher gehören z. B. die Märchen von 
„der Sonne und dem Wind", von „der Hexe und der Sonnenschwester", 
vom „versteinerten Reich". 

Im Gegensatz zu solchen überirdischen Mächten erzählen die „Volks- 
märchen" von Menschen, immer aber unter dem Gesichtswinkel des 
Wunderbaren. Da sind drei Brüder, von denen der jüngste von den 
beiden bösen älteren schlecht behandelt wird. Er hat einmal einen Hecht 
gefangen und ihn freigelassen. Dafür verleiht ihm dieser prophetische 
Gabe und allerlei Kräfte: sein Eimer geht von selber zu Wasser, sein 
Beil haut von selber Holz, sein Schlitten fahrt von selber in den Hof; 
in einer einzigen Nacht erbaut er sich ein prächtiges Schloß und führt als 
Gattin eine Zarentochter heim. Einem andern hilft anstatt des Hechtes 
ein Wunderpferd. Oder es sind drei Schwestern, die älteren wieder böse, 
die jüngste gut. Die bösen planen ihren Tod, fallen aber selber in die 
für die jüngste gegrabene Grube. Oder die böse Stiefmutter schickt die 
Stieftochter zur Baba-Jaga, damit diese sie bräf imd auffrißt, was natür- 
lich nicht geschieht. Solche Märchen sind „der Königssohn Iwan", 
„der leuchtende Vogel". Ob in allen diesen Gestalten die Dichtung 
Naturkräfte verkörpert hat : in der Baba-Jaga den Wintersturm mit seiner 
alles ertötenden Macht, im Königssohn Iwan den hellen, segenspenden- 
den Sonnenstrahl, der des Winters Macht bricht, ist recht fraglich. 

In anderen Märchen bilden Tote die übernatürlichen Elemente. 

Die „Tiermärchen". Wie der Urmensch der Natur näher stand, 
so war auch sein Verhältnis zu den Tieren anders als heute: er stellte 



g Erstes Kapitel 



sich ihnen gleich, er betete sie sogar an, je nach dem Grade ihrer Ge- 
fährlichkeit. Das ist eine Erscheinung bei allen Völkern. Während aber 
die Tiersage bei andern Völkern frühzeitig Literatureigentum wird und 
dadurch einen didaktisch-allegorischen Charakter annimmt — vgl. den fran- 
zösischen roman du renart y den deutschen „Reineke Vos*' — , bleibt sie 
bei den Russen Volksbesitz und ohne diesen Einschlag. Die Literatur 
hat sich in Rußland erst im 17. Jahrhundert an sie gewagt. Die Haupt- 
rollen im russischen Tiermärchen spielen der Fuchs, der Wolf, der Bär, 
die Katze, der Hahn. Hübsch sind die durch Gleichklang entstandenen 
Namen: der Fuchs heifit Lisaweta Iwanowna (Fuchs = jHoa), der Bär 
Michail (= Me^Bs^^L), der Hahn Pjetka (= n^BTyxt). 

§ 5 I Auch der Sprichwörter muß wohl gedacht werden, hat doch 
in Rußland das Sprichwort eine so große, ausgedehnte Bedeutung. Manches 
weist seinem Ursprung nach auf jene frühe Zeit zurück: „Wen Gott naß 
macht, den trocknet er auch wieder." Gott ist hier der Regen, die Sonne. 
Ebenso wohl „die Sonne arbeitet am Tag, sie ruht in der Nacht." Nestor 
kennt schon Sprichwörter; noch mehr kommen dann in der Tatarenzeit. 

b) Kunstliteratur 

§ 6 I Sit nimmt ihren Anfang mit der Bibel. Die russische Bibel 
ist in mancherlei Hinsicht eigentümlich. Die beiden griechischen Mönche 
Kyrill und Methodius^), zwei Brüder aus Saloniki, hatten um 855 die 
griechische Bibel für die Mähren übersetzt. Saloniki Hegt nicht fem von 
Bulgarien, die beiden Griechenbrüder beherrschten demgemäß von den 
slawischen Dialekten am besten das Bulgarische. Sie übertrugen daher 
die Bibel ins Bulgarische, untermischt mit dem der bulgarischen Sprache 
nahestehenden Südrussisch. Die Mähren wollten nicht viel von der Bibel 
wissen ; natürlicher war es, daß sie den Bulgaren gefiel. Und von diesen 
nahmen nun 100 Jahre später nach Einführung des Christentums' die 
Russen diese Übersetzung. Die Sprache der russischen Bibel und über- 
haupt der für den Gottesdienst verfaßten liturgischen Bücher ist also nicht 
russisch, sondern altbulgarisch (kirchenslawisch)^; und diese 
Sprache ist nicht allein die Sprache der rechtgläubigen Kirche 
bis heute geblieben, sondern sie hat auch einen äußerst bedeuten- 
den Einfluß auf die russische Sprache überhaupt und auf 
die russische Literatur, auch auf die Volksliteratur, ausgeübt. 

Die Russen nahmen auch gutwillig die verzwickte Schrift der beiden 
Griechen an, die diese, schon aus Haß gegen Rom, nicht auf lateinischen 
Lettern, sondern auf griechischen aufgebaut hatten. Für die vielen Laute 
des Slawischen mußten sie noch Entlehnungen aus dem Hebräischen, 
Koptischen und Armenischen machen. Die Schrift mutet uns noch heute 
sonderbar genug an; sie ist aber schon durch Peter den Großen mit 
Anlehnung ans Lateinische modernisiert worden. Kyrill und Methodius 



Die ältesten Denkmäler bis £um Einfall der Tataren 



hat man zum Dank unter die Heiligen versetzt; ihr Gedächtnistag ist der 
II. Mai. (Neben diesem kyrillischen Alphabet gibt es noch die Glagolitika, 
d. i. die bei den dalmatinischen Slawen gebräuchliche Schrift des Mönches 
Hieronymus — 13. Jahrhundert — , die er zur Niederschrift der hei- 
ligen Pücher verwendete; sie ist durch die kyrillische ^) verdrängt worden.) 

Mit der bulgarischen Bibel kamen auch bulgarische Gelehrte ins 
Land, die in den Klöstern Lehrer der Russen wurden. Sie lehrten nach 
ihren religiösen Büchern, Übersetzungen aus dem Griechischen. Daher 
der kolossale Einfluß der (bulgarisch) griechischen Bildung, 
der byzantinischen, in Rußland, der ungebrochen bis zum Fall 
von Byzanz (1453) ^^^ darüber hinaus bis ins 16. Jahrhundert dauerte. 
Erst da wurde er von dem (polnisch) römischen abgelöst. 

Die Bibelübersetzung der beiden Griechen ist nun freilich verloren 
gegangen, und daher haben wir ein Urteil über sie nur durch die der 
Zeit nach nächsten Kopieen z. B. durch das Osstromir-Evangelium. 

Zu den ältesten Denkmälern dieser bulgarischen Schriftsprache 
zählen hauptsächlich, aus dem 11. Jahrhundert: 

i) Das eben genannte Osstro mir- Evangelium^), zwischen 1056 
und 105 7 vom Diakonus Gregor für den Nowgoroder Statthalter Osstromir 
angefertigt und zwar nach Wochen imd Tagen in Abschnitte geteilt, wie 
sie in den Kirchen gelesen wurden. 

2) Die beiden Isborniki^) des Diakons Johann; der erste 1023, 
der zweite 1076 für den Großfürsten Sswjatosslaw Jarosslawitsch aus dem 
„Isbomik" abgeschrieben, der für den bulgarischen Zaren Simeon (9. bis 
10. Jahrhundert) aus dem Griechischen übersetzt war. Der erste 
Isbomik (d. h. Sammelwerk) enthält nicht bloß geistliche, aus den 
Kirchenvätern entnommene Aufsätze,, sondern auch historische, philo- 
sophische und sogar rhetorische Betrachtungen. Der zweite Isbornik ist 
hauptsächlich religiös-moralischen Inhalts. 

3) Die Ssuprassl-Handschrift^®) (in Ssuprassl bei Bjelosstok ge- 
funden). Sie enthält die Lebensbeschreibungen von Heiligen, Worte des 
Heiligen Slatousst u. a. 

4) Der später gefundene Tschudov-Psalter^^) mit Kommentar 
des Theodoritos von Kyrrhos. 

Es sind auch sonst, aber späteren Datums, viele Übersetzungen aus 
dem Bulgarischen, ebenso aus dem Serbischen — Serbien hatte wie Bul- 
garien vor den Russen das Christentum von Byzanz angenommen — 
nach Rußland übergegangen, meist selber Übersetzungen aus dem Griechi- 
schen, aber auch einige Originale. - Voran immer gottesdienstliche Bücher, 
dann „Sammelwerke" z. B. 

die „Bienen", welche einsammeln aus den Kirchenvätern ^*), auch 
aus heidnischen Autoren und Auslegungen bringen über Tugenden und 
Fehler, über Armut und Reichtum usw. Femer eine große Menge 



JO Erstes Kapitel 



sog. Apokryphen ^^), die sich um Salomo, um die Mutter Gottes 
gruppieren. Einige geben uns einen hübschen Blick in die Gedanken- 
welt. Z. B. im „Gang der Mutter Gottes zu den Qualen" werden uns 
die^Qualen der in der Hölle Gepeinigten geschildert, und wer sind diese? 
„ Die welche nicht an Pfingsten glauben, welche Götzenbilder anbeten, welche 
die Sonne, Mond, den Pjerun für Götter halten, die, welche zu faul sind, um 
zur Frühmesse zu gehen, Diebe, Verleumder und die, welche — zu hohe 
Prozente nehmen." In den Apokryphen um Salomo spielt die Königin 
von Saba eine Rolle. Sie will die Klugheit Salomos prüfen und führt 
ihm Knaben und Mädchen in gleicher Kleidung entgegen; Salomo soll 
nun erkennen , wer ein Knabe, wer ein Mädchen ist. Da wirft er ihnen 
Nüsse hin, und die Knaben stecken sie in die Rockschöße, die Mädchen 
in die Ärmel. Das „Gespräch der drei Heiligen" (gemeint sind die 
Heiligen : der große Wassilij, Gregor Bogosslowo und Johann Slatousst) ist 
ein Rätselraten: Welche Mutter verzehrt ihre Kinder? Das Meer, denn 
es nimmt die Flüsse in sich auf. — Es gibt eine Eiche ohne Wurzeln und 
Zweige; zu ihr geht einer ohne Füße, faßt sie an ohne Hände, schneidet 
sie ohne Messer, ißt sie ohne Zähne. Was ist das für eine Eiche? Der 
Mensch, zu ihm kommt der Tod und schneidet ohne Messer. 

Das hat bereits einen recht weltlichen Anstrich. Es gibt auch 
schon rein weltliche Sagen, die Byzanz selber sich gleichfalls erst geholt hat, 
so die Sage vom trojanischen Krieg, von Alexander dem Großen, von 
Barlaam und Josaphat, also dieselben Stoffe, die wir und die übrigen 
europäischen Literaturen gern in jener Zeit behandeln. Auch eine Menge 
von Chroniken taucht auf. 

§ 7 / Neben dieser Literatur in bulgarischer Sprache zeigt das 
I I. Jahrhundert aber auch eine Literatur in russischer Sprache. 
Es muß hier gleich darauf hingewiesen werden, daß, so groß Rußland 
ist und so groß auch sonst die Unterschiede zwischen Großrußland, 
Kleinrußland und Weißrußland sind, doch die Schriftsprache, wie 
bei uns, für alle ein und dieselbe war und geblieben ist. Diese 
Kunstliteratur (die Volkspoesie reicht, wie wir schon gesehen, noch weiter 
zurück) ist natürlich vorwiegend wieder kirchlich und kommt von dem 
Sitz der damaligen Gelehrsamkeit, aus Kijev. Hierher gehören: 

i) Zwei Predigten des Abtes Theodosius vom Kijewer Höhlen- 
kloster: die eine spricht von den Strafen Gottes, vom Hunger, von Regen- 
losigkeit, von den Überfallen durch die Steppen „barbaren" wegen be- 
gangener Sünden, zu denen neben Diebstahl und Trunkenheit auch der 
Aberglauben zählt, z. B. der, welcher sich mit dem Niesen verbindet; die 
andere bespricht die Schattenseiten des klösterlichen Lebens. 

2) Mehrere Schriften (Predigt, Lehren) des Kijewer Metropoliten 
Hilarion ^*) u. a. über „ das durch Moses gegebene Gesetz und über den 



Die ältesten Denkmäler bis zam Einfall der Tataren u 

Segen und die Wahrheit, die durch Jesum Christum gekommen ^^ Hilarion 
ist Gelehrter und liebt die Gelehrtensprache: er bringt alles im Symbol. 

3) Vor allem gehört hierher die Geschichte des Mönches Nestor ^^) 
(t um 1130) aus dem Kijewer Höhlenkloster, die erste russische 
Geschichte. Das Original ist nicht mehr vorhanden; es hat sich von 
den vielen Abschriften die aus dem Jahre 1377 vom Mönch Laurentius 
erhalten. Die Geschichte holt etwas weit aus, sie geht auf den Anfang 
der Welt zurück, wendet sich aber dann zu den slawischen Stämmen und 
geht die russische Geschichte von Ruriks Einzug bis zum Jahre 11 10 
durch. II 16 hat sie der Mönch Silvester abgeschrieben, aber auch diese 
Abschrift ist verloren. Die ganze Geschichte ist natürlich unter dem Ge- 
sichtspunkt des Mönches, also dem religiösen, geschrieben. Die Ge- 
schichtschreibung entwickelte sich, mit Nestors Geschichte als Ausgangs- 
punkt, schnell weiter; Fortsetzungen von ihr sind: die ,, Kijewer Hand- 
schrift", die bis zum Jahre 1200 geht, „die Wolynsker" bis 1292, „die 
Ssusdaler" bis 1350 usw. 

4) Neben Nestors Werk beansprucht größte Beachtung die erst 1738 
von Tatischtschev aufgefundene „Prawda" ^^), das unter Jarosslav dem 
Weisen ausgearbeitete erste russische Gesetzbuch. 

§ 8 I Nestors Werk reicht schon ins 12, Jahrhundert hinein. Der 
Gesichtskreis erweitert sich nun; die weltlichen Ereignisse erobern sich 
einen Platz neben den religiösen. Dem 12. Jahrhundert gehören an: 

i) Die Schriften des Heiligen Kyrill, Bischofs von Turov 
(Gouv. Minsk). Kyrill soll ein sehr bedeutender Redner, ein „zweiter 
Slatousst" gewesen sein. In seinen „Schriften" liebt er das Symbol 
imd den Dialog. Sie geben hauptsächlich Feiertagsbetrachtungen und 
Lehren an die Mönche. 

2) Die erste Reisebeschreibung. Die erste, natürlich sehr 
gefahrvolle Reise, von der wir wissen, hatte der Abt des Kijewer Höhlen* 
klosters Barlaam 1062 nach Jerusalem unternommen. Dann pilgerte 
zwischen 1093 und 11 13 der Abt Daniel, wahrscheinlich aus Tschemigov, 
dorthin ; er hat die Reise in seinem Buch „ Palomnik" (Bezeichnung aller 
Pilger, weil sie Palmenzweige von der heiligen Stätte mitbrachten) be- 
schrieben. Wohltuend berührt hierin sein stark ausgeprägtes National- 
gefühl; er hat zu den Füßen des heiligen Grabes ein kostbares GefäÖ 
niedergestellt „ftir alle russischen Fürsten, ftir die ganze russische Erde, 
ftir alle Christen des russischen Bodens". 

3} Erziehungsbüchern für die Geistlichen sind wir schon be- 
gegnet. Jetzt kommt auch die weltliche Erziehung an die Reihe. Wladi- 
mir Monomach, der gebildetste Fürst Altrußlands, hat für seine Kinder 
ein Erziehungsbuch geschrieben, in dem er ihre allgemein menschlichen 
und dann ihre ftirstlichen Pflichten bespricht. Hübsch ist seine Ermahnung, 



]2 Zweites Kapitel 



die zeigt, daß die Rassen immer gleich waren und sind: „Seid nicht 
faul zu beten, seid nicht faul früh aufzustehen, seid nicht faul im Krieg, 
seid nicht faul Wissen zu erlangen." 

§ 9 I Zur Kunstliteratur gehört auch das „ g e i stl i c h e Lied'*, der 
„Vers" (cTHXT.). Seine Dichter sind zwar Leute aus dem Volke gewesen, 
hauptsächlich Pilger, die sich ihren langen Weg durch Gesang verkürzten, 
durch ihn auch ihren Lebens- und Reiseunterhalt erbettelten. Aber den 
Stoff dazu entnahmen sie der geistlichen Literatur, hauptsächlich den 
Apokryphen, und der Stoff hat auch der Aufmachung sein Gepräge ge- 
geben, so daß man diese Art Dichtung wohl am besten in die Kunst- 
literatur einreiht. Die „Verse" haben sowohl epischen wie lyrischen 
Charakter. Der hervorragendste „Vers" ist der von jenem sonderbaren 
„(Tauben-?) Buch" ^^j, das, 40 Faden hoch, 40 Faden breit und 10 Faden 
dick, zur Zeit Davids aus einer Wolke, vom Himmel, auf Jerusalem 
niedergefallen ist, das alle tiefen Geheimnisse der Welt aufschließt. Die 
Geheimnisse, die damals die ganze christliche Welt in Aufregung ver- 
setzten, sind die Fragen vom Ende der Welt wie vom Anfang aller 
Dinge. — Sehr beliebt war der „Vers" von der „Klage Adams" über den 
Verlust des Paradieses. Ferner „der Reiche und Lazarus" und das 
Gegenstück dazu „ der reiche Alexej ", der sich seiües fürstlichen Namens 
und seines Reichtimis entledigt und ein von allen verachteter Bettler wird, 
und von ähnlicher Tendenz „Barlaam imd Josaphat", worin der reiche 
indische Fürstensohn Josaphat vom weisen Barlaam zum Christentum be- 
kehrt wird, die Krone niederlegt und arm in die Wüste zieht. Sehr be- 
kannt ist auch „der heilige Georg", und zwar besteht dieser hier nicht allein 
den Kampf mit dem Ungeheuer, sondern auch die Martern werden be- 
sungen, die er vom bösen Zaren erdulden muß, und dann seine Be- 
freiung und sein Zug ins „heilige Rußland", das, vernichtet und ver- 
wüstet — wir sind damit offenbar in die Tatarenzeit gekommen — , nun 
durch ihn vom Untergang gerettet und im christlichen Glauben befestigt wird ^*). 



Zweites Kapitel 

Unter dem Mongolenjoch 
(1224 — 1480) 

§ 10 I In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts kamen vom Süden her, 
aus Mittelasien, die Tataren in mehreren Horden unter Tschingis Chan 
und Batyj und verwandelten den ganzen Süden Rußlands in einen Trüm- 
merhaufen. Alle größeren Städte Kijev, Wladimir, Moskau — letzteres war 
um 1147 vom Großfürsten Jurij Dolgorukij angelegt worden — , Rjasan, 
Jarosslawl gingen in Flammen auf. Nun waren aber die Mongolenführer 
eigentlich weitherzige Leute, die 'sich vor allem nicht in die religiösen 



Unter dem Mongolenjoch x3 



ADgelegeaheiten der Russen öiischten ; auch waren ihre Heerscharen nicht 
so groß, daß sie bei den gewaltigen Raumverhältoissen Rußlands ihre 
Macht in gleicher Weise überall fühlbar machen konnten. Man atmete, 
je weiter man von ihrem Hauptsitz Ssaraj an der Achtuba, überhaupt 
vom Süden entfernt war, freier, und so ist es zu eiklären, daß z. B. 
Alexander Jarosslawowitsch selbständig einen Krieg mit den Schweden, den 
Deutschen (den livländischen Schwertrittem) und den Litauern führen und 
über sie an den Ufern der Njewa 1240 einen gewaltigen Sieg davontragen 
konnte (daher sein Name Alexander Njewskij). So konnte auch Nowgorod 
in Verbindung mit der deutschen Hansa einen recht lebhaften Handel 
treiben, der es der dortigen deutschen Kolonie sogar ermöglichte, sich 
eine — steinerne Kirche zu bauen. 

Aber im Süden saß die Bildung, und da ging alles zu Grunde. 
Sonderbarerweise hat sich aber aus diesen Trümmern der ganze wert- 
volle Sagenschatz nach dem Norden gerettet. Das ist so sonderbar,, daß 
man, als diese Güter nun wieder ans Tageslicht kamen, sie als Produkte 
des Nordens angesehen hat. Ihre Heimat ist aber der Süden^ der Norden 
ist nur ihr Retter geworden. 

Von einem Gedeihen der Literatur kann keine Rede sein. Doch 
gibt es ein paar Denkmäler wie „die Lehren Serapions'*, des Bischofs 
von Wladimir, eine „Bitte Daniels des Verbannten", eines verbannten 
Mönches, der in sein Kloster zurück will, auch einige geschichtliche An- 
sätze wie „das Leben und die Tapferkeit Alexander Njewskijs"; dann 
tauchen nach und nach immer häufiger Reisebeschreibungen auf. 

Für uns recht interessant ist die Reisebeschreibung, die der Ssus- 
daler Klostergeistliche Simeon von seiner 1437 nach Florenz imternom- 
menen Fahrt gibt, weil er Deutschland berührt hat: in Lübeck hat ihm 
die Nähkunst an den Meßgewändern besser als in Rußland gefallen, 
und in Lüneburg staunte er die Wasserkünste an: „das Wasser fließt aus 
menschlichen Figuren, die mitten in der Stadt stehen, bei der einen aus 
dem Mund, bei d<;n andern aus den Ohren, Augen, Nasen, aus den 
— Ellbogen ". — Auch die Reise , die der Kaufmann Athanasius Nikitin 
aus Twjer im Jahre 1466 nach Indien unternahm, also bevor Vasco de 
Gama den Seeweg entdeckte, „ Wanderung über drei Meere " (Kaspische, 
Indische , Schwarze) , ist interessant durch ihre Beschreibung des Aus- 
sehens, der Lebensweise, der Religion der Inder. 

Nach tmd nach war das Tatarenjoch gelockert. Schon 1380 
hatte sich Dmitrij Joannowitsch in einen offenen Kampf mit ihm ein- 
gelassen, hatte sie am Don besiegt; man hatte aber, modern gesprochen, 
den Sieg nicht ausnutzen können. Jedoch innere Zwistigkeiten unter den 
Horden selbst halfen den Russen; von der Goldenen Horde von Kip- 
tschak an der Achtuba hatte sich die von Kasan und die Krimsche los- 
gelöst. Da führte denn genau 100 Jahre später, 1480, den entscheiden^ 



lA Drittes Kapitel 



den Schlag über sie der Moskauer Großfürst Iwan III., von jetzt ab Groß- 
fürst und Gossudar (Herr) von ganz Rußland", und damit steht 
Moskau an Stelle von Kijev im Vordergrund. 

Drittes Kapitel 
Die vorpetrinische Zeit 

§ 11 I Iwan in. (1462 — 1505) hat den Beinamen „der Große** 
erhalten, natürlich wegen seines Tatarensieges. Mit ihm beginnt aber 
auch sonst ein Auftakt: die Russen fangen an sich nach Westen zu 
orientieren. Seine Frau, die griechische Prinzessin Sophie, kam aus 
Italien und zog von dort geschickte Baumeister und Künstler heran, 
die Moskau durch steinerne Häuser verschönerten und großartige Ge- 
bäude im Kreml — der Kreml (Festung auf tatarisch) war schon um 
1330 angelegt worden — u. a. die Usspjenskij-Kathedrale aufführten. 

In der Kirche beginnt eine starke Reform. Der denkende Teil de$ 
Volks erkannte die furchtbare Unwissenheit der Geistlichkeit — der 
Bischof von Wologda wußte nicht die Evangelisten — , ihren 
bösen Lebenswandel, man erkannte die Ausbreitung des Aber- 
glaubens, man erkannte die schlechte Gerichtsbarkeit, die Verwilderung 
der Sitten. Wo konnte die Ursache für diese Verderbnis sein? Man 
sah sie im Verlassen der alten Überlieferungen. Man wollte die Bibel 
in ihrer ursprünglichen .Gestalt wieder haben, frei von den vielen Fehlem, 
die sich im Laufe der Jahrhunderte eingeschlichen hatten. Zu einer 
solchen Reform war die russische Geistlichkeit nicht imstande , und so 
rief denn Iwans' III. Sohn und Nachfolger Wassilij III. 15 18 den Athos- 
mönch Maxim, einen sehr gelehrten Mann, zum Übersetzen griechischer 
Handschriften seiner Bibliothek nach Moskau. Maxim Grek^^) '(der 
Grieche) reformierte im besten Sinne des Worts; er brachte die Fehler 
aus dem Text, gab Erläuterungen, kämpfte gegen den Aberglauben, ver- 
warf den Zeremonienglauben und suchte in jeder Hinsicht aufklärend und 
moralisch zu wirken. Der russischen Geistlichkeit hatte er jedoch den 
Text zu gründlich revidiert, und als er gar ihren Klosterbesitz einschränken 
wollte, wurde er von ihr dermaßen verdächtigt, daß sein Lohn die grau- 
samste Kerkerhaft, 30 Jahre lang, wurde. Einen Triumph hat Maxim 
Grek aber doch gehabt — er hat davon allerdings wohl kaum etwas 
gehört — , als Wassilijs Sohn, Iwan IV. (1533 — 1584), der erste russische 
„Zar*', 1551 einen Ssobor (Konzil), zur Beilegung kirchlicher und 
weltlicher Differenzen zusammenberief. Die Beratungen sind im „ S t o g 1 a w " 
niedergelegt, und der Stoglaw brachte gewissermaßen nur in Paragraphen, 
was Maxim gefordert hatte. 

Bald nach diesem Konzü bekam Rußland auch seine erste Buch- 
druckerei, 1553» und 1564 erschien das erste russisch gedruckte 



Die Torpetrinische Zeit jc 



Bach „Die, Apostel". Iwans IV. große Berater waren der Erzbischof 
(spätere Moskauer Metropolit) Makarius '^), von dem eine ,, Legende der 
heiligen Märtyrer*' hinterlassen, und der Nowgoroder Geistliche Silvester, 
auf dessen Rechnung ein gut Teil des „ Domosstroj *' zu setzen ist. 

Während sich Maxim Grek und der Stoglaw mit den allgemeinen 
Fragen der Kirche, auch der Volkserziehung befassen, ist der „Domo* 
sstr oj " *^) („Ökonom") eine Art Laienbrevier, in dem sich freilich von seinen 
63 Kapiteln 15 auch mit Gott und der Kirche beschäftigen, die übrigen 
aber mit den häuslichen Pflichten, vor allem mit den Pflichten der Frau 
und der Kinder zum Hausherrn. Allerdings nicht so recht in unserm 
Sinn; denn der Domostroj empfiehlt dem Hausherrn für alles, was ihm 
an der Gattin nicht gefällt, die Peitsche. Wir dürfen mit unsem mora- 
lischen Anschauungen von heute aber auch nicht in die eigene Vergangen- 
heit zurücksteigen, geschweige denn in die russische. 

§ 12 I Unter Iwan IV. macht sich deutscher Einfluß bedeutend be- 
merkbar. Weiui auch sein Spottname „der englische Zar'* auf seine 
Vorzugsliebe deutlich hinweist, so holte er doch gern Ärzte, Apotheker, 
Rechtsgelehrte, Kaufleute, Handwerker, vor allen Tucharbeiter und Uhr- 
macher aus Deutschland. Seinen Bibliothekar, seinen Hofdolmetsch, seine 
Diplomaten waren aus Riga und Dorpat. 

Iwan IV. „der Schreckliche". Im Anfang war seine Regierung 
für das Land gesegnet. Nach dem livländischen Kriege änderte sich 
mit* einem Schlage sein Charakter — er wurde der Schreckliche für seine 
Umgebung, für das ganze Volk, das den letzten Rest jeder Selbstachtung 
verlor. Aus dieser schlimmen Zeit stammt ein für ihn wie für die da- 
maligen Sittenzustände charakteristisches Zeugnis, sein „Briefwechsel" 
mit dem Fürsten Kurbskij (von 1563 bis 1579). Der geschlagene 
Feldherr war, den Zorn seines Herrn fürchtend, nach Litauen geflohen, 
und nun entspann sich zwischen beiden jener Briefwechsel — 2 Briefe 
von Iwan, 4 von Kurbskij — , in dem dieser dem Zaren seine Selbst- 
herrlichkeit, sein alles besser Können und Wissen, sein Hören auf Schmeich- 
ler vorhält, während der Zar immer betont, daß er herrschen wolle und 
nicht die andern. Bismarck und WUhelm U. ! Iwan ist dabei ein besserer 
Dialektiker als Kurbskij, er verfügt über eine großartige Ironie; Kurbskij 
dagegen ist logischer, reifer. 

Von beiden Männern haben wir noch zwei interessante Schriften: 
Iwans „Sendschreiben" (1578) an den Abt Kyrill vom Bjelosjerskij- 
Kloster (im Gouv. Nowgorod), in dem er, wieder mit beißender Ironie, 
das Leben der gegen ihn revoltierenden Mönche geißelt und ihnen ein 
strenges Gericht in Aussicht stellt — und weit wichtiger Kurbskijs „ Ge- 
schichte des Reiches", wichtig weil sie zuverlässige, selbst erlebte Fakta 
aus dem Leben und der Regierung Iwans bringt, und dann weil sie schon 
so etwas von pragmatischer Geschichtscbreibung ist. Kurbskij, ein großer 



l6 Drittel Kapitel 

VeTehrer Maxim Greks, war duich ihn cid sehr gebildeter und belesener 
Mann geworden ; seine Sprache ist allerdings durch die vielen Latinismen 
und Polonismcn verdorben *'). 

§ 13 I Das Interesse fUr den Westen steigert sich unter den folgen- 
den Herrschern, fUi Frankreich, England, Schweden, Deutschland. Der 
Nachfolger Iwans IV., sein Sohn Fcodor Joannowitsch (1584 — 1598), 
uud dessen Nachfolger, der nach der Ermordung des wirklichen Zaren 
Dmitry auf den Thron gekommene Tataienabkömmling Botiss Godunov 
(1598 — 1605), riefen aus Hambui^, Lübeck, Bremen Kaufleute herbei. 
Boriss, trotz seiner Abstammung und trotz der skrupellosen Hinmordung 
des Dmitrij ein ausgezeichneter Kopf und der geborene Herrscher, war 
eben im Begriff, in Moskau eine Universität zu gründen, und hatte schon 
nach Deutschland geschickt, um Professoren für sie zu gewinnen, als er 
vor den Truppen des falschen Demctrius flüchten muilte tmd dabei sein 
Leben verlor. 

Nun kommen die Komanovs und mit ihnen ein richtiger Einzug der 
Deutschen. Unter dem ersten Romanov, Michael (1613 — 164s). spielen 
besonders die Nürnberger Erzgiefier und Bildbauer eine Rolle; sein Pracht- 
thron, der die ungeheure Summe von 25 000 Talern kostete und an dem 
drei Jahre gearbeitet wurde, ist unter der Leitung von Jesaias Zinkgräfi 
entstanden. Neben Künstlern kamen Handwerker, Kaufleute, Gärtner — 
ein österreichischer Mönch legte bei Astrachan den ersten Weinberg 
an — , so viele, daß Adam Ölschläger (Olearius) auf seiner Gesandt- 
schaftsreise im Jahre 1634 in Moskau 1000 Deutsche vorfand. Michael 
liefi auch deutsche Zeitungen ins Land: „die Ordentliche Postzeitung", 
„die neue wöchentliche Zeitung aus Breslau" usw. Noch mehr Deutsche 
strömen unter Michaels Sohn, Aleuej Michailowitsch (1645 — 1676), her- 
ein, so daß der Neid und die Mißgunst der Russen wach werden, und 
die Untertanen den Herrscher, mit Hinweis auf die Religion, zwingen, 
die Deutschen In einem besonderen Teil Moskaus, der „ Deutschen Sslo- 
boda" wohnen zu lassen, also in einer Art Ghetto. 

Mit den Handwerker-Künstlern ziehen in das Moskowiteneich nach 

und nach auch Wissenschaft, Literatur ein, freilich noch nicht direkt aus 

Deutschland, England, Frankreich, sondern auf dem Umweg über Polen. 

In Polen stand die römisch-katholische Kirche in Blüte; die Jesuiten 

hatten dazu ihr Bestes gegeben. Sie hatten geradezu vorzügliche 

Schulen eingerichtet, ihr Einfluß auf die Aristokratie war bedeutend. 

r,__ _T..,_._ _.^^^ ^^£ ^g anstoßende Südnißland. Andrerseits erzeugte 

k : man wollte nicht den römischen Kathohzismus. Unter 

r griechischen Kirche taten sich Gilden der Kaufleute und 

Handwerker, „Brüderschaften", zusammen und gründeten 

5 Schulen, in denen Griechisch, Lateinisch, Slawisclt, Fol- 

latik, Poetik, Rhetorik gelehrt wurden, in Ostrog, Lwov, 



Die vorpetrinische Zeit ij 



Wiina, dann in Kijev, Mogilev. Die Kijfewer, die 1589 von der „ Brüder- 
schaft'^ gegründet war, erweiterte sich später zur Akademie. So hatten 
Druck und Gegendruck ein und dasselbe Ziel: Bildung, und noch einmal 
übernimmt die führende Rolle Kijev. Die Kijewer Gelehrten werden das 
Ferment nicht allein für den Süden Rußlands, sondern, nach der Ein- 
Terleibung Kleinrußlands in das Moskauer Reich unter Alexej Michaile- 
witsch, 'für das ganze Rußland. 

Unter der Regierung Alexej Michailowitschs ^^) geht ein tiefer Drang 
nach Bildung durch die Gesellschaft, hervorgerufen durch die steigende 
Not der Kirche. Die Rasskolniki — das sind die starren Anhänger am alten 
Glauben — hatten sich mit unheimlicher Schnelligkeit ausgebreitet, so daß 
sie der Kirche als Macht gegenüberstanden. Was konnte helfen? Der 
Metropolit Paissij Ligarid sagt es: „Alkibiades hat auf die Frage der 
Athener, was zum Führen eines Krieges nötig sei, geantwortet: Gold, 
Gold und nochmal Gold; so sage auch ich: zur Ausrottung geistiger 
Krankheiten sind nötig Schulen, Schulen und nochmal Schulen.'^ So 
wurden denn in Moskau Schulen gegründet, ganz nach dem Muster der 
Kijewer, und als ihre Lehrer kamen die Kijewer. Eine von Fedor Alexeje- 
witsch (1676—1682), dem Sohn Alexej Michailowitschs, gegründete Schule 
wuchs sich bald in die „slawisch-griechisch-lateinische Akademie" aus, 
deren bedeutendster Lehrer der Kijewer Priestermönch Simeon Polozkij 
wurde. 

Simeon Polozkij war auch ein hervorragender Prediger; zwei 
Sammlungen Predigten zeugen davon. Von ihm stammen auch mehrere 
Bände Gedichte : er ist der Vater des russischen Verses, d.h. des 
syllabischen — dieser zählt einfach die Silben — , der bis zu Lomo- 
nossov existierte, obwohl er, der polnischen Akzentuation nachgebildet, 
für die russische Sprache gar nicht paßte. Polozkij imd ebenso ein an- 
derer Kijewer Gelehrte, der (heüige) Dmitrij Rosstowskij, waren auch 
die Verfasser sogen. Schuldramen, welche die Geistlichkeit wie die Re- 
gierung als Volkserziehungsmittel ansahen ; der Lehrer der Poetik an der 
Moskauer Akademie war verpflichtet, jedes Jahr wenigstens eine „Ko- 
mödie" (= Drama) zu schreiben. Das erste Theater war schon von 
Alexej Michailowitsch eingerichtet worden. 

§ 14 I Alle diese Kijewer Gelehrten waren, wenn sie auch der 
Religion Polens mehr oder weniger feindlich gegenüberstanden, von pol- 
nischer Bildung durchtränkt, und Polens Einfluß zeigte sich auch sonst: 
Demetrius war schon polnischer Katholik gewesen; jetzt war Fedors Frau 
die Tochter eines polnischen Edelmanns. Polnischer Einfluß zeigte sich 
auch in dem, was an Literatur ins Land zu kommen begann. Eine 
Art Belletristik haben wir seit dem 16. Jahrhundert in Rußland, 
Übersetzungen aus dem Polnischen, von Polen entweder aus Byzanz oder 
auch aus dem Westen übernommen, meist christlich moralischen Inhalts: 

Friedrichs, Russische Literaturgeschichte 2 



l8 Viertes Kapitel 



ein Gemisch von geschichtlich Aussehendem wie y,die Erzählung von 
Alexander '% »yvom trojanischen Krieg *% worin es aber viel mehr auf 
phantastische Wunder wie die Gorgo, die Zentauren, die Pygmäen 
ankam, oder von indischen Märchen oder von anekdotischen Erzählungen 
aus der römischen Geschichte wie die gesta Romanorum oder von lehr- 
reichen Fabeln wie die vom schwanzlosen Fuchs, der, aus der Not eine 
Tugend machend, die Schwanzlosigkeit als die größte Schönheit allen 
übrigen Tieren empfiehlt, oder von Geschichten wie die vom Königssohn 
Bowa — eigenttünlich, daß dieser italienische Stoff so ganz Lieb- 
lingsmärchenstoff der Russen geworden ist — , von der schönen Mage- 
lone usw. 2*). 

Die ersten Ansätze russischer Erzählungen, die Zeugnis ablegen vom 
russischen Leben, russischen Glauben, russischen Sitten, finden sich dann 
im 17. Jahrhundert, z. B. die „Erzählung von Ssawa Grudzyn, wie er sich 
dem Teufel verschrieb und wie er dann durch die Fürsprache der Gottes- 
mutter erlöst wurde'S und noch russischer, sozusagen, „die Geschichte 
vom russischen Höfling Frol Sskobejev und seiner Annuschka'S 

Viertes Kapitel 

PeterderGroße 

(1689—1725) 

§ 15 jEs beginnt nicht, wie so häufig gesagt wird, erst mit Peter der 
Drang nach dem Westen, der Drang nach Bildung und Kultur. Man 
hatte, wie wir gesehen, schon vor ihm auf dem weiten Feld hier und da 
gepflügt und geackert. Aber wieviel Gestrüpp und wieviel Unkraut war 
selbst auf den bestellten Teilen geblieben! Welche Wüsten von Aber- 
glauben, welche Berge von Unwissenheit mußten noch bei Seite geräumt 
werden, beim Volke wie bei den Regierenden! Die Regierenden waren 
die Geistlichen ; an ihnen und an dem von ihnen aufgehetzten Pöbel war 
ein gut Teil der bisherigen Reformen gescheitert. Mit wenigen Aus- 
nahmen wußten und wollten sie nichts anderes wissen als den byzan- 
tinischen Formelkram. Der letzte Moskauer Patriarch Adrian — also 
nächst Peter die höchste Person im Reich — verfluchte noch feierlich 
alle, die sich den Vollbart scheren und nur den Schnurrbart stehen 
ließen, denn „so hat Gott nicht die Menschen, sondern die Katzen und 
die Ungläubigen erschaffen 'S imd zeigte als Beweis dafür auf die russi- 
schen Bilder vom jüngsten Gericht. „ Seht nur, zu des Heilands Rechten 
stehen alle Bärtigen, aber links die Mohammedaner, Ketzer, Lutheraner, 
Polen imd andere ihnen ähnliche Geschorene." Sein Vorgänger Joakim 
hatte sich aus religiösen Gründen mit Ausländem nicht an denselben 
Tisch setzen wollen. Diese unwissende, abergläubische, unduldsame, 
fanatische Kirche war die sehr starke Mauer, die Rußland vom Westen 



Peter der Grofie 19 



trennte. Der Protopope Awakum **), ein Gegner der Reformen des Patri- 
archen Nikon, erlitt Hunger, Gefängnis, Auspeitschung, Marter, er sah mit 
an, daß seinetwegen Frau und Kinder lebendig verscharrt wurden, er wurde 
dann selber an den Feuerpfehl gebunden und lebendig verbrannt — und 
wofür? Weil er dabei beharrte, den Eid mit zwei Fingern und nicht 
mit drei zu beschwören. Und das waren die Häupter; wie sah es mit 
den Gliedern aus? Da herrschte neben der Unwissenheit der Branntwein. 
Über die Trunkenheit und den Schmutz der vornehmsten Kreise klagen 
deutsche, englische, französische Gesandtschaftsberichte, über ihre Roheit, 
Dummheit, über ihre Filzigkeit trotz des Reichtums. Den Frauen war 
eine vollkommen orientalische RoUe zugefallen: sie durften sich nur in 
den hinteren Räumen aufhalten, zu denen der Hausherr immer den 
Schlüssel in der Tasche hatte. Das galt auch für die Prinzessinnen, selbst 
für die Zarin, die niemand sehen durfte. 

Damit wollte Peter aufräumen. Die Kraft dazu besaß er. Ob er 
in der Wahl der Mittel immer das Richtige getroffen hat, ist etwas an- 
deres — dazu haftete ihm selber noch allzuviel Russisches an. Er war 
nur ein äußerst kluger Kopf, aber kein Muster von moralischen Eigen- 
schaften, von vornehmem Fühlen und Handeln, sondern roh, herzlos, 
grausam, gewalttätig. Bester Beweis sein eigener Sohn Alexej, dem nur 
ein zeitiger Tod die Hinrichtung durch den eigenen Vater ersparte. Peter 
unterschied sich in vielem nicht von Iwan dem Schrecklichen: Knuten, 
Spießen, Rädern, Abschneiden der Ohren, Ausreißen der Zunge, Abhauen 
der rechten Hand blieben noch immer an der Tagesordnung. 

Peter reiformierte. Es reizt zum Lächeln, wenn er für seinen Hof 
einen „Ehrsamen Tugendspiegel oder eine Vorschrift zum Umgang mit 
Menschen" (1717)^^) herausgeben ließ, worin dieser belehrt wurde, daß 
man sich nicht zu laut schneuzen dürfe, daß man den abgenagten Knochen 
nicht ins Zimmer oder wieder in die Schüssel zurückwerfen dürfe, und 
wenn man ihn dann selber bei jeder Gelegenheit tolltrunken sieht. 

Peter war von unendlichem Wissensdurst erfüllt, und wie er davon 
erfüllt war, so sollte es auch sein Volk sein. Aber er dachte nur an 
Wissen, an praktische Wissenschaft. Die schönen Künste sah er als 
Spielerei an; für sie hatte er nur Zeit, sofern sie für seine Politik, für 
seine Machtstellung von Nutzen waren. 

Lernen sollte sein Volk, Geschichte, Geographie, Mathematik, dann 
Rechtskunde und soziale Wissenschaften. Das mußte er aber selber erst 
lernen, und deshalb unternahm er Reisen nach Holland, nach England, 
nach Deutschland — nicht nach Polen. Von jetzt ab ist Polen aus- 
geschaltet. An seine Stelle tritt eine Zeitlang Deutschland. Er hätte 
gern den größten Gelehrten jener Zeit Leibniz mit in die neugegründete 
Hauptstadt Petersburg genoromen; er konferierte mit ihm in Karlsbad, 
Dresden, Pyrmont. Leibniz wollte nicht. Er wandte sich an den zweit- 



20 Viertes Kapitel 



gröfiten Mann, den Philosophen Christian Wolf, auch vergeblich. Nach 
dem Plan dieser beiden ist jedoch später die Akademie der Wissenschaften 
in Petersburg angelegt worden. Es kamen aber andere, wie der später 
um die Erforschung der Mineralquellen des Kaukasus so verdiente Dresdner 
Arzt Schober, auch Juristen, Künsüer, Of&ziere, und wo nicht das lebende 
Wort wirken konnte, da halfen die Bücher. Es wurden mehrere Buch- 
druckereien eingerichtet: die bedeutendsten Werke von Leibniz, Grotius, 
Pufendorf, Lipsius, Vauban, Huygens wurden in Übersetzungen gedruckt, 
und zwar mit der ausdrücklichen Anweisung an die Übersetzer, nicht 
wort-, sondern sinngemäß zu übersetzen, auch alles Unwesentliche fort- 
zulassen. Diese Bücher erschienen in der neuen „bürgerlichen^' Schrift, 
d. h. der verbesserten Kyrillischen Schrift, mehr dem Lateinischen an- 
gepaßt. Daneben schuf Peter für die Kriegswissenschaft Schulen: in 
Moskau die Navigations-, Artillerie-, Ingenieurschulen, in Petersburg die 
Seeakademie. Eine Akademie der Wissenschaften in Petersburg führte er 
nicht mehr durch; sie wurde erst ein Jahr nach seinem Tode 1726 
von Katharina I. errichtet. Schulen für das Volk, die „Zifferschulen'', 
wo man neben Lesen und Schreiben Zififem, d. h. Arithmetik und Geo- 
metrie lehrte, wurden gegründet. Peter schuf die erste russische Zeitung, 
„die Russischen Nachrichten", im Jahre 1703 2^). 

Peter, der Mann der Praxis, wollte auch das materielle Wohl seines 
Volkes. Er holte Seeleute, Schlosser, Bergleute aus Schweden, England, 
Deutschland; aus Holland und Deutschland mußten Frauen kommen, um 
seinen Russinnen das Butterschlagen beizubringen. Eine so wichtige Ein- 
richtung wie die Post, wo es sich um Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit 
handelte, übertrug er fiaist ganz deutschen Händen ; der westfälische Theo- 
legiestudent Ostermann, der nachher bis zum Reichskanzlerposten auf- 
stieg, um desto tiefer zu fallen — Elisabet Petrowna ließ ihn vom Bett 
aus und im Schlafrock direkt aufs Schaftbtt schleppen und verwandelte 
dann gnädigst seine Strafe in ewige Verbannung nach Sibirien; Peter IIL 
holte ihn erst zurück — verdiente sich hier die ersten Sporen. 

Die Deutschen wurden durch Peter eine Macht. Die „deutsche 
Vorstadt" in Moskau, ihr Ghetto, wurde gesprengt; in dem neu ge- 
gründeten Petersburg legte er ihnen zu Ehren in der schönsten und vor- 
nehmsten Gegend, da wo heut6 das Winterpalais steht, die „deutsche 
Straße" an. Natürlich gefiel das den eingefleischten Russen nicht, be- 
sonders da unter den Deutschen auch viele Abenteurer und Betrüger 
waren, und ihr Haß richtete sich gegen die Deutschen und gegen Peter. 
Man murrte über manches, auch darüber, daß er in „deutschem Habit", 
d. h. in Hosen ging — die Kleidung der Altrussen ähnelt stark der 
Frauenkleidung — , daß seine Geliebte Anna Mons aus der „deutschen 
Ssloboda" stammte, daß Katharina, das Mädchen des Probstes von Marien- 
burg, gar seine Gemahlin wurde. Sein Sohn imd Thronfolger Alexej 



Die Anlange des rassischen Theaters und des nissischen Dramas 21 

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wollte, obwohl oder vielleicht weü er von einem Deutschen erzogen war» 
alle Ausländer ermorden lassen. 

Leicht war also die Stellung Peters nicht, aber dank seiner Ellugheit 
und dank seiner Roheit erreichte er sein Ziel. Er fand zum Glück auch 
ein paar Russen, die imstande waren, ihn in seinem Kampf zu unter- 
stützen. Das war der äußerst gelehrte und geistreiche, aber ränkevolle 
und grausame Erzbischof von Nowgorod, Theofan Prokopowitsch. 
Er hat für die Übersetzung der oben erwähnten Bücher Aufierordentliches 
geleistet; ebenso verdienstvoll ist sein „Reglement für die Geistlichkeif 
(1720), in dem er in Peters Sinn der Geistlichkeit eine höhere, gebildete 
Auffassung von ihrem Beruf geben wollte. Ein anderer bedeutender 
Geistlicher, der Rjäsaner Metropolit Jaworskij, wurde leider aus einem 
Freunde ein Feind Peters, weü er sich nicht ganz vom Alten lossagen 
wollte. Die Grafen Scheremetjev und Tolstoj mußten große Reisen unter- 
nehmen und ihre Erfahrungen zum Nutzen des Staates niederlegen. Peter 
schätzte die realen, nicht die „schönen*^ Künste, wie schon hervorgehoben 
wurde. Wenn er sich trotzdem für das Theater interessierte, so hatte 
das einen realen Hintergrund (s. $ i6). 

Natürlich haben Peters Reformen ^^) manches Mißliche , manche 
Schattenseite im Gefolge gehabt. Es trat durch sie eine größere Entfremdung 
zwischen vornehm und gering ein, die bis dahin alle gleich (stumpfsinnig) 
gelebt und gedacht. Das Volk war in der Landesversammlung (seMCKin 
co(Sop'L) mit an der Regienmg beteiligt gewesen; durch die von Peter 
geschaffenen „Kollegien** (Ministerien) war es ausgeschaltet. Die Kirche 
hatte ein Haupt gehabt; jetzt hatte es im „Synod** ein vielköpfiges, und 
noch schlimmer, da dieser vom Zaren allein eingesetzt wurde, ein diesem 
ganz und gar gefügiges Werkzeug. Daß sich dagegen Stimmen erhoben, 
sogar von Leuten, die es ehrlich meinten und die, wenn auch unter- 
geordneten Standes und untergeordneter Büdung, doch klar und scharf 
die ganze Sachlage überschauten, zeigen u. a. die vor nicht langer Zeit 
gefundenen Schriften des Bauern Possoschkov, der natürlich sofort un- 
schädlich gemacht wurde. 

Fünftes Kapitel 

Die Anfänge des russischen Theaters 
und des russischen Dramas 

§ 16 I Das russische Drama begann, wie in Westeuropa, mit den 
Mysterien, die dann in die Moralitäten ^^) übergingen. Jedoch fallen sie 
400 bis 500 Jahre später, treten also erst im i6. Jahrhundert auf. Diese 
ersten Dramen, „die Handlungen vom feurigen Ofen** (die Legende der 
drei Jünglinge im feurigen Ofen) und „vom Einzug des Heilands in Jeru- 
salem'* sind verloren gegangen. 



22 Fünftes Kapitel 



Das 17. Jahrhundert brachte mehr, tmd zwar knüpft nun das russi- 
sche Drama an das deutsche an, wie. denn die Deutschen dem ganzen 
russischen Theater das Leben eingehaucht haben. 

Unter Alexej Michailowitsch spielten die Deutschen, wie gesagt, in 
Moskau eine grofie Rolle, und diese hatten in ihrer Heimat Geschmack 
an Hans Sachs, Jakob Ayrer, auch an Moli^re gefunden. Davon hörte 
Alexej, und seine Neugier wurde rege; sie wurde noch gesteigert durch 
den bei ihm im höchsten Ansehen stehenden Simeon Polozkij (s. $ 13), 
der ihn leicht überzeugte, daß „nichts Sündhaftes noch Gesetzwidriges an 
der ^ufRihrung eines geistlichen Dramas sei^S Polozkij brachte von 
Kijev die Mysterien „Adam und Eva^S „ Joseph'* (seine Begegnung mit 
Potiphars Weib), „den heiligen Alexius** (es handelt sich um seine 
Keuschheit) mit. Er selber dichtete „die Komödie vom verlorenen Sohn 
in 6 Akten *' (Komödie = Bühnenaufführung) und „die Komödie vom 
Zaren Nebukadnezar mit einem Prolog *'. 

Alle diese Dramen — Schuldramen *^), weil sie vornehmlich in den 
Klosterschulen gespielt wurden — stammen aus Polen, und nach Polen 
waren sie von Deutschland gekommen, stand doch Polen eine ganze Zeit 
stark unter deutschem Einfluß ; der Haß gegen König Siegmund UI. wur- 
zelte ja hauptsächlich darin, daß er bei Hofe schontmgslos deutsche 
Sitten einführte. 

Zar Alexej war von allem dem so begeistert, daß er gern aus 
Deutschland die sehr bekannte Walthersche Truppe gehabt hätte. • Als 
diese aber trotz ihrer Zusage nicht kam, beauftragte er „drei Tage nach 
der Geburt seines Sohnes Peter" (1672) den deutschen Pastor an der 
Moskauer Luthergemeinde Joachim Gottfried Gregori eme Truppe zu 
werben und ein Komödienhaus im Dorfe Pijeobrashenskoje bei Moskau 
zu bauen. Gregori ftihrte beides aus. Die Truppe bestand aus 64 Per- 
sonen, lauter Deutschen, und man spielte nun die dem Zaren schon be- 
kannten „Komödien" von „Adam und Eva", von „Joseph", brachte 
aber auch neue heraus wie „die Wanderschaft und die Ehe des jungen 
Tobias", „Judith" (wie sie Holofemes das Haupt abhieb) und auch rein 
weltliche Stücke : „Bajazet und Tamerlan", ein „Artaxerxes-Drama", also 
Hans Sachs' und Jakob Ayrers beliebteste Stücke. In „Bajazet und 
Tamerlan" liegt schon eine Komödie in unserm Sinne vor, sie bringt den 
holländischen Pickelhering und den deutschen Tölpel. 

Als der Schöpfer des russischen Originaldramas wird der 
(heilige) Dmitrij Rosstowskij angesehen. Seine Stücke „die Qeburt 
Christi", „die Auferstehung Christi", „Esther und Ahasver" sind Mora- 
litäten mit den allegorischen Personen der Liebe, des Hasses, der Hoff- 
ntmg usw. Sie haben Interludia oder Intermedia, d. h. Einschiebsel 
zwischen den einzelnen Akten, durch welche die Haupthandlung unter- 
brochen wird und welche zum Teil komische Szenen aus dem täglichen 



Die Anfange des rassischen Theaters und des rassischen Dramas 23 

Leben, Volksgesänge und derlei bringen. Ist Rosstowskij wirklich Original? 
Seine „Esther" hat viele Anklänge an Hans Sachs, Und in seinem ver- 
lorenen Stück „Der reuige Sünder" oder „Wie der Mensch seinen Fall 
büßt" ist nicht nur der zweite Titel direkt von Leonhard Culman von 
Crailsheims Hauptwerk „Ein Christenlich Teutsch Spiel, wie ein Sünder 
zur Bufi betört wird*', sondern auch manche Einzelheit entnommen. 

Alexejs Nachfolger, Feodor Alexejew^tsch« hatte wenig Wohlwollen 
für die Deutschen, folglich auch keines fUr ihr Theater. Für das Theater 
interessierte sich tlagegen seine Schwester^. Sophie, sogar für Moli^res 
„Mddecin malgrd lui". Aber die politischen Wirren ließen ihr wenig Zeit 
dazu. Ihr Stiefbruder Peter, der Westling, der Deutschenfreund, folgte. 

Für Peter war die Bühne kein Vcrgntigungsort, nur Volkserziehungs- 
anstalt. Er schuf daher ein großes öffentliches Volkstheater; die 
beste Stelle im Mittelpimkt Moskaus, den „Roten Platz", wählte er dazu. 
Er sandte den Leutnant (nach andern den Schauspieler) Iwan Ssplawskij 
nach Daozig — ' von allem, was Gregori vor 35 Jahren geschaffen' 
hatte, war keine Spur geblieben — ^ und dieser brachte den Leiter einer 
gut bekannten Wandertruppe Johann Kunst mit. Kunst kam 1702 mit 
der für die Beurteilung russischer Verhältnisse bezeichnenden Vertrags- 
klausel, daß „er mit seinen Leuten allemal wieder frei, sicher und un- 
gehindert zurückreisen könne". Charakteristisch für den Leutnant Ssplawskij 
ist, daß er vergessen hatte Kunst zu sagen, die Stücke müßten in rus- 
sischer Sprache aufgeführt werden. Nun kam die erste Vorstellung, die 
meisten Mitglieder konnten nur Deutsch, und Peter verlangte unbedingt 
russisch. Was jetzt? Sie sagten ihre Rollen in der ihnen unverständ- 
lichen Sprache her. Was Kunst nun brachte? Was in der Heimat Mode 
war. In Deutschland galten noch Hans Sachs und Ayrer, aber auch"" 
Gryphius und Lohenstein; daneben die Franzosen, die Italiener, die 
Spanier. So spielte Kunst Gryphius' „Papinian der große Gelehrte", 
Löhensteins „ Sophonisbe ", auch „Alexander von Mazedonien", „Geno- 
veva, die Gräfin von Trier", „Julius Cäsar", von den Franzosen MoK^res 
,",Le mddecin malgrd lui", Thomas Comeilles „Jodelet ou le geölier de 
soi-mSme", von den Italienern „H tradimento per Thonore". Kunst 
mußte auch eme Theaterschule einrichten, sie setzte sich aus russischen 
Kleinbeamten zusammen. Peter scheute keine Kosten. 

Peter wollte seine Russen erziehen. Das geschah offenbar durch 
die angeführten Vorstellungen; es genügte ihm nicht. Er hatte Höheres 
im Auge: er wollte das Interesse des Volks Hir sich und für den Staat, 
was diesmal gleichbedeutend war, wecken und stärken. Deshalb gab er 
Kunst „den Befehl, eine Komödie über den Sieg tmd die Übergabe der 
Festung Oreschk an den mächtigen Herrscher (das heißt an ihn) zu 
schreiben". Ein anderes Stück zum Ruhme Peters war „Der herrliche 
Triumph des Befreiers von livland und die Vereinigung Ingermannlands 



24 Fttnfiel K^iitel 

nüt Rufltand"; femer „Die göttliche Veniiclitimg der stolzen Vemichter", 
worin der Sieg tibei die Schweden und der Verrat und die Flucht 
Maseppas behandelt wurden. In diese historischen Stücke zu seinem 
und des Vaterlands Ruhm lieS der kluge Praktiker Intedudia bringen, 
welche Alltä^chkeiten des Lebens, abei sebr wichdge, behandelten, die 
BestechUchkeit, die Trunksucht und andere Volkslaster. 

Kunst besorgte das alles, starb jedoch schon nach einem Jahr. 
Sein Nachfolger war ein früherer Goldarbeiter FUrst, ein -guter Leiter. 
Er hielt sich vollkommen in dem Repertoire von Kudst. Fürsts T^g- 
keit läSt sich bis 17 15 veifolgen — dann verschwinden auf einige Zeit 
alle Notizen. 

Wir hören erst wieder 1725 von cber deutschen Truppe, Da 
kommen nun aber die mit Peters Tode einsetzenden Wirren, und flir 
Theater scheint man wenig Interesse zu haben. Es spielt Johann 
Hinrich Mann mit seiner Truppe; Staatsaktionen und HÜiswurstiaden 
waren ihr Feld. Mann bat mit letzteren offenbar beim Publikum An- 
klang gefunden, auch beim Hofe; als er an einem i. April zu einer be- 
sonders glänzenden Vorstellung eingeladen hatte und nun der Vorhang 
aufgezogen wurde, prangte da in mächtigen Lettern' „der i. April", 
und Hof und Publikum gingen vergnügt nach Hause. Auf die Dauer 
war es jedoch mit solchen Scherzen wohl nicht getan. Jedenfalls wir 
hören nicht wieder TOn ihm. 

Unter Anna Iwanowna wurde das Theater wieder lebendig. Italienische 
Sänger treten in den Vordergrund. Anna liebte Musik und vor allem 
die derben Zoten. Freilich konnte sie nicht italienisch, und so muSten 
ihr denn die italienischen Intermezzi von ihren Akademieprofessoren ins 
Russische übertragen werden, eine würdige Arbeit der würdigen Herren. 
Trotz ihrer Vorliebe für die Italiener waren die Deutschen aber keines- 
wegs geächtet; sie ließ sogar 1740 die Neuber kommen. 

Dafi mit der Neuberin eine Wandlung auch im russischen Theater- 
leben vor sich ging, ist klar. Gottsched trat in die Erscheinung. Ob 
er in den Vordergrund trat, ist etwas anderes, und ob Anna selber 
davon viel gemerkt hat, ist kaum anzunehmen. Sie wollte, wenn es nun 
einmal die kitzelnden italienischen Zoten nicht waren, auf jeden Fall 
Lustiges. So pflegte denn die Neuber die Komödie. Aber wir erfahren 
von Gottsched selber — die russischen Quellen versagen — , daß sein 

ato" in „Danng, Königsberg, Riga, Petersburg viel 

;eben worden ist". 

rb noch im selben Jahr r740, und 1741 kam die Deut- 

'reufleohasserin Elisabeth Petrowna auf den Thron. Die 
fliehen. Die Italiener und die Franzosen triumphierten. 

Theater vegetierte nur noch in Moskau. 



Die Anfange des rassischen Theaters and des rassischen Dramas 25 

Trotz allem tauchte aber schon 1745 in Petersburg wieder der 
Wunsch nach einem deutschen Theater auf. Es wurde jedoch eine höchst 
unglückliche . Wahl getroffen; man holte sich Peter Hilferding, oder wie 
er sich in seiner Bude auf dem Dönhoffsplatz in Berlin genannt hatte, 
Pantalon de Bisognosi, und er machte sich bald durch seine Harleki- 
naden genau so unmöglich wie er in Berlin unmöglich geworden war, 
als die Schönemannsche Truppe auftauchte. Nach Hilferdüngs Verschwin- 
den kamen Ackermann und Sophie Schröder, beide aus der Schöne- 
mannschen Truppe hervorgegangen, aber weiter entwickelt. Während die 
Schönemannsche Truppe noch den Übergang vom Alten zum Neuen 
bildete, d. h. sowohl die alte Burleske wie das neue Gottscheddrama 
kultivierte, war die Ackermannsche die reine Verkünderin und Verfech- 
teiin von Gottscheds Theorien. Sie brachte nach Petersburg Corneille, 
Racine, Molinie, auch Voltaire, dann Holberg, Sheridan und von ihren 
Landsleuten Gottsched, Geliert und den jungen Lessing, der ja zunächst 
noch Gottschedianer waA Die Truppe erwarb sich sehr großes Ansehen, 
so daß Elisabeth in bezug auf die Bühne ihren Deutschenhaß ließ; sie 
war so begeistert, daß sie Ackermann und Frau Schröder in der 
lutherischen Kirche zu Moskau trauen lipß. Und an Lessin^ er- 
ging der Ruf, eine Professur für deutsche Sprache und Beredsamkeit 
an der Moskauer Universität anzunehmen; er führte das erst Gewollte 
nicht aus. 

Die fünf Jahre, welche die Ackermannsche Truppe in Rußland war, 
sind für das russische Theater von weittragendster Bedeutung gewesen. 
Sie haben die Russen zur Reife geführt. Von nun an gibt es ein 
russisches Theater mit russischen Dichtern; das deutsche 
Theater verschwindet, aber aus seinem Schöße ist das russische geboren. 

Wolkov (1729 — 1763) und Ssumarokov (1718 — 1777) sind 
die Väter des russischen Theaters, beide in ^er deutschen Truppe heran- 
gebildet, Wolkov der Freund Ackermanns. Wolkov führte den Gedanken 
Peters durch: er gründete sein Theater für das Volk, während bis jetzt 
eigentlich nur der Hof daran teilgenommen hatte; zugleich war er ein 
atisgezeichneter Schauspieler. Ssumarokov wurde sein Dichter. Was 
Wolkov gab und spielte, was Ssumarokov schrieb, war natürlich fran- 
zösischer Pseudoklassizismus , wie er sie durch die Deutschen gelehrt 
wan Ssumarokovs Tragödien — die erste „Chorjev", 1747 verfaßt 
und 1749 zum erstenmal in Gegenwart der Kaiserin Elisabeth im 
Kadettenkorps, dessen Zögling er war, aufgeführt; andere sind „Semira'% 
„<}er Pseudodemetrius" — und Komödien, die ersteren streng nach 
Gottsched im gereimten Alexandriner, die letzteren in Prosa, werden 
heute nicht einmal mehr gelesen, sie begeisterten aber seine Zeitgenossen. 
Man hat, so wenig Gefallen man an seinem aufgeblasenen Wesen fand, 
seine dichterische Fähigkeit hochgeschätzt, so daß man ihn den „russischen 



26 Sechstes Kapitel 



Radne^* nannte. Ssumarokovs Dramen wollen russisch sein, sie 
wollen uns die ältesten Phasen der russischen Geschichte vorführen ; aber 
alles ist französische Aufinachung, russisch ist eigentlich nur der Titel. 
Seine Tendenz , die Tendenz des französisch^ Pseudoklassizismus , ist 
für lange Zeit maßgebend für Rußland geblieben; ehe Shakespeare in 
Wirklichkeit eindrang, vergingen noch mehrere Jahrzehnte; der von 
Ssumarokov bearbeitete y,IIamlet'* (1748)^^) hat von Shakespeare nur 
sehr wenig, er ist ganz nach französischem Vorbild aufgebaut. 

Ssumarokov ist der erste Russe gewesen, der russische Geschichte' 
dramatisiert hat — Peters dramatisierte Geschichte war ja deutsches 
Produkt — , und doch nicht ganz der erste. Schon 1705 hatte Theo- 
fan Prokopowitsch ein Stück „Wladimir" geschrieben; sein „Wladi- 
mir" ist der richtige Wladimir der Große. Aber dies Drama ist ganz 
im Stil des alten Schuldramas mit Interludia usw. 

/ Sechstes Kapitel 

Wissenschaft und Kunst unter Peters Nachfolgern. 

Lomonossov 

§ 17 I Das frühere „Mädchen von Marienburg" wurde eine recht 
brauchbare Kaiserin. Katharina I. ging sofort nach Peters Tod an die 
Ausführung seiner Lieblingsidee und errichtete noch 1725 die „Kaiser-: 
liehe Akademie der Wissenschaften" in Petersburg. Peter selber hatte 
schon eine ansehnliche Bibliothek tmd eine „Kunstkammer" aus „ver- 
schiedenen Tieren, Fischen, Vögeln, Seltenheiten" gesammelt; beide 
gingen in den Besitz der Akademie über. Alle Lehrstellen wurden nach 
Peters Bestimmung mit Deutschen besetzt. Dieser Kult deutscher Ge- 
lehrsamkeit dauerte noch weiter fort, unter Peter IL, unter Anna Iwanowna, 
er wirkte noch bis zu ELatharina U. hin, so daß man sagen kann, die 
ganze russische Wissenschaft lag bis dahin in deutschen Händen. An 
Stelle von Leibniz und Wolf kamen andere, sehr bedeutende Männer, 
nach Petersburg wie nach Moskau : der um die ErforschuDg von Sibirien 
in historischer und ethnographischer Beziehung hoch verdiente Gerhard 
Friedrich Müller ^^), welcher wiederum, als Lessing abgelehnt hatte, den 
Gottschedianer Reichel auf das Moskauer Katheder der Ästhetik brachte ; die 
Historiker Bayer und von Schlözer — Schlözer ist der eigentliche Be- 
gründer der russischen Geschichte — ; die Mathematiker und Physiker 
Braun und Euler; der durch seine Reisen im Ural, im Kaukasus, in 
der Krim bekannte Naturwissenschaftler Pallas, der sich auch durch seine 
praktischen Anlagen — Seidenbau, Bereitung von Soda — so verdient 
machte, daß ihm Katharina IL zwei Dörfer in der Krim und ein Haus 
in Ssimfjeropol schenkte. Welch reiches wissenschaftliches Leben sich 
durch diese und noch viele andere Gelehrten entfaltete, davon gibt 



Wissentchait and Kunst anter Peters Nachfolgern. LomonossoT 27 

Schlözer ein anschauliches Bild in seinem Buch „ Öffentliches und Prirat- 
leben, von ihm selbst beschrieben ''9 Göttingen 1802. 

Und nicht blofi standen deutsche Gelehrte in solchem Ansehen; 
der Reichskanzler Ostermann , gleich groß in der inneren Verwaltung 
wie in der äußeren Politik, imd der O^rganisator des russischien Heer- 
wesens Generalfeldmarschall Münich waren ja auch Deutsch^ Freilich 
waren beide, als andere Zeiten kamen, nahe daran gevierteilt zu werden; 
nach Sibirien mußten sie beide, Münich koimte dort sein Leben nur 
durch Erteilen von Mathematikstunden fristen. 

Am wissenschaftlichen Himmel Rußlands erhebt sich neben den 
vielen deutschen Sternen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nur 
ein einziger russischer, Lomonossov. 

§ i8/ Michael Lomonossov (17 11 — 1765)") ragt als monumentale 
Figur aus dieser Zeit hervor; er hat auf wissenschaftlichem Gebiete nicht 
viel weniger geleistet als Peter der Große auf politischem. Bis Lomonossov 
war russische Wissenschaft, soweit sie von Russen überhaupt kultiviert 
wurde, allein bei der Geistlichkeit gewesen — Lomonossov ist der erste 
weltliche russische Wissenschaftler xmd zwar gleich ein phänomenaler. 
Daß er dazu ein bedeutender Dichter war, gibt seinem Bild noch mehr 
Glanz. 

Lomonossov hatte in Marburg studiert und vor allen den Philo- 
sophen und Mathematiker Christian Wolf gehört, der nach seiner schünpf- 
lichen Entfernung aus Halle „bei Strafe des Stranges*' hier zur Ruhe 
gekommen war und im Zenitji seines Ruhmes stand. Von Marburg war 
Lomonossov nach Freiberg gegangen: seine Hauptfächer waren Berg- 
kunde, Metallurgie, Chemie. Von dem Grundsatz ausgehend: „Wissen 
ist Machf , suchte er sich auf allen Gebieten zum Herrn zu machen, 
und so wurde er ein Universalgenie, besonders bewandert im Reiche der 
Naturwissenschaften. Und zwar verficht er hier den Gedanken, daß diese 
mit der Religion vereinbar ist — das war eben die deutsche Philosophie 
Wolfs, streng religiös im Gegensatz zum französbchen Rationalismus 
jener Zeit. 

Lomonossov beschränkte sich in seinen eigenen Studien wie in 
seinem Lehrfach als Adjunkt, dann als Professor an der Akademie nicht 
auf Philosophie und Naturwissenschaften, er wurde Philologe und Histo- 
riker. Er hat die erste russische „Rhetorik" (1748)^8) und die erste 
„russische Grammatik" (1755) verfaßt, beide im Geiste und in der An- 
lage der damaligen deutschen Sprachbehandlung. Die Quellen zu seiner 
russischen „Rhetorik" und die angezogenen Beispiele sind Gottsched und 
Wolf entnommen. Die Grammatiken vor Lomonossov waren entsprechend 
dem religiösen Charakter der altrussischen Literatur und der hierin ver- 
wendeten kirchenslawischen Sprache „slawische". Lomonossov zieht die 
Scheidegrenze zwischen beiden Sprachen lexikographisch wie grammati- 



28 Sechstes Kapitel 



kaiisch; er zeigt , dafi die Kirchensprache mit der griechischen Struktur, 
der griechischen Wortbildung, dem griechischen Artikel femabsteht 
von der russischen Sprache des russischen Volkes. Freilich, löste auch 
er diese Frage nicht ganz; er machte die russische Sprache wohl vom 
Kirchenslawischen frei, er selber aber schuf eine künstliche Büchersprache, 
die der Inenden Sprache wenig glich. Diese Aufgabe ganz gelöst hat 
erst Karamsin. 

Lomonossov sah, daß die russische Geschichte an der Akademie 
allein in den Händen der Deutschen lag ; sein Verstand und sein National- 
gefühl sagten ihm, daß diese unmöglich das volle Verständnis für den. 
russischen Volkscharakter haben konnten, und so warf er sich auch auf 
dies Gebiet. Leider ging er hierbei nun bald vom rein Sachlichen auf 
das Persönliche über. Lomonossov war ein Bauemsohn (aus dem Gou- 
vernement Archangel), ein Bauer ist er Zeit seines Lebens geblieben; 
auch seine Heirat spricht dafür: eine Wäscherin, an der er in Freiberg 
hängen geblieben war. Die Invektiven oder noch schlimmer die A-rt der 
Invektiven, die er bei seinen Auseinandersetzungen mit den deutschen 
Professoren anwandte (vgl. Schlözers Buch), zeigen den groben Bauern. 
Allerdings waren die Deutschen ja auch nicht fein. 

Lomonossov ist ein bedeutender Dichter gewesen, und wie seine 
Wissenschaft aus deutschem Boden erwachsen ist, so ist es auch seine 
Poesie. Sein erstes Gedicht, das gleich den Grund zu seinem I)ichter- 
ruhm gelegt hat, die Ode 9, Auf den Sieg Anna Iwanownas über die 
Türken und Tataren und auf die Einnahme von Chotin, im Jahre 1739 '^ 
fallt in die Freiberger Zeit und ist eine Nachdichtung von Chr. Günthers 
Gedicht „Auf den Frieden Österreichs mit der Pforte, 17 18", eine Nach- 
dichtung, welche die Vorzüge des Originals vermissen läßt. Chr. Günther 
war der letzte „schlesische^* Dichter, eigentlich der erste einer neu 
hereinbrechenden Zeit, der sich schon etwas frei macht von dem Schwulst 
tmd der Unnatur der Schlesier und einen einfacheren, realeren Ton 
findet. Von dieser NatürHchkeit , von dem Witz, dem Humor Günthers 
hat Lomonossov nichts verstanden; ihm ist von Günther nur der feier- 
liche Bombast geblieben. Lomonossov steht hier, wie in allen späteren 
Gedichten, auf „schlesischem^^ Boden, der allerdings zu seiner Studien- 
zeit in Deutschland trotz des Sturmlaufs noch immer siegreich blieb. 
Alle seine Oden sind in der schwunghaften Manier der Opitzschen 
geschrieben; die notwendigen Requisiten sind die Musen und Narziß 
und die Nymphen und Diana und Mars und Bellona und der 
Berg Pindus, und selbst bei einem christlichen Fest rauscht die 
kastalische Quelle. 

Die meisten Oden Lomonossovs sind Gelegenheitsgedichte. Als 
Akademieprofessor hatte er die Aufgabe, festliche Gelegenheiten, wie die 
Namens- und Krönimgstage der Herrscher, Hochzeiten, Siege zu feiern. 



Wissenschaft und Kanst uoter Peters Nachfolgera. Lomonossor 2Q 

Alle diese Gedichte sind eigentlich nur Auszüge und Wiedergabe 
seiner sonstigen wissenschaftlichen Reden, und Gedichte wie Reden zeigen 
einen gedanklichen Inhalt, der uns durch die wissenschaftliche Tiefe der 
Forschungen, die Kühnheit der Ideen, durch den Freimut der Über- 
zeugung die höchste Achtung vor dem Menschen Lomonossov abnötigt. 
Seine Panegyrien, wie sie offiziell von jedem Akademieprofessor verlangt 
wurden, sind keine Schweifwedeleien. Der kluge Gelehrte erkannte sehr 
wohl die Fehler seiner Herrscher. Das zeigt sich deutlich in seinen 
Epigrammen, die nur in Handschriften herumgingen — selbst in dieser 
Zeit hat noch keineswegs die gedruckte Literatur die Oberhand, es gibt 
unendlich viel Handschriftliches — und die der „Staatsverbrecher" 
Ssidorazkij in Paris unter dem Titel „Tout Lomonossov" {1900) hat er- 
scheinen lassen: Pamphleten gegen die Unwissenheit und Lügen der 
Geistlichkeit, gegen Peters Wüten, gegen Katharinas Fehler, gegen die 
russische Gerichtsbarkeit. 

In Deutschland hatte Lomonossov die Anakreontik und andrerseits 
das geistliche lied kennen gelernt. Er hat beiden seinen Tribut gezahlt. 
Die ersteren, wenigen, lassen kalt, klingen gezwungen; die letzteren sind 
meist Psalmenübersetzungen, Paraphrasen. Aber ein paar von ihnen, ge- 
rade die, in denen er selbständiger arbeitet, wie „Morgengedanken über 
Gottes Größe" oder „Abendgedanken über Gottes Größe beim Er- 
scheinen eines großen Nordlichts" oder sein „Herbst" zeigen schon 
den Dichter, der fUhlt, der empfindet, nicht mehr den Reimer und 
Versschmied. 

Lomonossov hat, wie schon gesagt, den der russischen Sprache zu- 
widerlaufenden syllabischen Vers aus der russischen Dichtung heraus- 
gebracht; er hatte schon 1739, zugleich mit Übersendung seiner Ode 
„Über die Einnahme von Chotin" seinen „Brief über die Regeln des 
russischen Versbaus " an die Akademie eingesandt und deren Beistimmung 
erhalten. 

Lomonossov hat auch zwei Dramen ^^) geschrieben : „ Tamira und 
Selim" (1750), Figuren aus der Geschichte der Krim, und „Demophont" 
(17 51). Sie haben bei seinen Zeitgenossen keine Anerkennung gefunden; 
auch die Elritik der Folgezeit hat sie mit den Worten abgetan, sie seien 
nach pseudoklassischem Muster gearbeitet. Das letztere stimmt wohl, 
bedarf aber der Ergänzung. Die allerletzte Zeit weist nach, daß 
„Tamira" nicht allein auf dem genauen Studium von Gottscheds 
„Versuch einer kritischen Dichtkunst", der nicht lange vorher erschienen 
war, beruht, sondern daß der Anfang und auch sonst noch Einzelheiten 
unter direktem Einfluß von seinem „Sterbenden Cato" geschrieben sind. 
Das zweite Drama dagegen „Demophont" — aus der griechischen 
Sagengeschichte — steht unter dem Einfluß von Racines „ Andromache ". 
Wenn also Lomonossov und ebenso Ssumarokov die Schöpfer des 



jO Sechstes Kapitel 



pseudoklassischen Dramas in Rußland genannt werden, so ist das an 
und für sich richtig; aber sie sind erst durch deutsche Vermittlung 
darauf gekommen. 

§ 19 I Um diese Kolossalfigur gruppieren sich im zweiten Viertel 
des i8. Jahrhunderts ein paar Dichter und Denker, zwar minderer Art, 
aber doch zeigend, daß in Rußland russisches Leben zu pulsieren be- 
ginnt. Und zwar tritt gleich jetzt eine Spaltung der Geister ein, die 
sich nachher immer mehr erweitem wird -r- die einen unter dem Ein- 
fluß deutscher Bildung und deutscher Literatur,' die ändern unter fran- 
zösischem. Da stehen auf der einen Seite, der deutschen, mehr als 
Vertreter der Wissenschaft, Lomonossov und Tatischtschev , auf der 
andern, französischen, mehr als Vertreter der schönen Literatur Tijed- 
jakowskij, Kantjemir, Ssumarokov. 

§ 20 I Tatischtschev (1686 — 1750) ist älter als Lomonossov. 
Aber seine schriftstellerische Tätigkeit fallt erst in die Zeit nach Peters 
Tod. Tatischtschev war in Deutschland gewesen und hatte sich an 
Pufendorf, an den theologisch -philosophischen Werken Walchs und den 
mathematisch -philosophischen Wolfs herangebildet. Seine allgemeine 
Lebensauffassung wurde die jener großen Freidenker. Daß er sie zu 
äußern wagte, spricht auch noch für seinen mutigen Charakter; man be- 
denke, was für Rußland eine Erklärung bedeutete: „Das hohe Lied sei 
eine Sammlung weltlicher Liebeslieder". Für seine freie Auffassung wie 
für seinen Wagmut spricht auch sein „Testament an seinen Sohn" 
(1734 — gedruckt lange nach seinem Tode, 1773), in dem er diesem 
empfiehlt, sich mit der lutherischen, kalvinistischen, papistischen Kirche 
zu beschäftigen, da man doch mit ihren Vertretern leben müsse. Das 
„Testament" lehnt sich innerlich und äußerlich an Christian Weises 
„Väterliches Testament". Ebenso sind in seinem „Gespräch über den 
Nutzen von Büchern imd Schulen" die philosophischen Beispiele für 
eine große Reihe der dort aufgestellten Fragen aus W^chs „Philosophischem 
Lexikon" genommen. 

Und in seinen größeren Werken, der „Geschichte Rußlands" und 
dem „Russischen Lexikon der Geschichte, Geographie, Politik und Kultur" 
ist, trotzdem sie kaum mehr als Materialsammlungen sind, doch die kritische 
Art, wie er an die Geschichte überhaupt herantritt, das Produkt des ge- 
nauen Studiums jener Philosophen. Auch diese beiden Werke sind erst 
nach seinem Tode herausgekommen. Schlözer hat Tatischtschev ein 
wahres historisches Genie genannt. 

§ 21 I Trjedjakowskij (1703 — 1769) war, wie Lomonossov, 
aus niederem Stande, ein armer Popensohn aus Astrachan. Er hatte 
sich durch eisernen Willen zu derselben angesehenen Stellung wie Lomo- 
nossov emporgearbeitet; er hatte eine Professur für Beredtsamkeit an 
der Akademie der Wissenschaften in Petersburg. Er wird wohl hier und 



Wissenschaft und Kunst nnter Feters Nachfolgern. Lomonossov ^ i 

da als der Vater der russischen Ode bezeichnet — er hat außerdem 
\ Satiren, Epen, Tragödien, Komödien geschrieben — , und es stimmt 
auch, dafi er diese vor Lömonossov geschrieben hat. Aber während 
man bei Lömonossov den wirklichen Dichter hindurchleuchten sieht, ist 
Tijedjakowskijs Dichten nur Reimen, schwunglos, steifleinen, und dieses 
läiift im Geleise seines Meisters Boileau, dessen Werke er auch teilweise 
ins Russische übersetzt hat. Seine Vorliebe für das Französische ist zu 

< 

verstehen; er hatte sich unter den größten Entbehrungen eine Reise nach 
Paris erkämpft. Auf Anna Iwanownas Befehl übersetzte er italienische 
Opern ins Russische; er übertrug auch die lateinischen Abhandlungen 
des erst erwähnten Hofhistoriographen Bayer ins Russische. Er verwarf 
vor Lömonossov das Slowenische, das Kirchenslawische für die Poesie 
und trat für die Volkssprache ein. Der gelehrte Sprachenkundige 
nimmt also für ihn ein, der' Dichter kaum und ebensowenig der Mensch; 
er war ein Muster der Überhebung und Gesiimirngslosigkeit. Charakte- 
ristisch für ihn, für seine Stellung und für Rußland ist, daß er vom 
Minister Wolynskij geohrfeigt wurde und bei anderer Gelegenheit Stock- 
prügel erhielt 

Höher in der Dichtungskunst und im Charakter steht Fürst Kan- 
tjemir (1708 — 1744), angeblich direkt von Tamerlan abstammend. Seine, 
Sprache ist reiner, kraftvoller, seine Verse sind nicht ohne Harmonie, er 
hat eigene Gedanken. Karamsin läßt mit ihm die erste Epoche des 
russischen Stils beginnen, mit Lömonossov die zweite. Kantjemir leistet 
in der Dichtungsart, die am ehesten ohne den göttlichen Dichterfunken 
auskommt, in der Satire, nicht Unbedeutendes, so daß er den Namen 
Vater der russischen Satire verdient. Gemeint ist damit die Satire in 
gebundener Form als didaktische Lyrik; sonst hat es vor ihm hervor- 
ragende Satiriker gegeben, z. B. Iwan IV. Kantjemir geißelt in seinen 
Satiren — es sind neun; die ersten erschienen 1729 — die Roheit 
der russischen Gesellschaft und die Dummheit ihrer Kulturträger, der 
Geistlichkeit. Man nennt ELantjemir ebenso richtig den „Schöpfer der 
pseudoklassischen Dichtung". Er neigte sehr zu den Franzosen ; er 
war unter Anna Iwanowna bevollmächtigter Minister in Paris und verkehrte 
dort intim mit Montesquieu, dessen „Lettres persanes" er übersetzte. 
Mit Voltaire stand er in regem Briefwechsel. In Paris hat er den ersten 
russischen Salon eröffnet. In seinen Gedichten, Satiren, Oden, Ana- 
kr^ontika, Fabeln sieht man Boileaus und Labruy^res Einfluß und deren 
Muster Horaz '^). Seine Satiren sind übrigens ins Deutsche übersetzt wor- 
den (vom Oberst Spilcker, Berlin 1752), aber bezeichnenderweise nicht 
aus dem Russischen, sondern aus der französischen Übersetzung. 

Über Ssumarokov als Dramatiker ist § 16 gesprochen. Er hat 
außerdem Fabeln, Epigramme, Episteln, Elegien, Oden, vor allem Satiren 
geschrieben. Seine Satiren haben wenig speziell Russisches, sie sind 



j2 Siebentes Kapitel 



mehr allgemein gehalten, gegen den Aberglauben , den Unglauben, die 
Scheinheiligkeit, die Bestechlichkeit; sie alle zeigen Schärfe und einen 
zum Lachen zwingenden Witz, so dafi man deutlich den Schüler Boileaus 
erkennt In der Fabel folgte er gern Lafontaine. 

Siebentes Kapitel 
Katharina IL — Petersburg und Moskau 

§ 22 1 Peters IIL Regierung war zu kurz gewesen, um Spuren zu hinter- 
iasseu: was Elisabeth begünstigt hatte, wurde natürlich verdammt, und 
umgekehrt. So rückten die Deutschen wieder in den Vordergrund, und 
die französischen Schauspieler verschwanden. Aber die liebende Gattin 
ließ ihm zur Durchführung seiner Ideen keine Zeit: nach sechsmonat- 
licher Regierung war er ermordet. 

Die deutsche Katharina (1762 — 1796) stieg auf den Thron und 
damit eine ausgesprochene Franzosenfreundin. Ihre Vorliebe für Diderot, 
Grimm, Voltaire sind bekannt. Sie vergalten es ihr ja reichlich. Grimms 
Glaubensbekenntnis : Je crois en Catherine, unique quoique seconde , et 
en sa bontd consubstantielle et incamde avec eile, je crois aussi en son 
Saint esprit soll witzig sein, ist aber wegen seiner Speichelleckerei wohl 
eher widerlich. Daß Katharina die Deutschen nicht liebte, ist ebenso 
bekannt, wenn auch ihre Antwort auf die Frage nach ihrem Befinden, 
als sie zur Ader gelassen war: „Es geht jetzt besser; das letzte deutsche 
Blut ist fort" mehr für den Augenblick und für die betreffende Person 
zurecht gemacht war. Katharina II. war vor allem eine kluge Frau, und 
so hütete sie sich sehr die philosophisch-aufklärerischen-freiheiüichen 
Ideen ihrer Freunde bei den Russen in die Praxis umzusetzen; sie konnte 
mit solchen Genüssen ja liebäugeln, für andere war es nicht. Katharina 
las mit dem größten Eifer Diderot, Giimm, Voltaire, sie las mit dem- 
selben Eifer Wieland, Zimmermann, Nicolais ^, Allgemeine deutsche 
Bibliothek" und äußerte sich: „Die teudeske Literatur läßt die ganze 
übrige Welt weit hinter sich und marschiert mit Riesenschritten". Diese 
Popularphilosophie schien ihr für die Erziehung und Bildung des Volks 
doch praktischer als die auf den Umsturz hinauslaufende Philosophie der 
Franzosen. 

Es ist richtig, daß sich .zwischen den beiden Hauptstädten eine 
Trennung vollzog; in der alten blieb der deutsche Einfluß geltend, in 
der neuen entschied man sich für den französischen — ein allgemein 
menschlicher Zug : da die alte Hauptstadt dies tat, mußte die neue jenes 
tun. Daß sich aber Katharina für den französischen restlos eingesetzt 
hätte, geht zu weit; sie nahm das Gute, wo sie es bekam. 

Die Erziehung blieb auch in Petersburg den Deutschen. An der 
Universität bzw. Akademie lagen, wenn auch an ihrer Spitze Russen 



Katharina II. — Fetersbarg und Moskau jj 

■ II. i III ■ I 1 ■ I I - j I I 

Standen, die Hauptfächer nach wie vor in den Händen von Deutschen. 
Zu den schon früher genannten Namen von Bayer, Euler, Schlözer, 
Pallas kommen neue : der aus Rügen stammende Rechtslehrer Gadebusch, 
der eine neue Prozeßordnung für Rußland entwarf und die Frage der 
Leibeigenschaft anschnitt; der Historiker Bacmeister — er hat Lomo- 
nossovs „Russische Geschichte'* ins Deutsche übertragen — ; die Natio- 
nalökonomen Friebe und Storch, Für das medizinische Studium er- 
richtete Katharina die Kalikin-Schule, an der die Unterrichtssprache Deutsch 
war. Der als Arzt wie als Dichter gleich berühmte J. G. von Zinmier- 
mann vermittelte den Eintritt vieler deutscher Ärzte in russische Dienste. 
Die großartigen Wasserverbindungen im Reiche haben der österreichische 
Baumeister Joh. Konrad Gerhard und der Balte Graf Jakob Joh. Sievers 
geschafifen. Die befähigten jungen Russen schickte Katharina nach 
Göttingen, Leipzig, Königsberg, und um die furchtbare Unwissenheit des 
niederen Volkes zu heben, richtete sie Volksschulen ein. Sie trat zu 
dem Zweck mit Basedow in Verbindung und wollte, daß er nach seinem 
„Philanthropin'* ähnliche Institute, „ Katharineums '* , schaffe. Zur 
Besiedlung der Wolgagebiete rief sie deutsche Hermhuter, zur Besied- 
lung Südrußlands deutsche Mennoniten herbei; eine ganze Reihe von 
Städten im Gouvernement Ssaratov und in Ssamara weisen auf deutschen 
Ursprung hin: Aargati, Zug, Luzem. 

Katharina verschmähte es nicht selber Lehrmeisterin zu sein^^). Sie 
war schriftstellerisch außerordentlich tätig, und diese Tätigkeit war zum 
guten Teü wieder auf deutscher Grundlage aufgebaut. Sie hat zur Volks- 
erziehung eine ganze Anzahl Dramen geschrieben. Unter ihnen sind 
mehrere nach Shakespeare ^'^) gearbeitet „Wie gut es ist, einen Wasch- 
korb und Wäsche zu haben" ist Shakespeares „Lustige Weiber"; ihre 
historischen Stücke „Aus dem Leben Ruriks" und „Der Regierungs- 
anfang Olegs" sind „eine Nachahmung Shakespeares", d. h. seines „König 
Johann"; ihr „Verschwender" ist eine Überarbeitung von „Timon von 
Athen". Und auf Shakespeare war sie durch Eschenburg gekommen. 
Unter ihrer Regierung hatte sich die Freimaurerei stark ausgebreitet, so 
stark, daß sie ihr eine Gefahr für den Staat schien; außerdem hatte der 
angebliche Graf CagHostro, ein Betrüger schlimmster Sorte, die ganze 
vornehme Gesellschaft in seinen Bann geschlagen. Durch die Komödien 
„Der Betrüger" (1785), „Der Betrogene" ' (1785), „Der sibirische 
Schaman" (1786) ergoß sie ihren Spott über ihn imd seine Anhänger; 
zugleich enthielten sie Warnungen für die Freimaurer. Die drei Lust- 
spiele sind auch ins Deutsche übersetzt, und das erste ist in Hamburg 
oft aufgeführt worden. Katharina hat noch viele Stücke, Tragödien, 
Koinödien, Opern, Singspiele geschrieben; sie selber verfaßte sie deutsch 
oder französisch und ließ sie dann ins Russische übersetzen ; ihre eigenen 
russischen Kenntnisse waren nur mäßig. 

Friedrichs, Russische Literaturgeschichte 3 



^A Achtes Kapitel 



Katharinas „Nakas" (1767) sind der neuen Zeit angepaßte Aus- 
fuhrungsbestimmungen zum alten Ukas (Gesetz). Der Nakas ist eüt- 
commen aus Montesquieu, Beccaria, Voltaire und aus Friedrichs des 
Großen „Antimachiavel"; die Form hat dem Buch Graf Sievers gegeben. 

In anderen Ländern waren Monatsschriften sehr beliebt geworden. 
Rußland hatte auch schon solche gehabt; der Historiker Müller und 
Ssumarokov hatten in den Fünfzigerjahren mehrere herausgegeben. 
Katharina griff von neuem dies Volkserziehungsmittel auf. Sie beteiligte 
sich selber an der Wochenschrift „Verschiedenes Allerlei" (1769), die 
mit ihrem erzieherischen Inhalt allerdings dem russischen geistigen Stand- 
punkt stark angepaßt war: „Du sollst dich täglich kämmen". Erst 
spätere Zeitschriften wie Nowikovs „Drohne" und „Maler" hoben diese 
Art der Literatur auf einen den übrigen europäischen Ländern eben- 
bürtigen Stacdpirnkt. 

Zunächst nur ftir ihre Enkel ausgearbeitet, dann auch ftir die All- 
gemeinheit bestimmt war ihre „Bibliothek", ein großes Unterrichtswerk, 
auf Locke und Basedow aufgebaut. Katharina schrieb bisweilen gut; 
ihre „Kindermärchen", besonders das „Märchen vom Prinzen Chlor" 
sind hübsch. 

So hat Katharina mittelbar und unmittelbar regen Anteil an det 
russischen Literatur. Bei allem ist sie außerordentlich mit dem Kopf 
beteiligt, wenig mit dem Herzen. Es war bei ihr, hierin wie in ihrem 
ganzen Tun, das meiste auf den äußeren Schein eingestellt; die „Pot- 
jomkinschen Dörfer" sprechen ja eine beredte Sprache, und trotz ihrer 
Aufgeklärtheit dauerten auch unter ihrer Regierung die entsetzlichsten 
Folterungen und Qualen der politisch Verdächtigen fort. Daß gegen 
Elatharina auch nach und nach eine sehr bedeutende Opposition auftrat, 
wird sich bald zeigen. 

Achtes Kapitel 

Die französische und die deutsche Richtung. — 

Die Freimaurerei. — Djershawin 

§ 23 I Katharina stand also, sofern ihr die Deutschen nicht nützen 
konnten, auf französischer Seite, und mit ihr viele Gebildete; der fran- 
zösische esprit, die Voltairesche raison haben ja auch heute noch An- 
ziehungskraft, und zwar berechtigte. Diese Richtung konzentrierte sich, 
wie gesagt, in Petersburg. Das Bild bleibt jedoch unvollkommen, wenn 
man nun von Moskau sagen wollte, man sei dort im alten deutschen Geleise 
geblieben. Im Gegenteil, gerade die Jugend Moskaus rührte sich außer- 
ordentlich, freilich wieder in deutscher Richtung. Aber diese war auch 
im Heimatlande eine andere geworden. Man war dort den Franzosen 
entgegengetreten und hatte sie aus dem Felde geschlagen. In Moskau 



Die französische nnd die denUche Ricbtnng. — Die Freimanrerei. — Djershawin j J 

rüstete sich jetzt die Jugend gleichfalls dazu. Mit an erster Stelle hat 
hierzu die Freimaurerei beigetragen. 

Die Freimaurerei ^®) hat nur kurze Zeit in Rußland existiert, von 1 7 7 1 
bis 1794 und dann von 1802 bis zu ihrer endgültigen Schließung wegen 
„revolutionärer Umtriebe'* im Jahre 1822. Ihr haben in dieser kurzen 
Zeit auch noch viele Schlacken, viel Mißgunst, Neid, Zank angehaftet. 
Aber ihre Grundgedanken waren edel: Sittliche Hebung des einzelnen, 
Nächstenliebe, Opfersinn. Die Freimaurer kämpften für sittliche Werte, 
für höhere Güter gegenüber dem Materialismus und Atheismus. An der 
Spitze der Moskauer Freimaurer ^^) stand der aus Deutschland stammende 
Professor Schwarz, der sowohl durch seine moralphilosophischen Vor- 
lesungen über Spinoza und Rousseau als auch durch seine Vorträge über 
englische und deutsche Literatur im Sinne der „ Sentimentalität *' außer- 
ordentlichen Einfluß auf die jungen Studenten ausübte und sie, „ohne 
daß sie es recht merkten '% von der materialistischen Seite zu der Gefühls- 
philosophie Rousseaus hinüberzog. ' 

Mit ihm eng befreundet und sein Nachfolger in der Führung war 
der Deutschenfreund N. J. Nowikov (1744 — 18 18), ein Organisations- 
talent ersten Ranges. Der frühere Voltairianer und Ismailovsche Offizier, 
der die Palastrevolution für Katharina mitgemacht hatte, war, unbefriedigt 
in seinem Beruf und in seinem Voltairianismus, zu den Freimaurern über- 
gegangen und hatte sich dann, als er durch Schwarz Gewissensruhe ge- 
funden, ganz in ihren Dienst gestellt. Seine philanthropische Tätigkeit 
ist geradezu großartig in ihrer Art: er richtete Volksschulen, Kranken- 
häuser, Apotheken, Buchdruckereien ein. Er gründete literarische Ge- 
sellschaften („Gesellschaft der Freunde der Wissenschaft")» Zeitschriften, 
erst die freimaurerische „Das Morgenlicht*', dann satirische Blätter „Die 
Drohne" (1769) und „Die Maler" (1773). Breitingers „Diskurse der 
Maler" hatten ihm den Titel und Inhalt gegeben. Seine Bücher wie 
seine Zeitschriften propagieren die deutsche Geschmacksrichtung gegen- 
über dem französischen Pseudoklassizismus. Nowikov wurde auch Her- 
ausgeber der „Moskauer Nachrichten" ^ 7). 

Nowikov hat sich sehr große Verdienste um das leibliche wie das 
geistige Wohl des russischen Volkes erworben, was nicht hinderte oder 
was vielmehr dazu beitrug, daß er wegen „revolutionären Treibens" 
4V2 Jahre in Schlüsselburg strengste Kerkerhaft hatte. 

Von diesen beiden Männern aus ergoß sich ein Strom der Bildung 
unter die studierende Jugend wie überhaupt unter die Gebildeten. Mit 
ihnen verkehrten auf das engste der junge Karamsin, dann Kutusov, der 
Übersetzer des „Messias", Labsin, der Übersetzer von Jung-Stilling, 
J. Turgenjev,^ Lopuchin u. a. Ein sehr anschauliches Bild der 
bewegten freimaurerischen Zeit gibt Tolstoj in seinem „Krieg und 
Frieden". 



9 6 Achtes Kapitel 



Nowikov ist auch sonst für die russische Literatur ^®) von Bedeutung 
gewesen. £r ist der erste in Betracht kommende Bibliograph. Sein 
y, Versuch eines historischen Wörterbuchs über die russischen Schrift- 
steller" ist in Anbetracht des vor ihm existierenden wenig zuverlässigen 
Materials höchst anerkennenswert. Ähnliches will seine „Historische 
BibHothek". 

Die Moskauer Jugend rührte sich, wie gesagt. Zunächst lernte sie 
aber noch. So gehen denn einstweUen noch beide Richtungen neben- 
einander her. 

§ 24 I Französisch gerichtet sind die jetzt in die Erscheinung treten- 
den literarischen Zirkel, die Salons. Nach französischem Muster 
gebildet, kultivierten sie französische Sprache und Literatur, schlössen 
aber keineswegs das Deutsche aus. Ja, im Salon des Fürsten Lwov 
waren die tonangebenden Persönlichkeiten die Deutschenfreunde Djershawin 
und Chemnizer, und im Salon der Fürstin Daschkowa, der ersten, lang- 
jährigen Präsidentm der auf ihre Anregung 1783 gegründeten „Russischen 
Akademie", verkehrte sogar Radischtschev. Die Daschkowa war offen- 
bar eine kluge, gebildete Frau; daß sie aber Präsidentin der Akademie 
wurde, war eine Dankesabtragung vonseiten Katharinas, da sie durch ihre 
Koketterie den General Panin zur Beseitigung Peters geködert hatte. Sie 
gehörte ofifenbar zur französischen Gemeinde, sie machte neben russischen 
Versen gern französische. Aber bei Eröffnung der Akademie hob sie 
ostentativ hervor, daß sie sich als Präsidentin „unter den Schutz des 
blinden Vaters der Mathematik" Euler stelle. Sie schickte mit Vorliebe 
die jungen Studenten nach Göttingen, und mit Djershawin gründete sie 
die Zeitschrift „der Gesellschafter" (CoöeciÄHHKx). Als ihr Katharina 
„be&hl", ein Drama zu verfassen, schrieb sie zu Kotzebues ,, Armut und 
Edelsinn" eine Fortsetzung „Die Hochzeit des Fabian" oder „Die be- 
strafte Geldgier". ♦ 

Auf französischem Boden steht der als Dramatiker seiner Zeit sehr 
geschätzte Fonwi sin (1745 — 1792). Berühmt wurde er durch die beiden 
satirischen Lustspiele „DeY Brigadier" (1764) und „Der Unerwachsene" 
(1782) — gewöhnlich „Der Landjimker" betitelt. Beide Stücke geißeln 
die Sittenroheit, Unbildung und Scheinhelligkeit seiner Landsleute , ihre 
falsche Erziehung nach französischem Muster, und das Nachäffen 
französischer Sitten. Das läßt ihn zunächst nicht als Anhänger der Fran- 
zosen erscheinen, aber sein scharfes Auge und sein schärfer Verstand 
konnten unmöglich an diesen Gebrechen seiner Zeit vorbeigehen. Fran- 
zösisch ist doch sein ganzer Gedankenkreis; auch die Sprache läßt den 
FranzÖsling erkennen. Damit ist mm keineswegs gesagt, daß er das 
Deutsche nicht gekannt oder gar verachtet hätte. Er stammte von Deut- 
schen ab, vom alten Rittergeschlecht „von Wiesen", das zum Orden der 
Schwertbrüder gehört hatte ; er war auch deutsch erzogen — Reichel war 



Die franxösiscbe nnd die dentsche Richtung. — Die Freimanrerei. — Djenhawin 9 n 

sein Universitätslehrer in Moskau gewesen. Französischen Geist atmet 
offenbar sein satirisches Journal „Der Freund der ehrenwerten Leute'', 
aber in diesem ist z. B. der Briefwechsel zwischen dem Gutsbesitzer 
Durykin und Starodum, in dem es sich um die Wahl eines Lehrers für 
Gutsbesitzerkinder handelt, weiter nichts als eine Überarbeitung aus Rabe- 
ners satirischer Schrift ,, Schreiben eines vom Adel an einen Professor, 
in welchem einen guten Hofmeister zu wählen gebeten wird'' und ,, Ant- 
wort des Professors nebst zwo Taxen von einem geschickten und elf un- 
geschickten Hofmeistern". 

In französischer Richtung laufen auch die Tragödien uud Komödien 
Knjashnins (1742 — 1794). Seine besten Tragödien „Jaropolk 
und Wladimir" und ,,Wladissan" sind Kopien, die erstere von 
Racines „ Andromache ", die zweite von Voltaires „Mdrope". Ganze 
Szenen, ganze Akte sind einfach Übersetzungen. Man brauchte ihn des- 
halb gar nicht zu erwähnen, wenn die Stücke nicht doch einen Vorzug 
gegen die Vorzeit aufwiesen: ihre Sprache ist reiner, ihr Vers glatter. 
Aber sonst sind sie abgesehen von den Namen französisch, fem von der 
russischen Wirklichkeit, von der Wirklichkeit überhaupt; ebenso sind seine 
Komödien „Der Prahler", „Der Sonderling". 

Näher der Wirklichkeit, weil russische Leute und russische Verhält- 
nisse herausgreifend, steht Kapnist (1757 — ^^^3)- Seine Komödie 
„Ränke" (1798) geißelt die Bestechlichkeit und die Verleumdung, die 
im russischen Gericht herrschte. Die Anlage des Stückes ist jedoch 
französisch. Es rief übrigens die heftigste Erbitterung der Beamten her- 
vor und durfte lange nicht gegeben werden. 

Bei den Russen hatten sich mitlerweile alle Arten der Poesie ein- 
geführt; eine fehlte noch — das Epos. Bei allen übrigen Völkern hatte 
es seine Triumphe gefeiert, bei den Italienern Tassos „ Befreites Jerusalem ", 
bei den Engländern Miltons „Verlorenes Paradies", bei den Franzosen 
„ Die Henriade ", bei den Deutschen „ Der Messias ". Fehlte noch Ruß- 
land. Lomonossov hatte sich darin versucht, war aber in seinem „Peter 
der Große'' nicht über zwei Gesänge hinausgekommen. Cheras^kov 
O733 — 1807) wählte die „Rdssiade" (1779), die den Höhepunkt in der 
Geschichte Rußlands, die Eroberung Kasans durch Iwan IV., verherrlichen 
soll. Der Titel ist pompös gewählt, der Stoflf minimal. Was Cherasskov 
wollte? Seine Herrscherin Katharina 11. rückte die „östliche Frage" 
d. h. die Vertreibung der Türken aus Europa in den Vordergrund, und 
da wollte sich der Patriot und Christ empfehlen, indem er seine Kaiserin 
und ihre Pläne mit der großen Vergangenheit in Zusammenhang brachte. 
Sonderbar war ja, daß der Befreier vom tatarischen Joch gar nicht 
Iwan IV. gewesen, sondern 100 Jahre vorher Iwan UI. Trotzdem 
hat sich „ die Rossiade " in jener Zeit Ansehen erworben ; selbst Karamsin 
nennt sie ein hervorragendes Werk. Weshalb sie gefiel? Weil man da- 



9 g Achtes Kapitel 



mals den Bombast, das Gespreizte, das Fremde, kurz die ganze Unnatur 
des Pseudoklassizismus liebte, und pseudoklassisch ist sie ; Iwan IV. und 
seine Fürsten und seine Heerführer sind gar keine Russen, die Tataren 
keine Tataren, sondern griechische oder trojanische Helden oder fran- 
zösische Ritter. 

Cherasskov hat noch ein Epos „Wladimir ^' (17S5) geschrieben, das 
von Wladimir dem Großen, der das Christentum in Rußland eingeführt 
hat, handelt — es hat wenig Anklang gefunden, weil es den Grund- 
gedanken des Epos verletzt : es erzählt zu wenig, bringt zu wenige historische 
Ereignisse, bewegt sich dafür in allegorischen Betrachtungen. 

Cherasskov schrieb noch Oden, Anakreontika, Erzählungen nach 
französischem Vorbild. Er war jedoch keineswegs ein Deutschenhasser. 
Als Kurator der Moskauer Universität zog er die Deutschen heran; 
Schwarz und Nowikov waren durch ihn berufen. 

Einen durchschlagenden Erfolg hatte dagegen em anderes Epos 
„Duschenka'' von Hippolit Bogdanowitsch (1743 — 1803), nur eine 
Umarbeitung der Lafontaineschen „ Psyche *', jedoch auf russischen Boden 
versetzt. Aber wie der Franzose mit der alten Fabel des Apulejus seinen 
Erfolg dadurch erzielt hatte, daß er alles auf französischen Boden brachte 
tmd auf französische Verhältnisse übertrug, so ist „Duschenka** eine 
russische Märchenprinzessin, und russische Verhältnisse reden zu uns, und 
wenn wir nun noch hinzufügen, daß sein Vers sich frei macht von allen 
„Reguln", daß sein scherzender Ton ein natürlicher ist, daß die Bilder 
sich an unsere Phantasie und an unser Gefühl wenden, dann haben wir 
trotz der französischen Grundlage die deutsche Richtung. Vom heutigen 
Standpunkt aus mag sein Werk ja anmuten, als „tanze jemand Menuett 
in Bauemstiefeln 'S aber den Zeitgenossen gefielen die Verse mit ihren 
wechselnden Reimen und der wechselnden Silbenzahl, die Befreiung von 
Steifheit und Schwulst. 

§ 25 I Und damit sind wir zur Deutschrichtung gekommen. Von 
Bedeutung ist hier Chemnizer (i744[i745] — 1784), besonders als 
Fabeldichter. Chemnizer war von Geburt Deutscher ; seine Eltern stammten 
aus dem sächsichen Freiberg, in dem Lomonossov studiert hatte. Seine 
„Fabeln und Erzählungen" (1779) sind ein Muster von einfacher und 
natürlicher Sprache. Er ist ganz Geliert. Schon der Titel seines Buches 
ist dem Gellertschen nachgebildet, imd unter seinen 30 Fabeln sind 18 
direkt aus Geliert genommen, und von den übrigen lehnt sich auch noch 
ein Teil an ihn an; so ist sein „Bauer mit der Last" Gellerts „Rei- 
sende" und sein „Schlaukopf" Gellerts „Hans Nord". Einige klingen an 
Lafontaine an. Chemnizers Fabeln sind satirisch-lehrhaft. Die Satire trat 
damals sehr in den Vordergrund; es war eben trotz der katharineischen 
Tünche manches faul im Staate. 



Die französische und die deutsche Richtung. — Die Freimaurerei. — Djershawin ^g 

Die Fabel ist immer in Rußland eine sehr beliebte Dichtung ge- 
wesen. Elantjemir, Tredjakowskij, Ssumarokov, Lomonossov hatten Fabelo 
geschrieben. Auch W. J. Majkov (1725 — 1778), der sonst als Über- 
setzer von Friedrichs des Großen Gedichten bekannt ist, auch im komi- 
schen Epos mit etwas obszönem Einschlag nicht Unbedeutendes leistet, 
war ein guter Fabeldichter, ebenso J. J. Dmitrijev (1760 — 1837), der 
spätere Justizminister ; aber Chemnizer übertraf diese bei weitem durch seinen 
klaren, ungezwungenen, natürlichen, dem Volksdenken genau angepaßten 
Ausdruck. Nach ihm kam allerdings ein noch Größerer, Krylov. 

Chemnizer hat neben Fabeln- auch Festoden, Satiren, Epigramme ge- 
schrieben, ohne besonderen Wert. 

Chemnizers Fabeln waren beliebt wegen ihrer Satire. Kritik und 
Satire beherrschen, wie gesagt, diese ganze Zeit. Ntir mußten sie zahm 
sein; sonst traf der Blitzstrahl, wie er den alle diese Leute überragen- 
den Radischtschev traf. 

Radischtschev*^) (1750 — 1802) ist sehr berühmt, auch sehr be- 
dauernswert gewesen. Seine Berühmtheit brachte ihm sein Todesurteil 
ein, gnädigst ersetzt durch Verschickung nach Sibirien, der Transport 
natürlich in Ketten; und der Aufenthalt dort war für ihn so entsetzlich 
gewesen, daß er, als nach seiner Begnadigung durch Paul I. sein Vor- 
gesetzter ihm im Scherz mit einer abermaligen Verbannung nach Sibirien 
drohte, er sofort zum Gift und zum Rasiermesser griff. Er war einer 
von jenen jungen Leuten gewesen, die Katharina zum Studium nach Leipzig 
geschickt hatte; er hatte sich dort an Geliert und an den sehr beliebten 
Professor der Philosophie Plattner angeschlossen; Geliert legte er seine 
literarischen Versuche vor. Radischtschevs Aufsehen erregendes Werk, die 
Quelle seines Ruhms und seines Unglücks, war die 1790 erschienene „Reise 
von Petersburg nach Moskau ", dem Titel nach unverfänglich, dem Inhalt nach 
die schwerste Anklage gegen die russische Justiz, gegen die russische Regierung, 
gegen die vornehme Gesellschaft, gegen die verrotteten Zustände im ganzen 
Reich; auch die Leibeigenenfrage wird scharf angeschnitten, der Verkauf 
ganzer Bauemfamilien, das ius primae noctis der Herren usw. Man hat 
früher gesagt, wohl durch Puschkin falsch geleitet, Radischtschev habe 
seine Ansichten einerseits auf den Franzosen aufgebaut, andrerseits sei 
sein Werk, wie schon der Titel zeige, eine Nachbildung von Sternes 
„Sentimental Joumey*'. Diese äußere Anlehnung an Sterne stimmt aller- 
dings, aber eben nur die äußere, sonst hat die neuere Kritik gefunden, 
daß seine Äußerungen über Glaubensduldung, seine Verteidigung der 
Glaubensfreiheit, seine Auffassung vom Staatsgebilde, von wirklicher 
Kultur nur Widerspiegelungen der Gedanken Plattners waren. Und seine 
Äußerungen über die Zensur zeigen ein genaues Studium von Herders 
Forderungen betreffend die Freiheit des Druckwortes. Die Gräfin Dasch- 
kowa sah darin auch „Nachwirkungen** von Klopstock. 



AQ Achtes Kapitel 



Ebenso wie sein Hauptwerk aus deutschem Boden wächst, so 
beraht seine in Sibirien verfaßte Schrift „Über den Menschen, über seine 
Sterblichkeit und seine Unsterblichkeit '' neben Hinweisen auf Locke und 
Rousseau auf dem Studium Leibniz' und Mendelssohns. 

Böse Kritiker sehen wir auch in Radischtschevs Freundeskreis. Am 
nächsten stand ihm in Leipzig der junge Uschakov, der sich im Alter 
von 21 Jahren vergütete. Radischtschev gab seine Biographie heraus, 
die erste Biographie eines russischen Privatmannes. Kutusov hat er 
seine „ Reise " gewidmet Kutusov war ein glühender Verehrer deutscher 
Dichtkunst, vor allen Klopstocks, von dessen „ Messias *' er die ersten 
IG Gelänge übersetzt hat. Fürst Schtscherbatov^^) hat zahmer und 
etwas maskiert dasselbe Thema wie Radischtschev in seiner Schrift 
„Schädigung der Sitten in Rußland'* behandelt. Er bricht den Stab 
über die Sittenverderbnis zu Katharinas Zeit und lobt im Gegensatz dazu 
die Vergangenheit. Er ist auch der Verfasser einer umfangreichen Geschichte 
Rußlands, welche die Grundlage von Karamsins Werk' wurde. 

§ 26 I An der Spitze der Deutschrichtung steht, über allen, auch 
über den Franzosenanhängem, Djershawin ^^). Djershawin ist der be- 
deutendste Dichter Rußlands vor Puschkin; denn Karamsins Bedeutung 
liegt nur zum Teil auf poetischem Gebiet, er ist mehr Schriftsteller, mehr 
Kritiker. Und von den vorhergehenden übertrifit ihn vielleicht dieser 
oder jener auf diesem oder jenem Gebiet, wie Chemnizer in der Fabel. 
Alle jedoch haben immer nur ein Gebiet; Djershawin zeigt sich auf vielen 
als Meister. 

Djershawin (1743 — 1816) ist deutsch erzogen; allerdings war 
er nicht wie Lomonossov in Deutschland selber. Der Sohn eines Oren- 
burger Landedelmanns, wurde er im Hause erzogen und zwar — charak- 
teristisch für Rußland — durch einen zur Zwangsarbeit verschickten Deut- 
schen. Das Verdienst dieses Mannes ist groß, denn er machte den Knaben mit 
Hauer, Hagedom, Geliert, Kleist, Klopstock bekannt und schuf so Eindrücke, 
die der Maßstab der ganzen dichterischen Laufbahn Djershawins geworden 
sind. Er beschäftigte sich mit diesen Dichtem noch mehr, als er nach Ssaratov 
in die große Deutschenkolonie als Offizier zur Unterdrückung des Puga- 
tschowschen Aufstandes kommandiert war. Im Sinne dieser Vorbilder 
ist Djershawins ganze Dichtung aufzufassen; ihnen ist er treugeblieben, 
auch* im Alter, obwohl sein langes Leben ihn auch mit Goethe und 
Schiller bekannt werden ließ. Djershawin war ein gebildeter Mann — er 
' war Gouvemeur, dann Senator und Präsident des Kammerkollegiums und 
schließlich Justizminister — ; er konnte natürlich auch französisch und 
englisch ; er hat sich eingehend mit Sterne, mit Ossian beschäftigt. Aber 
sein Herz blieb bei den Deutschen. 

Er hat früh mit Dichten begonnen, mit Scherzgedichten, Madrigalen, 
Epigrammen, sich zunächst aber auf Übersetzungen beschränkt. Er 



Die französische and die deutsche Richtong. — Die Freimaurerei. — Djershawin j,i 

übertrug einen Teil von Klopstocks „Messias*^, you Fdnelons „T^l^- 
maque'S von Friedriefe des Großen Oden „Oden tibersetzt und verfafit 
am Tschitalagaj-Berg '* (1776 — sie stammen aus seiner Kommandozeit 
an der Wolga; der Tschitalagaj-Berg liegt bei Ssaratov). Die beiden 
ersten Übersetzungen sind verloren gegangen; sie existierten nur hand- 
schriftlich — auch jetzt nimmt die handschrifUiche Literatur, aus poli-> 
tischen Gründen, noch einen großen Raum ein. 

Das erste selbständige Werk ist die große Ode „Feliza** (1782), eine 
Verherrlichung Katharinas. (Katharina hatte in ihrem Märchen vom 
Prinzen Chlor die gütige Fee, die dem Prinzen die Rose ohne Domen 
suchen hilft, Feliza genannt.) Sie hatte Erfolg, den größten natürlich 
bei der Verherrlichten, die daraufhin die „Akademie der Künste*' ins> 
Leben rief und die Fürsten Daschkowa veranlaßte, eine besondere Zeit- 
schrift „den Gesellschafter der Freunde der russischen Literatur" zur 
Pflege der Literatur zu gründen. 

Hatte schon „Feliza" großes Aufsehen erregt, so tat dies noch mehr 
seine Ode „An Gott** (r784). Mit ihr wurde eigentlich sein Dichter- 
ruhm für sein ganzes Leben gesichert. Und gerade auf diesen Gedichten 
baut sich der Vorwurf auf, er arbeite ganz im Schwulst Lomonossovs. 
Das triflt jedoch nur zum Teil zu ; es ist manches Schwülstige, Gespreizte, 
Hochtrabende vorhanden, da ist er der Schüler Lomonossovs. Aber 
er hat noch einen anderen Ton: Djershawin ist Rußlands Klopstock. 
Der ernste, gravitätische, feierliche, heilige Ton von Klopstocks „Messias**, 
von dem er ja Teile, übersetzt hatte, der religiös-erhabene Schwung dieser 
Sprache war ihm eigen geworden. Das ist etwas anderes als der Prunk 
und der Schwulst in Worten; bei ihm handelt es sich um Gedanken, um 
Empfindungen, um naturwahre Bilder. Alle seme Lieblingsdichter haben 
dieses Thema behandelt — es war eben Zeitthema — Klopstock in 
seiner Ode „An Gott**, Haller in seiner „Ewigkeit**, Hagedom in seinen 
„Gedanken über einige göttliche Eigenschaften**, Geliert im „Lob des 
Schöpfers'*, Kleist, Herder in „Gott**, und so fem diese Dichter von 
Opitz stehen, so fem ist Djershawin von Ronsard und Lomonossov. Auf 
der anderen Seite hat man ihn einfach als Plagiator dieser hingestellt; 
das tut gewissermaßen noch sein sonst so verdienter Herausgeber Grot. 
Das ist auch verfehlt : natürlich werden bei einem solchen Thema manche 
Gedanken, auch gewisse Wendungen imd Ausdrücke wiederkehren, und man 
kann da wohl von Einwirkungen, sprechen, aber das ist weit von 
sklavischer Nachahmung. 

Djershawin war Hofdichter; man hat ihn oft den „Sänger Katha- 
rinas** genannt, ihn wegen „Feliza**, wegen seines „Traumes eines 
Mursen** (1783 — Djershawin hielt sich für den Abkömmling emes 
Mursen, Fürsten, aus der Goldenen Horde), gleichfalls einer Verherrlichung 
Katharinas, und wegen mancher Gelegenheitsgedichte, die er als Hof- 



^2 Achtes Kapitel 



dichter zu Hoffestlichkeiten zu verfassen hatte, der Schweifwedelei ge- 
ziehen. Wir Deutschen neigen gern dieser Auffassung zu, indem wir an 
unsere „Hofdichter", die Canitz, König, Besser, denken. Was uns aber 
diese so widerwärtig macht, ihre Lüsternheit und Gemeinheit, das fehlt 
bei Djershawin, und Hofdichter und Hofdichter ist ein Unterschied — 
Lomonossov war sogar ein „Grobianus", und bei Djershawin ist doch 
sonst nichts Lakaienhaftes; warum sollte also das Lob, das er seiner 
Herrscherin spendet, nicht auch innere Überzeugung sein können? Auch 
Moli^re ist Hofdichter gewesen. 

Das Gelegenheitsgedicht nimmt bei Djershawin einen weiten Raum 
ein. Wie tief empfunden ist da seine Ode „An Sappho^S in der 
er seinen Schmerz über den Tod seiner ersten Gattin ausdrückt! 
Sicher hat er das aus gleichem Anlaß niedergeschriebene Gedicht Hallers 
gekannt und ist auch vielleicht dadurch inspiriert worden, aber gemein- 
sam haben beide Gedichte nur das Ereignis und einzelne damit natur- 
notwendig zusammenlaufende Gedanken. * 

Zur ersten Periode von Djershawins Dichtkunst, der feierlichen 
nach Klopstocks Muster, zählen seine naturbeschreibenden Gedichte: er 
ist für Rußland der Schöpfer der Naturbeschreibung, des 
Idylls geworden. Zu diesen rechnet vor allen sein „Wasserfall" (17 91). 
Als er Gouverneur von Olonjez (Firiland) war, hatte er dort den mächtigen 
Wasserfall Kiwatsch, der heute jährlich von vielen Tausenden angestaunt 
wird, besucht und bewundert. Auch Lomonossov hat sich in der Natur- 
beschreibung versucht; aber wie arm, wie empfindungslos nimmt sich 
seine Poesie der Djershawins gegenüber aus! Die Wucht, die Majestät 
des Falles steht anschaulich vor unsem Augen, dröhnt in unser Ohr; 
andrerseits spüren wir mit ihm die Stille des umgebenden Urwaldes, sehen 
wir den Beherrscher dieser wilden Einsamkeit, den schleichenden, rauben- 
den Wolf, die flüchtige Hirschkuh. Freilich stören die vielen Reflexionen; 
der ewige Lauf des Wassers muß zu einem langen Vergleich mit dem 
Lauf des Lebens herhalten. Auch stört die Länge des Gedichts über- 
haupt. Aber wenn wir dieses ausscheiden, dann steht doch ein wirk- 
liches Idyll vor uns, das erste in Rußland. 

Schöne Naturbilder bieten auch sein „ Spaziergang in Zarskoje Ssjelo ", 
„An die Muse", „Die Wiederkehr des Frühlings", „Auf den Übergang 
über die Alpen" (gemeint ist Ssuworovs Übergang über den St. Gott- 
hard); „Das Haus der Dobrada"**) (Dobrada ist eine gütige Fee) u. a. 
Bei manchen hat ihm, nach eigenem Geständnis, Geßner vorgeschwebt, 
auch Klopstock, auch Ossian. 

Das war der jüngere Djershawin ; dem älteren öffnete das Leben die 
Augen, daß er über der philosophierenden „schweren" Dichtkunst 
Hallers — er hatte ihr übrigens auch im „geistlichen Lied" seinen Tribut 
gezollt — , die leichte Hagedoms ganz übersehen odpr sie nicht genügend 



f 



Die französische and die deutsche Richtang. — Die Freimaarerei. — Djershawia a2 

verstanden hatte. Der ältere suchte sich aus den Kümmernissen dieser 
Welt, dem Verdruß und den Mißhelligkeiten herauszuretten und fand Er- 
holung in der frischen, leichten Poesie der deutschen Anakreontiker. Und 
verwandt mit der Anakreontik Hagedoms war die scherzende, witzige 
Art der Fabel Gellerts. In Deutschland hatte Geliert eine Legion von 
Fabeldichtern heraufbeschworen; in Rußland war sie, wie wir schon ge- 
sehen, nicht weniger beliebt. Djershawin hatte schon ein paar Fabeln 
in der Jugend geschrieben; kultiviert hat er sie erst in den späteren 
Jahren. Noch 1810 und 181 1 sammelte er alle wieder und brachte 
sie mit manchen Verbesserungen heraus. Sie zeichnen sich durch eine 
leichte, gefällige Sprache, durch Witz, Laune, Ungezwungenheit aus. Zum 
Teil sind sie stark politisch-satirisch gehalten, gegen Alexander, gegen 
die Minister, selbst gegen Araktschejev. Djershawin hat Humor: so ent- 
scheidet er sich in der Fabel „Der Tod und der Greis" nicht für den 
Schluß, den Äsop, Lafontaine ihr geben, wo der Alte auf die Frage des 
Todes, was er denn jetzt tun solle, antwortet, „er möge ihm doch beim 
Aufheben der Last helfen", sondern er schließt mit Hagedoms Wen- 
dung „Freund, geht zu meinem Nachbar hin!" 

Der Kult Anakreons in Rußland ist durch Djershawin gekommen. 
Es hatten schon vor ihm Lomonossov, Ssumarokov, Kantjemir anakreon- 
tische Gedichtie geschrieben, es waren Versreimereien gewesen. Der 
erste wirkliche Anakreontiker in Rußland war Djershawin. Angeregt 
war er durch zwei 1794 erschienene Bücher, durch „die Nachahmung 
des Alten" von seinem Amtskollegen in Petrosawodsk N. Em in und 
durch Lwovs Ausgabe des „Anakreon". Neben diesen Büchern holte er 
sich aber Rat bei seinen deutschen Freunden. Manche Gedichte seiner 
ersten Sammlung (1794) klingen an Herder an („Herkules"; seine 
„Fesseln" an „Hellas Veilchen"), auch an Goethe („An Lisa" ist das 
„Heideröslein" ; „Die Grille" ist Goethes „An die Zikade"). Ein Teil 
seiner Anakreontika ist recht derb, wie bei unsem Anakreontikem. Aber 
wie wir wissen, daß bei unsem Dichtern ein großer Unterschied zwischen 
der grünen Theorie und der Wirklichkeit war, daß sie sich oft in Wein 
und Liebe berauschten in — Worten, so darf man nicht etwa auf einen 
lockeren' Lebenswandel in seinen alten Tagen schließen. Auch der 
fromme Geliert hat die „Schwedische Gräfin" geschrieben. Man kommt 
wohl am ehesten mit der Antwort Jean Baptiste Rousseaus auf die Frage, 
wie er zugleich so fromme Oden und so frivole Lieder habe schreiben 
können, fort, „er habe sich bei beiden nichts gedacht". 

Die ganze Anakreontik ist etwas spielerisch, im Inhalt wie in der 
Form. Wenn z. B. Ramler einer Ode auf einen Granatapfel auch die 
äußere Form eines Granatapfels zu geben versuchte , so sehen wir das- 
selbe in Djershawins „Pyramide", und wenn er bei einer andern Ode 
stolz bemerkt, er habe in der ganzen Strophe den Buchstaben r vermie- 



AA Neuntes Kapitel 



deO) so gehören derartige Spielereien zum Wesen der Anakreontik. Da6 
selbst die größten Geister an solchen Kleinigkeiten Gefallen fanden, zeigt 
Goethe mit dem Wort „Käse" in den „Geschwistern". 

Es ist ein paarmal der Name Goethes erwähnt worden. Djersha- 
win war ein Zeitgen6sse Goetbes und Schillers. Aber er hat zu ihnen 
wenig Beziehungen gehabt, eigentlich keine. Wem so der tändelnde Geist 
der Anakreontik ins Blut überging, wer so in seinen jungen Jahren für 
das Pathos, die Feiertagsstimmung EUopstocks geschaffen war, der konnte 
unmöglich Verständnis für die tiefe Innerlichkeit des einfachen Menschen- 
herzens finden. Djershawin hat sich an ein paar Dichtungen Goethes 
und Schillers versucht, in Übersetzungen, aber dabei ist es geblieben. 
Über Schiller hat er sich geäußert: „Schiller hat offenbar viel Verstand, 
viel Wissen, auch viele schöne Verse ; aber kommt es daher, daß in ihm 
kein Pindarsches Feuer ist, das packt und mit sich reißt, oder daß er 
nicht den süßen Nektar des Horaz hat, ich las kein einziges Dichtwerk 
von ihm ohne Langeweile", und sich gewissermaßen über sich selbst 
wtmdemd, fügt er hinzu: „So verschieden und seltsam ist der Geschmack". 
Wir sagen das letztere auch. 

Djershawin mußte auf Befehl Katharinas ein paar Dramen schreiben ^^) ; 
sie hatte es ja auch andern befohlen. Er hat damit wenig Glück ge- 
habt. Sie sind aber nicht so schlecht, bicher nicht seine Tragödie 
„Herodes und Mariamne". Sie ist, wie alle Tragödien bis zu dieser 
Zeit, nach französischem Muster geschrieben; aber der Dichter wie der 
Denker rütteln schon etwas an der Theorie: Djershawin sagt ausdrück- 
lich, daß er die Personen nicht aus der Phantasie, sondern aus der 
Geschichte geschaffen hat. Das ist schon ein Schritt an Shake- 
speare heran. 

Djershawins Verdienst liegt auf lyrischem Gebiete, und da ist 
er der erste russische Dichter, denn er reimt nicht nur, er arbeitet 
nicht nur mit dein Verstände, sondern er verfügt auch über Phantasie, 
über schöne, starke, dichterische Phantasie *®). 

Neuntes Kapitel 
Karamsin 

§ 27 I Wenn man Lomonossov den ersten russischen Gelehrten 
nennen kann, so ist Karamsin der erste russische Literat. Mit 
der Literatur hatte sich vor ihm schon dieser imd jener beschäftigt, da 
^ war es aber etwas Nebensächliches gewesen, ein Zeitvertreib. Mit Karam- 
sin wird sie Beruf. Als Literaten lagen ihm die Sprache wie ihre 
Schöpfungen gleichviel am Herzen; er ist in beiden der Reformator 
Rußlands geworden. Kommt noch ein drittes Gebiet hinzu, sozusagen 
ein Spezialgebiet: Karamsins Bedeutung als Historiker. 



Karamsin 



45 



Lomonossov hatte die russische Sprache von den Slawenismen be- 
freit und die russische Volkssprache gefordert. Daraus hatte sich etwas 
Sonderbares entwickelt: man gebrauchte die Volkssprache, Sobald es sich 
um gewöhnliche, alltägliche Gefühle und Gedanken handelte; «erhoben 
sich diese über die Alltäglichkeit, so glaubte man auch ^ von der Alltags- 
sprache Abstand nehmen zu müssen und kehrte zu der feierlichen alten 
Sprache der Bibel zurück. Ein schl^endes Beispiel dafür ist Fonwisin. 
Fonwisin in seinen Komödien, Satiren und Briefen ist ein anderer als 
Fonwisin in seinen Übersetzungen aus dem Französischen ; in den ersteren 
schreibt er russisch, in den Übersetzungen ist die Sprache eine gemischte, 
sein Stil unnatürlich, schwülstig. Karamsin hat nun gelehrt und in seinen 
Schriften durchgeführt, stilistisch und lexikalisch, daß die Schriftsprache 
die der mündlichen Rede, d. h. der Rede des Gebildeten sein muß: 
einfach und zugleich leicht, gefallig, fließend. 

Mit Karamsin tritt zugleich eine bedeutende Wendung in der rus- 
sischen Literatur ein. Es hatte zwei Richtungen gegeben : die deutsche und 
mehr im Vordergrund die französische. Mit Karamsin beginnt der Kampf 
gegen den französischen Pseudoklassizismus , gegen die raison Voltaires, 
und die Franzosen verlieren ihre überragende Macht. An die Stelle 
tritt die Empfindung, der Sentimentalismus. Der Sentimentalismus ist ein- 
geführt durch Karamsins ,, Briefe eines russischen Reisenden '* und seine 
Romane, beide aus deutscher Anregung hervorgegangen, aus deutschem 
Geiste geboren. 

Karamsin (1766— -1826) ist wohl von allen russischen Schrift- 
stellern der deutscheste gewesen. Der Vater, ein Landedelmann im 
Gouvernement Ssimbirsk, hatte dem Kinde einen deutschen Erzieher ge- 
geben, ihn dann in Moskau in eine deutsche Pension geschickt. Als 
Moskauer Student hörte er hauptsächlich deutsche Vorlesungen, philo- 
sophische über Geliert, literarische über Gottsched, verkehrte er in den 
deutschgesinnten Freimaurerkreisen, schloß er mit dem „Stürmer und 
Dränger" Lenz einen Freundschaftsbund. Er sprach und schrieb aus- 
gezeichnet deutsch. ,,Ich lese nicht viel in meiner Muttersprache, Wir 
sind noch arm an Schriftstellern." Er war außerordentlich vertraut mit 
Geliert, mit Geßner, Haller, Kleist; unter den Zeitgenossen liebte er den 
„Zürcher Propheten, den großen Mann und Christen" Lavater, und 
Lenz wies ihn auf Kant, Wieland, Herder, Schiller — nicht auf Goethe ; 
die verletzte Eitelkeit gestattete das Lenz nicht. 

Auf Lenz* *'') Zureden und mit der von ihm ausgearbeiteten Reiseroute 
machte sich Karamsin 1789 auf den Weg imd schrieb seine „Briefe 
eines russischen Reisenden" *®). Er reiste in Deutschland, in der Schweiz, 
in Frankreich, England. Seine „Briefe" sind ein Lobgesang auf Deutschlands 
Geistesheroen; selbst als er in Paris weilt und dort den ganzen Tag über fran- 
zösische Kunst und Literatur in sich geschlürft hat, liest er abends Schiller. 



a6 Neuntes Kapitel 



Karamsin ist ein Jünger von Deutschlands „Sturm 'S d. h. der einen 
Seite des Sturms, der sentimentalen, empfindsamen. Damit stimmt sehr 
wohl überein, daß der junge Karamsin, also der Schreiber der „Briefe", 
für Geßner, flir Bodmer, für Haller schwärmt, und als bei seinem Aufent- 
halt in Weimar Herder ihn fragt, wen er denn von den deutschen Dichtem 
am meisten liebe, er antwortet: „Klopstock*'. Die empfindsame Rich- 
tung des „Sturms" stand auf der Seite dieser — man denke an den 
Maler Müller oder an Joh. Heim ich Voß, die ihre Idyllen auf Geßner 
aufbauten. Die empfindsame Richtung des „Sturms" schwärmt auch für 
die Engländer Sterne, Young, Thomson, Milton, für Fingal, Ossian, vor 
allen aber für Goethes „Werther". Für sie schwärmt gleichfalls Karam- 
sin. Der „Sturm" hat als Ideal Rousseau, weil dieser fort will vom 
Treiben der Welt in den Schoß der Natur. So Karamsin. 

Karamsin hat nun etwa kein Verständnis für den Sturm im „Sturm". 
Den Stürmer Schiller, nicht den späteren abgeklärten Schiller, liebt er. 
Bei der Lektüre von „Fiesko" schreibt er in seinen „Briefen": „Welche 
Kraft in den Gefühlen! Welche Malerei in der Sprache! Fiesko hat 
stärker auf mich gewirkt als ,Don Carlos', obgleich ich diesen auf dem 
Theater sah und obgleich ihm die Kritik den Vorzug gibt." Und, wie 
gesagt, in Paris erholt er sich des Nachts, wenn er Corneille und Racine 
gesehen hat, an Schillers Jugenddramen. 

Damit ist auch seine Stellung zu den Franzosen, zum französischen 
Pseudoklassizismus gekennzeichnet. „Die französische Tragödie ist er- 
haben, edel, majestätisch, aber nie rührt sie, nie erschüttert sie mein 
Herz wie die Muse Shakespeares tmd einiger, nicht vieler Deutschen. 
Die französischen Dichter haben einen feinen, zarten Geschmack, und in 
der Kunst zu schreiben können sie als Vorbüd dienen. Nur in der Er- 
findung, Wärme, im tiefen Naturgefühl — verzeiht mir, geheiligte Schatten 
Comeilles, Racines, Voltaires — müßt ihr den Engländern und den 
Deutschen nachstehen. Eure Tragödien sind voll von schönen Bildern, 
in denen sehr geschickt Farbe zu Farbe, Schatten zu Schatten getan ist; 
aber ich bewundere sie zum großen Teil mit kaltem Herzen. Überall 
mischt sich das Natürliche mit dem Romanhaften, überall mes feux, ma 
foi, überall Griechen und Römer ä la frangaise, die in verliebtem Ent- 
zücken verschmelzen, bisweilen philosophieren und einen einzigen Ge- 
danken in langen Tiraden ausspinnen und sich in dem Labyrinthe der 
Beredsamkeit verlieren und zu handeln vergessen." Das ist ja alles das, 
was Lessing und nach ihm die Stürmer angriffen, und weswegen sie ge- 
rade Shakespeare zum Vorbild nahmen — wie Karamsin. Karam- 
sins Begeisterung für Shakespeare setzte sich in* die Tat um durch seine 
Übersetzung von „Julius Cäsar" (1787), dem beliebtesten Stück der 
„Stürmer" — in der Vorrede greift er den „großen Sophisten" Vol- 
taire als den obersten Vertreter des französischen Rationalismus sehr 



Karamsin 



47 



scharf an. Sein Interesse für Lessing schuf die Übersetzung von „Emilia 
Galotti". 

Der sentimentale Gedanke des „ Sturms *' ist das Vorwiegende in 
Karamsins Stimmung. Der läßt ims auch seine Wertschätzung von Ifif- 
lands Familienbildem und seine Achtung vor Kotzebue erklären. Wir 
dürfen ihn deshalb nicht als blinden Bewunderer Deutschlands einschätzen; 
er hat häufig ein scharfes Urteil über unsere Schwächen gefällt. Andrer- 
seits ist es auch Zeit, unsere Meinungen über Ififland und Kotzebue etwas 
zu revidieren, sie zu betrachten, ohne daß man Goethe und Schiller als 
Gradmesser nimmt. Der Anfang dazu ist jetzt endlich beim loo. Todes- 
tag Kotzebues gemacht *^). 

Auch seine Verehrung für Wieland — Karamsin hat mit scharfem 
Auge Wielands größtes Verdienst sofort erkannt, seine komischen Er- 
zählungen, durch die wir ja in Deutschland eigentlich erst einen Roman 
haben — spricht nicht gegen sein Bekennen zum „Sturm*'; einer der 
bedeutendsten, vielleicht der „schlimmste** Stürmer Wilhelm Heinse war 
ein Schüler Wielands und Verehrer des klassischen Altertums. 

Den besten Beweis für seine Zugehörigkeit zum sentimentalen „Sturm** 
geben seine Romane, worüber besonders zu sprechen sein wird (§ 29). 

Es ist noch ein häufig auftretender Irrtum zu beseitigen, seme 
„Briefe** seien durch Sternes „Sentimental Journey** veranlaßt worden. 
Natürlich wird er hieran auch gedacht haben ; aber ehe er Sterne kannte, 
hatte ihm schon Lavater angeraten, ein „Tagebuch** anzulegen, und den- 
selben Gedanken hatte er bei Nicolai, der in den Moskauer Freimaurer- 
kreisen sehr bekannt und beliebt war, in dessen „Beschreibung einer 
Reise durch Deutschland** ausgeführt gesehen. Und nicht nur der 
äußere Rahmen ist deutschen Ursprungs, auch viele Betrachtungen Karam- 
sins sind direkt aus deutschen Werken entnommen, so die Betrachtungen 
über Berlin und Potsdam aus Nicolais „Berlin und Potsdam**, die Be- 
trachtungen über englische Sitten und Gebräuche teils aus Moriz' „Reisen 
eines Deutschen in England**, teils aus dem unmittelbar vor seiner Reise 
(1787) erschienenen „England und Italien** von J. W. Archenholz. 

Karamsins Beruf nach seiner Rückkehr von der Reise war der des 
Kritikers; als Dichter nimmt er eine untergeordnetere Position ein. 
Zur Verfechtung und zur Förderung der von ihm in den „Briefen** nie- 
dergelegten Ansichten ist er außerordentlich tätig gewesen. Er gab von 
1791 bis 1801 eine Reihe von Zeitschriften heraus ^ 7)^ „das Moskauer 
Journal**, „die Aglaja**, „die Aonidyj**, das „Ausländische Pantheon**, 
„das Pantheon russischer Autoren**. 

Nach 1801 wandte er sich, mitbestimmt durch die Schreckensherr- 
schaft der Zensur — das Schicksal seines Freundes Nowikov stand ihm 
ja lebhaft genug vor Augen — , der Geschichte zu, und damit sind wir 
zu dem dritten Gebiete gelangt, auf dem seine Bedeutung liegt. 



A^ Zehntes Kapitel 



Man hatte im i8. Jahrhundert in Rußland historische Denkmäler 
herausgegeben, aber nachlässig, voll Fehler, und ohne jede Kritik. Das- 
selbe betrifit das geographische Gebiet. Tatischtschev und Schtscherbatov 
hatten in ihren russischen Geschichten schon gewissenhafter gearbeitet; 
aber von pragmatischer Forschung ündet man auch bei ihnen nur wenig. 
Die findet man zuerst bei Schlözer, der jedoch die russische Geschichte 
natürlich vom deutschen Standpunkt aus ansah. Diese Mängel will 
Karamsins „Geschichte des russischen Staates^' (ii Bde.; der letzte von 
Bludov, 1816 — 1829) beseitigen. Das ganze Werk zeigt den Schüler 
Plattners; der Gesichtspunkt, unter dem er alle Handlungen sieht, ist der 
des Moralischen, verbunden mit Patriotismus ^^). 

Karamsin wurde 1803 ^^^^^ Reichshistoriographen ernannt. Er 
starb 1826. 

Zehntes Kapitel 
Der russische Roman. — Die Karamsinisten 

§ 28 I Karamsins „Lisa" war der erste russische Roman, 
in dem Sinne wie wir in Deutschland in Wieland den ersten Roman- 
schriftsteller haben. Abenteuererzählungen, Märchengeschichten und derlei 
gibt es natürlich viel früher. Man wird aber auch ihnen etwas Aufmerk- 
samkeit entgegenbringen müssen, bieten sie tms doch oft ein Bild der 
Zustände wie der Denkweise jener Zeiten. Darin liegt eben die große 
Bedeutung des Romans, die er besser erfüllen kann als die übrigen 
Zweige der Literatur, und deshalb verdient er in unseren Literaturgeschichten 
eigentlich mehr Raum und 'Pflege als ihm gewöhnlich zugestanden wird. 

Spuren von Romanen ^^) hat schon das t6. Jahrhundert. Die 
Legendenerzählungen reichen noch weiter zurück, wie sie andrerseits 
sich auch noch lange über das 16. Jahrhimdert hinaus nicht bloß er- 
halten haben, sondern herrschend geblieben sind. Neben den geist- 
lichen Stoffen finden sich Sagen- und Märchengeschichten, gern mit 
erotischem Einschlag: „Das Buch von der Melusine", „Die schöne 
Magelone und ihr treuer Ritter"; dann aus den chansons de geste Iweins 
Abenteuer, aber den Weg über Deutschland verratend, mit dem Titel: 
„Der braunschweigische Königssohn mit seinem Löwen". Alle diese 
Romane kommen durch Vermittlung Polens, bezog doch Rußland damals 
seine ganze Wissenschaft aus Polen. 

Mit derlei Lektüre begnügte sich das selbstverständlich kleine Lese- 
publikum während des 16. und des 17. Jahrhuriderts bis zu Peters Zeit. 
Jetzt erweiterte sich der Lese- und Leserkreis. Wir kennen die Namen 
von 100 Romanen, die, immer handschriftlich, ein größeres Publikum 
anzogen. Mit dem Druck wird die Zahl noch größer: „Die Geschichte 
von der Eroberung Trojas", „Die Eroberung Jerusalems", Geschichten 



i 



Der rassische Roman. — Die Karamsioisten 



49 



von Alexander dem Großen, Reisebeschreibungen, Übersetzungen von 
Äsops Fabeln, von Ovids Metamorphosen, von Fdnelon, Lesage, Voltaire. 

Nach diesen die Deutschen: Gellerts „Schwedische Gräfin" 
(1766) und die beißenden Satiren des damals neben Geliert populärsten 
Schriftstellers Deutschlands, des Humoristen Rabener: „Lebenslauf eines 
Wahrheitsmärtyrers", „Lobschrift auf Amouretten, ein Schoßhtindchen", 
„Auszug aus der Chronik des Dörfleins Querlequitsch". Femer werden 
übersetzt die bis in Goethes Jugendzeit hinein vom Publikum verschlungene 
„Banise" von Anshelm von Ziegler, und aus der „Bibliothek deutscher 
Romane" (1780) die alten Stoffe vom Schwarzktin^tier Faust, von den 
lustigen und drolligen Lalenburgem, von Eulenspiegel, von Robinson, von 
Tausend und eine Nacht usw. 

In den siebziger und achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts kommt 
dann Gehaltvolleres, von Geßner, Haller, Wieland. Des letzteren „Glicerion" 
(„Menander und Glycerion"), sein „Oberon", sein „Agathon", die von 
ihm herausgegebene „Geschichte des Fräuleins von Stemheim" von 
Sophie von Laroche wurden verschlungen. Natürlich wird auch Voltaire 
gelesen. Es ist mittlerweile eine Flut von fremden Romanen über Ruß- 
land hereingebrochen. 

Daß da auch die Russen erwachten und ihr Können zeigen wollten, 
kann nicht wundernehmen. Komarov schrieb 1775 seine „Umständ- 
liche und wahrhaftige Geschichte von dem berühmten Dieb und Gauner 
Wzuika Kain", einem Cartouche, und das Publikum war hypnotisiert von so 
viel Grausigschönem. Er schürfte weiter in recht realistischer Weise in 
den Tiefen der Menschheit mit seinem „Unglücklichen Nikanor". Auf 
ähnlichem Boden bewegte sich Em ins „Abenteuer Miramonds". Auch 
Chjerasskovs politische Erziehungsromane müssen wohl erwähnt werden f 
sein „Numa" (1768) tritt für die Monarchie ein und sein „Polidor" 
(1794) eifert gegen die Revolutionsfranzosen. 

§ 29 I 1781 erschienen „Die Leiden des jungen Werther". Karam- 
sin war noch ein Knabe. Auch später, als er in Weimar war und mehr- 
fach Herder und Wieland besuchte und mit ihnen lange Gespräche führte, 
hören wir von seinem Interesse für Goethe kaum ein Wörtchen. Er 
wollte ihm allerdings auch einen Besuch abstatten; als er aber erfahrt, 
daß Goethe eben nach Jena abgefahren ist, kein Wort des Bedauerns. 
Woher das kommt? * Er hatte von Goethe fast nichts gehört. Und wo- 
her das kommt? Wahrscheinlich hatte sich sein Freund Lenz, der ihm 
wohl viel über die anderen deutschen Geistesgrößen berichtet und ihn 
für sie begeistert hatte, in Erinnerung an die Sesenheimer und Weimarer 
Blamagen über ihn ausgeschwiegen. Dies Versäumnis hat nun Karamsin 
gründlich nachgeholt. 

Goethes „Werther" hat in Rußland sehr großes Aufsehen erregt. 
Es haben auch Rousseaus „Hdloise" und Richardsons „Pamela" ahn- 

Friedrichs, Russische Literaturgeschichte 4 



5o Zehntes Kapitel 



lieh gewirkt; aber beide Werke haben nur zwei Auflagen, „Werther'' da- 
gegen von 1781 — 1798 vier gehabt. 

Nachdem Karamsin den „Werther'' gelesen, wurde er Feuer und 
Flamme fflr den Dichter — er ist wohl einer der ersten gewesen, die 
das literarische Band zwischen ihm und Rousseans „Neuer Hdoise" er- 
kannten — und zollte ihm nun seinen Tribut durch zwei ganz in diesem 
Geleise laufende Romane. 

Karamsins „Arme Lisa" (1793) ist auf „Werther" aufgebaut Die 
ganze Stimmung des Romans und die Lösung des Konflikts sind Werthe- 
risch. Die Lösung , daß . Lisa sich ertränkt , also Selbstmord übt wie 
Werther, war vollkommen neu im russischen Roman; bis dahin hatten 
alle mit versöhnlichem Ausgang geschlossen. Die „Arme Lisa" ist als 
Spiegel imd als Gradmesser der russischen Seelen- und Gedankenstim- 
mung jener Zeit außerordentlich wertvoll. Sie hat volle 25 Jahre, bis 
Shukowskijs „Ljudmila" erschien, die literarische Welt beherrscht. Sie 
ist der erste russische „Seelenroman"; mit ihr beginnt über- 
haupt die Zeitrechnung eines selbständigen Romans für Rußland. 
Goethes „Werther" ist ja der empfindsamste aller empfindsamen Romane — 
hübsch sagt Frau von Stael, er habe mehr Selbstmorde hervorgerufen 
als die schönste Frau der Welt — , aber er hat zugleich etwas, das ihn 
über die Empfindsamkeit hinaushebt: er ist voll von gesundem, kraft- 
strotzendem Leben, und ^ias fehlt der „Armen Lisa"; sie ist nur 
empfindsam. 

Ebenso sind in Karamsins Roman „Natalie, die Bojarentochter" 
und in dem unvollendeten „Liodor" die Helden Wertherische Gestalten 
durch ihre Sentimentalität, ihre Neigung zur Melancholie, durch ihre Liebe 
zur Natur. Auch Ossian spielt hier hinein wie in „Werther". 

Karamsin hat sich auch im historischen Roman versucht. Seine 
„Marfa Possadniza" ^^) feiert die kühne Verteidigerin von Nowgorods repu- 
blikanischer Freiheit gegen einen Wojewoden Iwans. Hierin steht er 
unter dem Einfluß Scotts. 

„Werther" hat eine Flut von Nacharbeitungen in Rußland hervor- 
gerufen. An Wert steht den Elaramsinschen am nächsten die schon vor 
„Lisa" geschriebene „Rosa, eine halbwahre und originelle Geschichte" 
von Nikolaus Emin. Nicht allein die tragische Lösung — der Held 
zerreißt die Binden, die ihm, dem im Duell schwer Verwundeten, um- 
gelegt sind, und verblutet — sondern der ganze Seelenzustand nach dem 
Duell, das Erwarten des Todes, selbst der Stil seiner Briefe vom Sterbe- 
lager aus eriimem an Werther. 

Erwähnenswert sind andere Wertherromane: desselben Emins „Spiel 
des Schicksals" (1789), Kluschins an Karamsins „Liodor" er- 
innernde ,,Der unglückliche M." (1793), Paul Lwovs an Karamsin 
und an Emin sich anlehnende „Sofie" (1794), und von unbekannten 



Der rassische Roman. — Die Karamsinisten r i 

■ — ■-■--■- - - - ■ - ■ -^ . j , I II ■ I I II j 

Verfassern „Die arma Mascha", „Die unglückliche Margarethe**, „Die 
verführte Henriette" usw. Die Wertherischen „schönen Seelen" leben 
noch bei Shukowskij, Odojewskij, Akss^kov. 

Das ist die eine Seite des „Sturms", wie sie also durch Karamsin 
in Rußland eingeführt wurde, die empfindsame ; die andere, die revolutio- 
näre, konnte sich schon wegen der politischen Verhältnisse nicht entwickeln. 
Die diese Seite charakterisierenden deutschen Werke ?ind denn auch erst 
später unter das Publikum gekommen: Schillers „Fiesko" 1803, „Kabale 
und Liebe" 1806, „Die Räuber" 1809. 

§ 30 I Karamsin hat viele Nachahmer gefunden, auch im Stil 
und in der Gedankenrichtung. Man kann beinahe sagen, alle mehr 
oder weniger hervorragenden Schriftsteller zur Zeit Alexanders I. waren 
„Karamsinisten". Dahin gehört vor allem der schon genannte 
(S 25) Fabeldichter J. J. Dmitrijev (1760 — 1837). Sein Verdienst 
faßte die Kritik dahin zusammen: „Karamsin ist ein Muster, wie man 
in Prosa schreibt, Dmitrijev, wie in Versen". Er verfügt über einen 
leichten, ungezwungenen, gefälligen Vera Und innerlich schließt er sich 
an Karamsin an, indem er seinen Fabeln, Märchen, trotzdem sie sich 
an Lafontaine, Voltaire anlehnen, einen sentimentalen Zug beimischt. 
Einige seiner Fabeln wie „der Hahn", „die Katze imd das Mäuschen", 
„der Blinde und der Lahme" werden noch heute von den Kindern gelernt. 

§ Sl I Natürlich hatte Karamsin auch Gegner. Vor allem lag der 
Pseudoklassizismus noch nicht am Boden, siehe Osjerov. Dann wollten 
andere wieder einen Mittelweg zwischen Lomonossov und Karamsin, siehe 
Gnjeditsch, und andern ging er wieder nicht weit genug, indem sie das 
rein Volkstümliche vermißten, siehe Krylov. 

Der Pseudoklassizismus lebte noch, besonders im Drama, worin ja 
Karamsin nichts geschaffen hatte. Es hatten sich in die Zeit Alexanders I. 
Knjashnins, selbst Ssumarokovs Stücke hineingerettet. Daß sich bei 
ihnen nicht jeder mehr wohl fühlte, hatte schon ein Stück wie A b 1 e s s i - 
movs komische Oper „Der Müller und der Zauberer" (1779) gezeigt, 
die mit ihren wirklich nationalen Anklängen in den Herzen der Zuhörer 
so wiederhallte, daß sie — man denke an die damalige Zeit ! — sieben- 
undzwanzigmal hintereinander bei ausverkauftem Hause gegeben wurde. 

Sehr scharfe Konkurrenz machte dem alten Drama eine ganz neue 
Gattung, das sogenannte „bürgerliche Drama". Worin bestand nun das 
russische „bürgerliche" Drama? Aus den Übersetzungen von 
Kotzebues Stücken. Sie waren so in Mode, daß man von einer Kotze- 
buemanie sprach. Selbst Männer wie Djershawin und Karamsin trugen 
dem Rechnung. Djershawin hat seid Drama „Atabolibo oder die Zer- 
störung des Peruanischen Reiches" (1808) nach den ,, Spaniern in Peru" 
geschrieben, und eine der ersten Nummern des „Moskauer Journals" hatte 
Karamsins dramatische Skizze „Sophie" gebracht, nach Kotzebues 



4* 



J2 Eines Kapitel 

und Reue" gearbeitet. Kotzebues „Falsche Scham" und andere Stücke 
sind auch noch später riel aufgeführt worden *^). So treten denn Knjashnin 
und SsumarokoT immer mehr zurück, bis sie durch Osjerov ganz bei- 
seite geschoben werden. 

Osjerov {1770 — 1816) ist aber, wenn auch der letzte und nicht 
mehr so starre, Vertreter des Pseudoklassizismus. Er geht in franzö- 
sischen Spuren, selbst da, wo der Stoff ihn nach entgegengesetzter Rich- 
tung führen will. Drei seiner Tragödien sind oft über die Bühne ge- 
gangen. Sein „Ödipus in Athen" ist ganz nach dem „Ödipus" des 
Franzosen Ducis gearbeitet; ganze Szenen sind einfach aus ihm ent- 
nommen. Und doch hat er ein Verdienst: .seine Verse sind klang- und 
kraftvoll, und das Ganze schmeckt etwas nach Karamsinscher Empfind- 
samkät. Ganz auf Karamsin weisen Titel und Stoff seiner Tragödie 
„Fingal". Sie fUhrt uns nach Schottland, zu Ossian, zum Kampfe 
Fir^als, tmd Grund des Kampfes ist „empändsame" Liebe; aber trotzdem 
ist sie pseudo klassisch , genau wie sein „Dmitrij Donskoj" (r807), ob- 
wohl er ein Stück russischer Geschichte bringt — den Kampf Dmitrijs 
am Don auf dem Felde von Kulikowo über die Horde im Jahre 1380 — , 
weil beide Stücke nichts von dem Geist jener Zeiten und jener Situationen 
ahnen lassen, weil sie diesen so fem stehen, wie Corneilles und Racines 
StUdce dem griechischen und dem römischen Altertum. Der sehr grofie 
Erfolg des letzten, eigentlich schlechtesten Stückes, beruht auf den von 
patriotischer Begeisterung getragenen Versen. Es wurde zur Zeit der 
Napolconischen Kriege gespielt, und das Publikum sah in dem Sieger 
Dmitrij seinen Kaiser Alexander und in dem Besiegten Mamaj den 
Franzosenkaiser. ^ 

Daß sich Gnjeditsch (r784— 1833) nicht ganz für die Wirklich- 
keitssprache Karamsins entschied, erklärt sich durch sein Lebenswerk, 
die Übersetzung der „ Ilias ". Er war, wie die jetzt erwachende russische 
Gelehrtenwelt, ein Gegner des Pseudoklassizismus ; man sah hier, wie vor- 
dem in Deutschland, ein, welche Fehler die Franzosen mit der Lehre 
des Aristoteles über die drei Einheiten begangen hatten. Um diese 
Mängel gründlich zu beseitigen, wollte man genau die Quellen kennen 
lernen, und so ergibt sich jetzt ein wahrer Drang, eine wahre Begeiste- 
rung für Homer, Ve^, Äschylus, Sophokles, Aristophanes, Pindar, Horaz. 
Von dieser Begeisterung wurde Gnjeditsch er^St. Er übersetzte zuerst 
einen Teil der Ilias in den Alexandriner, warf ihn aber beiseite und nahm 
Hexameter. Die aojährige Arbeit ist ihm im groäen und 
ingen; er hat den Charakter, den Ton der Vorlage gut wie- 
; die russische Sprache dem griechischen Geiste und zugleich 
lien Würde des Originals anzupassen wurde ihm sehr schwer — 
d sich deshalb ftir eine Zwischenstufe zwischen Karamsin und 



Die Romantik. — Shukowskij t^ 



Diese Sprache hat er jedoch nur für diesen einen Fall gebraucht. Seine 
Sprache in der Übersetzung von Schillers „Fiesko" ist die Karamsins. 

Ktylov (1768 — 1844) ging die Reform nicht weit genug. Ob- 
wohl seine Fabeln ^^) zum Teil auf Lafontaine aufgebaut sind, will er fort 
von den Franzosen, fort von aller Nachahmung, will er zum rein Volks- 
tümlichen. Sein Feld ist die Satire, die er in verschiedene Formen gießt, 
zuerst in Zeitungsartikel, dann in Komödien, schließlich in die Fabeln, 
die seinen Ruf durch die Welt getragen haben. Er hat drei Zeit- 
schriften herausgegeben: „die Geisterpost" (1789), „den Beobachter** 
(1792), den „St. Petersburger Merkur" (1793). Die Tendenz aller drei 
satirischen Zeitschriften ist erzieherisch ; er will mehr Charakterbildung und 
damit eine höhere moralische Entwicklung. Dasselbe wollen seine Komö- 
dien „Der Modeladen", „Die Lektion für Töchter", die sich geg^n die 
Sucht des Französelns, besonders gegen diese Untugend der weiblichen Jugend 
richten. Dieselbe Charaktererziehung üben nun auch seine „Fabeln" (1808), 
die noch heute ein sehr beHebtes Volksbuch sind. Was seine Fabeln über 
alle vorhergehenden hebt, ist das Neue, daß unter der allegorischen Hülle 
nicht ein Allgemeinwesen auftritt, sondern ein spezifischer Russe, mit seinem 
russischen Charakter, seiner russischen Denk- und Gefühlsweise, seinen 
russischen Sitten tmd Gebräuchen, ja, mit einer andern Sprache als man 
sie vorher gekannt hatte, mit der urwüchsigen Sprache des Volks, in 
seinem Jargon. Daher sind Krylovs Fabeln, wenn ihr Thema noch so 
sehr Lafontaine oder Geliert ähnelt (,,der Esel und die Nachtigall", „der 
Lügner", „der Wolf und die Schafe", ,,der Wanderer und die Hunde"), 
doch die seinigen, weil so nicht Deutsche oder Franzosen auftreten, ur- 
teilen, reden, sondern nur Russen. Bedeutend sind seine historischen 
Fabeln, die auf die böse Napoleonische Zeit Bezug haben, sein „Wolf 
im Zwinger" (Napoleon nach der Niederlage bei Borodino), ,,die Krähe 
und das Huhn" (die Krähe frohlockt über das Huhn, weil sie keine 
Angst vor dem Suppentopf zu haben brauche; sie fällt aber beim 
Moskauer Brand doch in diesen). 

Krylovs Fabeln sind wegen dieser ihrer Betonimg des National- 
russischen schon die Vorboten einer andern Zeit; sie läuten die ,,neue 
Poesie" ein. 

Elftes Kapitel 
Die Romantik. — Shukowskij 

§ 32 I Die russische Romantik ^*) bedeutet offenste Fehde, heftigsten 
Kampf gegen den Pseudoklassizismus, gegen seine „Regeln", gegen „den 
Marquis Orestes und den Chevalier Brutus". Karamsin hatte den Kampf 
begonnen, aber er war zu „sentimental", um stark und entschieden ent- 
gegentreten zu können. Das tat die Romantik. 



54 Elftes Kapitel 



Die Romantik in Rußland ist anders ab die deutsche. In Deutsch* 
land wirken geniale Dichter durch ihre Dichtungswerke. In Rußland ist 
sie mehr wissenschaftlich als poetisch. Sie weist nur wenige Schöpfungen 
hervorragender Dichter auf, sie hat viel mehr durch kritische Unter- 
suchungen geleistet, Kritiken, die während des 2.. und 3. Jahrzehnts des 
19. Jahrhunderts die ganze Gebildetenwelt in der größten Spannung hiel- 
ten und sie dann zu sich hinüberzogen und den Pseudoklassizismus ver- 
lassen machten. Also nicht große Dichtungswerke, sondern die Kritik 
bat in Rußland dem Pseudoklassizismus den Todesstoß gegeben; zu ver- 
gleichen ist das mit Lessings Arbeiten. 

Die Romantik in Deutschland will Wunderbares, Phantastisches; sie 
rettet ins Zauberland, sie sucht nach der blauen Blume. Nur wenig hat 
davon die russische; sie kann ntu- wenig davon haben, denn der, welcher 
als der Romantiker par excellence von ihr angesehen wird, nach dessen 
Schritten einige Kritiker sogar das Geburtsjahr der Romantik datieren, 
ist — Schiller. Man denke an imsere deutschen Romantiker und ihr 
Verhältnis gerade zu Schiller! Noch heute wiH Ricarda Huch von ihm 
als Romantiker nichts wissen. 

Die deutsche Romantik wählt Goethe als Vorbild. Das tut die 
russische gleichfalls, aber nur in einer Zweigart, erst da, wo sie in den 
Realismus hinübergeht. Vertreter der idealen Romantik ist für sie Schiller. 
Man sieht daraus, die russischen Kritiker denken bei dem Wort Romantik 
kaum an das, was sie für uns ist ; sie haben nur die neue Poesie Schillers 
und Goethes im Auge im Gegensatz ziun Pseudoklassizismus. 

Die deutsche Romantik beharrt in ihren Phantasiegebilden, in ihren 
phantastischen Träumen. Als sie diese in den Schreckensgespenstem 
E. T. A. Hoffinanns überspannt, geht sie zugrunde. Die russische ent- 
wickelt sich weiter, nach zwei andern Seiten hin: sie nimmt einmal das 
„knisternde phantasmagorische Feuer" V. Hugos in sich auf und daim 
den Weltschmerz Byrons, und was den beiden gemeinsam ist, das Leben 
in der realen V/elt. Damit hat sie nicht ihre ganze Vergangenheit auf- 
gegeben, wohl den Idealisten Schiller, aber nicht Goethe; nur haftet sie 
weniger an seiner Romantik, mehr dagegen an seinem Realismus. Und 
in dieser Richtung nennt sie nun auch große Dichtergestalten ihr eigen, 
die größten, die Rußland gehabt hat, Puschkin und Lermontov. 

§ 33 I Eingehender beschäftigte man sich in Rußland mit der 
Romantik seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre. Vorboten erschienen 
bedeutend früher: so bringt 18 12 der „St. Petersburger Bote*' Schillers 
Aufsatz „Über das Erhabene'* und 18 13 der „Europäische Bote" seine 
„Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen", Aufsätze, 
deretwegen, wie gesagt, einige Kritiker das Geburtsjahr der russischen 
Romantik in das Jahr 18 12 bzw. 18 13 legen. Inzwischen waren auch 
andere Werke Schillers, seine Tragödien, mehr in das Publikum ge- 



Die Romantik. — Shakowskij cc 

drtmgen. Es wurden auch die Werke und Lehren Schlegels und Schel- 
lings bekannt, und damit zieht eine außerordentliche Begeisterung für die 
neue Dichtkunst und für die neue Philosophie ein. Gesellschaften kon- 
stituieren sich zur Verbreitung der philosophischen Lehren SchelHngs ; 
ganze Jahrgänge von Zeitschriften sind mit Aufsätzen über die neue 
deutsche Philosophie, über die neuen deutschen Dichter Schiller, Goethe, 
Herder und mit Übersetzungen aus ihren • Werken angefüllt. 

Der „Moskauer Bote" (1827 — 1831), begründet von Pogodin, 
bringt Teile aus Goethes „Faust**, aus „Wilhelm Meister", „Die Weis- 
sagungen des Bakis**, den ganzen „Götz**, aus Schillers „Wallenstein", 
aus „Maria Stuart**, „Die Klage der Ceres**, „Die vier Weltalter** und, 
indem er der deutschen Entwicklung folgt, nach und nach dieses und 
jenes von Jean Paul, Tieck, Wackenroder, E. T. A. Hoflönann. Er be- 
schäftigt sich auf das eingehendste mit Aug. Schlegels „Kritischen Schrif- 
ten**, seinen „Berliner Vorlesungen**, will alle die Forderungen, die dieser 
an die neue Dichtung stellt, den Kult des Ich, den Kult der Freiheit des 
künstlerischen Schaffens, den Kult Shakespeares, den Kult der christ- 
lichen Welt, den Kult des Nationalen auch für die neue russische Poesie. 
Das heifit kurz „fort vom Pseudoklassizismus *^ 

Einen ähnlichen Standpunkt vertreten andere Zeitschriften: „Das 
Athenäum**, der „Europäische Bote**, „Der Sohn des Vaterlands'*, 
„Die Galathea**, und ihrer Tätigkeit ist es zu danken, daß Anfang der 
dreißiger Jahre ganze Sammlungen von Schillers und Goethes Werken in 
Rußland erschienen. 

Inzwischen war die neue Romantik V. Hugos entstanden, mit ihrem 
stark realistischen Einschlag, und die deutsche neigte ihrem Ende zu. 
Diese realistische Seite wird nun von Polewojs „Moskauer Tele- 
graphen** (1825 — 1834) für die russische Dichtung gefordert mit Hin- 
weis auf Hugo, Ch^nier, Balzac, Sue und auf Byron, Scott, Moore, 
Coleridge. Aber auch das genügt bald nicht mehr; man schreitet schnell 
vorwärts. Eine andere Zeitschrift, der „Teleskop**, schreibt: „Die 
Morgenröte des neuen Tags ist nicht die trübe Röte des Byronismus, auch 
nicht das knisternde, phantasmagorische Feuer Hugos, sondern die 
WirkUchkeit , d. h. nicht die sklavische Kopie der Wirklichkeit, sondern 
ihre künstlerische Wiedergabe, ihre Reproduktion aus dem Innern der 
Phantasie heraus, eine Harmonie zwischen Realem und Idealem *^ Dazu 
bietet nach seiner Ansicht gerade das russische Leben soviel Stoflf, nur 
„nicht jedes gewöhnliche Leben, sondern da, wo sich eine besondere 
Blüte zeigt**. Solche neue Dichtung gebe es aber bereits: in Puschkins 
„Boriss Godunov**, in Sagosskins „Jurij Milosslawskij**. 

Das Leben darstellen „wo sich eine besondere Blüte zeigt**, heißt 
dem Realismus einen antiken Einschlag geben. Für die Mitbeteiligung 
der Antike hat sich übrigens Puschkin selber stets ausgesprochen. Scharf 



j6 Elftei Kapitel 

trat dafür Nadjesbdin "), der erst flirPolewojs „Telegraphen" geschrie- 
ben hatte, jetzt im „ Europäischen Boten " und in seiner in wissenschaßlichen 
Kreisen bedeutendes Aufsehen erregenden Dissertation ^*] ein. Nadjeshdin will 
unter allen Umständen eine glückliche Vereinigung vonRomantik und Klassik. 

Es treten uns also viele Ansichten en^egen, und was ist das Ge- 
meinsame aller? Die Beseitigung des Pseudoklassizismus. Daß der nicht 
sofort die Waffen streckte, ist selbstverständlich. Das „Damenjournal" 
pnd andere Zeitschriften bekannten sich offen als Gegner Goethes und 
Herders. Schiller, soweit er Klassiker war, seine ,,von der romantisch- 
klassischen Form beherrschte" Braut von Messina und den „vom roman- 
tisch-klassischen Geist beherrschten" Wilhelm Teil, lieSen sie gelten. In 
ihrem Kampf gegen die Romantik boten ihnen ja auch die Auswüchse 
genug Stoff zum Angriff. Aber bei alledem zogen sie sich vom Pseudo- 
klassizismus zurück, zurück zum Klassizismus. Aus diesem Streben 
heraus sind die oben erwähnten vielen Übersetzungen des Homer, des 
Horaz, des Ovid zu erklären. 

Der Pseudoklassizismus war daim Mitte der dreißiger Jahre besiegt. 
Die '„neue Schule" hatte gesiegt. 

§ 34 j Einer der v/enigen, die diese Theorien in die Praxis umsetzten, 
also wirkliche Dichtungen schufen, ist Shukowskij (1783 — 1852). 
Ei selber nannte sich den Stammvater der Romantik in Rußland, ein 
Wort, das doch etwas einzuschränken ist. Denn einmal ist Shukowskij 
viel mehr Nacbdichter als Dichter *'), und dann laufen zwar seine Nach- 
dichtungen wie die eigeüen Dichtungen in der romantischen Linie, aber 
sie lassen nur zwei der Romantik anhaftende Züge hervortreten, den der 
Melancholie, des Seboens nach einer andern Welt und den des Geheimnis- 
voll-Schaurigen. Richtig ist, dafl er der Vater der romantischen 
Ballade ist. 

Shukowskij steht, trotzdem er aus dem Englischen, Französischen, 
auch aus dem Indischen und Persischen übersetzt hat, — seme erste 
Übersetzung war die von Greys „Dorfkirchhof" — dem Deutschen am 
nächsten. ,,Dank Shukowskij", schreibt der Kritiker Bjelinskij, „ist die 
deutsche Poesie uns zur Mutter geworden ", und der Moskauer Telegraph 
nennt ihn den ,, russischen Schiller". Man achte darauf: er selber nennt 
sich den „Stammvater der Romantik" und der Moskauer Telegraph neimt 
ihn ..ri™ nissifrlien Schiller" — ein Beleg für die. oben gegebene Aus- 
maß die russische Romantik etwas anderes ist als die 

— der russische Schiller. Es gibt in der Tat kaum 
Ballade, die er nicht übersetzt hat; er übersetzte auch sein 
", sein „Siegesfest" usw. Ebenfalls hat er Schillers 
rleans", dann Balladen Goethes („Erlkönig", ,,Der 
i, Uhlands, Bürgers, Kemers, Zedlitz' °^ übertragen. 



Die Romantik. — Shnkowskij ty 

Der junge Gutsbesitzerssohn ^^) aus dem Gouvernement Tula hatte sich 
schon auf der Moskauer Universität eingehend mit der deutschen Lite- 
ratur beschäftigt. Eine bestinmite Richtung in der Literatur schlug er 
ein, nachdem er Bürgers „Lenore" gelesen hatte. Er tiberarbeitete sie 
1 808 unter dem Titel „ Ljudmila " und erzielte einen großen Erfolg, daß 
er sogar Karamsins i,Arme Lisa" schlug. Von da ab war er auf 
die romantische Richtung ein geschworen, in den Übersetzungen wie in 
den eigenen Dichtungen. , 

Was nun Shukowskijs Übersetzungen so wertvoll macht, was sie 
künstlerisch über die anderen Übersetzungen hebt, ist die peinlichste 
Wiedergabe des Geistes, des Tons, des Ausdrucks des Originals. Sein 
Vers ist außerordentlich klangvoll, musikalisch. Shukowskij beherrscht 
jedes Versmaß, den reimenden und den reimlosen Jambus, den drei- 
und vierfiißigen Anapäst; ganz neu war für Rußland seine Übersetzung 
der „Jungfrau von Orleans" im Verse des Originals, dem funfiiißigen 
reimlosen Jambus anstatt des sonst nach französischem Muster gebräuch- 
lichen Alexandriners. 

In dieser künstlerischen Vollendung stehen auch seine Übersetzungen 
aus andern Sprachen da, vor allen die englischen. Byrons ,, Gefangener 
von Chillon", Thomas Moores „Der Engel und die Peri" sind Muster- 
tibersetzungen, ebenso was er aus Walter Scott und Goldsmith bietet. 

Man kann an Shukowskijs eigenen Dichtungen nicht so ohne weiteres 
vorbeigehen; die damalige Kritik schätzte sie sehr hoch ein. Dem Wunder- 
land der deutschen Romantik kommt er am nächsten mit seinem^ ^, Märchen 
vom Zarjewitsch Iwan und dem grauen Wolf" (1845) ^®), ^^^ ^^ dem 
andern Märchen vom „Zaren Bjerendej, seinem Sohn Iwan Zarjewitsch, 
den Ränken des unsterblichen Koschtschej und der Klugheit von Kosch- 
tschejs Tochter Maria". Sein dichterisches romantisches Glaubens- 
bekenntnis hat er ganz nach deutschem Empfinden im „Geheimnisvollen 
Besucher" (1824 — gemeint ist mit dem Besucher die dichterische • 
Phantasie) niedergelegt. 

Shukowskij hat bestimmenden Einfluß auf die russische Literatur aus- 
getibt durch seine Dichtungen, dann durch seine Redakteurstellung am 
„Europäischen Boten". Er war von hoch und niedrig sehr geschätzt; 
er wurde der Erzieher des Großfürsten -Thronfolgers Alexander. Mit 
Deutschland war er auf das engste verknüpft; seine Frau war die Tochter 
eines Düsseldorfer Malers. In den letzten Lebensjahren siedelte er ganz 
nach Deutschland über; er starb in Baden-Baden, 1852. 

§ 35 I Der Schaffensdrang der andern Romantiker äußert sich haupt- 
sächlich im Roman. Zu ihnen rechnet Bjestushev-Marlinskij (1795 
— 1^37)» der wegen seiner Teilnahme an der Dekabristen-Verschwörung 
zum Tode verurteilt , aber zt| zwanzigjähriger Zwangsarbeit in Sibirien be- 
gnadigt wurde. Hier in Jakutsk füllte er die traurigen und eir 



rg Zwölftes Kapitel 



Samen Stunden, am meisten seiner Stimmung entsprechend, mit Byron 
aus, dann mit Moore, Hugo, Shakespeare, Schiller, Goethe. Das Beste, 
das er geschrieben, sind seine hier verÜEißten „Novellen vaxd Skizzen", 
worin viele Früchte seiner deutschen Studien. Sein „Räuber Mullach 
Nur" ist Schillers Karl Moor, nicht allein ebenso edel, großmütig und 
tapfer wie dieser, sondern direkt mit seinen Worten über die Gesellschafts- 
ordnung und über das menschliche Laster philosophierend. Werthers 
Anschauungen und Gefühle, Öfter wörtlich, finden wir in der „Schreck- 
lichen Prophezeiung" imd in dem den Kampf der Tscherkessen gegen 
die Russen behandelnden Roman „ Amalat Bey ". Die damalige Jugend, 
unter ihr Lermontov, war begeistert von dem Temperament^ der unge* 
stümen Leidenschaft, dem Bilderreichtum, der Anschaulichkeit seiner 
Dichtungen. Bjestushev war mit seinem Kult des persönlichen künst- 
lerischen Schaffens, seinem Kampf für die große Idee der Freiheit — er 
trat gegen die Leibeigenschaft auf — ein echter Jünger der Romantik. 
Seinen Namen „Bjestushev" hatte er, trotz des guten literarischen Klangs, 
den er sich durch die Herausgabe des Almanachs „Der Polarstem" 
erworben , in Sibirien fallen lassen ; er erweckte ihm unliebsame Erinne- 
rungen. Er trug auch den neuen nicht lange ; der im Roman so Tapfere 
und Waghalsige war es auch im Leben — er fiel bei der Erstürmung 
einer Tscherkessenfestung. 

Den Roman kultiviert gleichfalls der Schellingianer Fürst Odo- 
jewskij (1804 — 1869). Er^i) setzte Schelling ein hübsches Denkmal: 
„Im Anfang des 19. Jahrhunderts war Schelling dasselbe was Kolumbus 
im 15.; er entdeckte .dem Menschen einen unbekannten Teil seiner Welt, 
von dem nur gewisse sagenhafte Überlieferungen existierten, seine — 
Seele." Odojewskij kultivierte Schelling tmd die Romantik nicht nur in det. 
Zirkeln seines vornehmen Hauses, sondern auch in seinen Werken. Die 
hervorstechendsten Züge seiner Poesie sind der Kult des Genius und der aus 
dem Kult des Individualismus sich entwickelnde Universalismus. „ Eine geniale 
Persönlichkeit ist zum allgemeinen Besten da." Solche Lebenswahrheiten ver- 
kündet bei ihm gern ein Magier oder ein fahrender Ritter des Mittelalters. 
Diese äußerliche Form hat er von der deutschen Romantik; aber auch 
innerlich fußt ein Teil seiner Schriften auf deutschen Vorbildern. So ist sein 
Roman „Giordano Bnmo und Peter Aretino" (1825 — 1827), ein Sitten- 
roman, der die Reformation beleuchtet, eine Parallele zu Tieck-Wacken- 
roders „Franz Stembalds Wanderungen", auch zu Novalis' „Heinrich 
von Ofterdingen " , und Giordanos Gedanken sind Schellingsche Philo- 
sophie. Solche einsamen Denker sind auch die Lieblingspersonen in andern ' 
Schriften, z. B. in seinen „ Apologien*', seinem ,, Einsiedler" und in seinem 
Hauptwerk ,, Russische Nächte" (1831). Echt romantisch hierin ist, daß 
seine Helden, diese geistig Einsamen, „ den Sinn des Lebens im Zusammen- 
prall mit der Wirklichkeit finden". Die deutschen Romantiker sind 



Der romantische Realismus 



59 



Musikenthusiasten — ebenso Odojewskij; er hat „Das letzte Quartett 
Beethovens" und „Sebastian Bach" geschrieben, 

Sagosskins (1789 — 1852) „Jurij Milosslawskij oder die Russen im 
Jahre 1612" (1829) war für den „Teleskop", wie wir gesehen, das 
Muster des romantischen Romans, weil er ein national-patriotischer Roman 
ist. Er gab ein getreues, reales Bild Rußlands aus jener Zeit; russische 
Leute und russisches Leben, durchweht von nationalem Geiste, stehen 
vor unsem Augen; selbst die Sprache ist in ihrer Kernigkeit der Zeit 
angepaßt. Eine Geschichte des Jahres bringt er aber nicht. Der 
Roman fand auch die Bewunderung Shukowskijs und Puschkins, und der 
Kaiser empfing den bescheidenen Dramaturgen. Inländische und auslandische 
Zeitschriften waren einig in ihrem Lobe, und der Roman wurde bald in alle 
Kultursprachen übersetzt. Sagosskin hatte dazu besonders Scott studiert. 

Sagosskin hat versucht, das Jahr 181 2 ebenso zu behandeln, in 
seinem Roman „Rosslawlev" — ohne Erfolg. Auch seine Komödien 
und sonstigen Schriften sind belanglos; alle kehren aber den national- 
russischen, hauptsächlich den altrussischen Standpunkt heraus. 

Ein Romantiker ist ebenfalls Pole wo j, ein Vielschreiber, aus Armut. 
Sein Roman „Der Eid am Grabe des Herrn" (Christi) gibt, ähnlich dem 
„Jurij Milosslawskij", ein Bild vom russischen Leben des 15. Jahrhunderts; 
Land, Leute, ihre Sitten sind mit Naturtreue geschildert. Sein unvollendeter 
Ktinstlerroman „Abbadonna" (1835) spielt nicht nur in Deutschland, 
sondern zeigt auch den Künstler, den Idealisten der deutschen Romantik, 
im Kampf mit der rauhen Wirklichkeit. 

§ 36 I Diesen Romanen stehen an innerem Wert, aber keineswegs 
an Beliebtheit beim Publikum nach Graf Ssollogub mit seiner rühr- 
seligen „Geschichte zweier Galoschen", voll Phantasie und Beobach- 
tungsgabe, und seinem Hauptwerk (1845) ,,Tarantaß", (d. h. der Reise- 
wagen ; zwei Brüder legen ihre Reiseeindrticke nieder, der eine alles k la 
Don Quichote, der andere alles mit gesundem Menschenverstand auflfassend) ; 
Lashetschnikov mit seinen historischen Romanen , vor allem mit 
seinem „Eispalast" (1835), ^^s der Zeit der Kaiserin Aima; Massal- 
skij gleichfalls mit historischen Romanen: „Die Regentschaft Birons" 
(1834), ,,Die Strelitzen" (1837); und noch mehr gelesen Kukolnik 
mit seiner ,,Eveline von Valjerol" (1840) und dem Kulturbild aus Ält- 
litauen „Alf imd Aldona" (1842). 

Zwölftes Kapitel 
Der romantische Realismus ' 

§ 37 I Ist es Zufall gewesen, daß der romantische Idealismus so 
wenig feste Wurzel schlug? War es nicht viel mehr innerste Notwendig- 
keit, daß eine reale Stimmimg einsetzte, die realste, die es nur geben 



6o Dreizehntes Kapitel 



konnte, verbunden noch dazu mit der tiefsten Melancholie, dem tiefsten Pessi- 
mismus Byrons? Wo sollte sich denn ein Plätzchen für die blaue Blume finden? 

Alexanders I. Regierung (1801 — 1825) hatte so vielversprechend 
begonnen. Der Rousseauzögling hatte für die höchsten humanen Ideale 
geschwÄrmt, hatte für die Bildung des Volks Schulen, Universitäten ge- 
gründet, hatte die schlimmste Fessel des freien, schaffenden Gedankens, 
die Zensur, aufheben wollen, hatte zur Reformierung des ganzen Staats- 
wesens den genialen Spjeranskij gerufen. Spjeranskij war Franzosen- 
freund, hinderte den Kaiser jedoch nicht, die tüchtigen Leute da zu holen, 
wo er sie fand. Alexander liebte seinen „Freund" Friedrich Wilhelm III. 
und Deutschland. So tritt denn wieder deutsche Wissenschaft in den 
Vordergrund. Schlözer und der Göttinger Staatsrechtslehrer Meiners 
wurden zur Reorganisation der Universitäten, der Staatsverfassung, des 
Handels herangezogen. Der Sturmdichter Klinger wurde zum Mmister 
für Volksaufklärung berufen. An den neuerrichteten Universitäten in 
Charkov und in Kasan lehrten deutsche Professoren Schellings und Kants 
Philosophie. Freilich blieb das meiste nur Stückwerk. Die Zensur wollte 
Alexander aufheben, wollte. Alexander liebte auch Djershawins Poesie ^^). 
War das etwas für die stürmende Jugend ? Ihre Wünsche und Anschauungen 
mußten natürlich nach wie vor handschriftlich herumgehen, und es 
war ein sehr kühnes Unterfangen, eine Parodie zu Djershawins „Lieb- 
haberverein des russischen Worts " (181 1) in dem Verein „Arsamass" ^^) 
(spöttisch nach einem russischen Städtchen ä la Schiida benannt) zu 
gründen, in dem man die alte Generation bitter geißelte; Shukowskij 
und — viel schlimmer — Puschkin waren hier die Wortführer. Und 
was wurde nun erst, als auf Alexanders „Gesicht anstatt des früheren 
bezaubernden Lächelns Nachdenklichkeit und Kummer lagen", als er 
überall revolutionäre Ideen und Bestrebungen witterte, als ati Stelle des 
aufklärerischen, ehrenhaften Spjeranskij der grausame Finsterling Araktschejev 
und der Mystiker Galizyn die Führung übernahmen, und als nun gar 
Nikolaus I. den Thron bestieg? Kein Wunder, daß da in der russischen 
Intelligenz die Stimmung Karl Moors herrschte, die alles mit Feuer und 
Schwert ausrotten wollte, oder die vollste Apathie, die tiefste Verachtung 
alles Irdischen und — Göttlichen. 

Aus dieser Stimmung heraus ist die Dichtung Puschkins und Lermontovs 
aufzufassen. 

Dreizehntes Kapitel 

Alexander Ssergejewitsch Puschkin 

§ 38 I Der Dichter Puschkin ^^) war, wie jeder Mensch, nicht mit 
einemmal fertig. In seinem dichterischen Schaffen sieht man deutlich 
drei Perioden, deren erste man die italienisch - französische nennt, das 
Resultat seiner Erziehung. 



Alexander Ssergejewitsch Puschkin : 6l 

Der am 26. Mai (a. St.) 1799 in Moskau geborene Alexander er- 
hielt die Erziehung, welche alle alten russischen Adelsfamilien ihren Kin- 
dern zuteil werden ließen. Er hatte ausländische Lehrer, den Deutschen 
Schiller, der ihm russischen Unterricht gab, und eine deutsche Gouver- 
nante , die nur französisch mit ihm sprach. Von sonstigem Einfluß der 
beiden hört man nichts. Sehr großen Einfluß hat dagegen, besonders 
auf die poetische Entwicklung des Jungen, seine Wartefrau gehabt, die 
ihm russische Märchen und Sagen erzählte und volkstümliche Lieder vor- 
sang. Die dem Knaben angeborene Phantasie — die Mutter hatte orien- 
talisches Blut in ihren Adern, sie war die Enkelin des „Mohren" Peters 
des Großen — wurde durch diese Anregungen stark befruchtet. Die 
vorwiegend französische Erziehung setzte sich auf der Militärschule in 
Zarskoje Ssjelo fort: er dichtete hier schon französische Verse. Der sehr 
geweckte junge Mann beschäftigte sich aber auch, so weit ihm die häu- 
figen und wüsten Trinkgelage, die Stubenmädchen und Schauspielerinnen 
Zeit ließen, gern mit andern Sprachen, auch eingehend mit dem Deut- 
schen. Genau denselben Beschäftigungen lag er,, nach bestandenem 
Examen 18 17, ob, als er, unvermögend um die gewöhnlich von Zarskoje 
Ssjelo gewählte Laufbahn des Gardeoffiziers einzuschlagen, in das Departe- 
ment der auswärtigen Angelegenheiten eintrat. 

Aus dieser Zeit stammt nun, abgesehen, von vielen kleinen „Gelegen- 
heitsgedichten" verliebter, tändelnder, spöttischer, klagender Art — alle 
in französischem Geleise — sein erstes größeres Gedicht, das seinen 
Namen sogleich berühmt machte, sein Märchenepos „Russlan und Ljud- 
mila" (1820). Der Stoff ist' romantisch: Fürst Russlan ist der Freier der 
Ljudmila. Sie raubt der Zauberer Tschemomor. Russlan sucht seine Braut, 
und auf dieser Suche besteht er die seltsamsten Abenteuer. Die Aus- 
führung läuft in dem Geleise seiner früheren Jahre: viel Spielerei, aller- 
dings geistreich, viel Gekünsteltes, recht viel echt französische Erotik und 
Lüsternheit. Auf diesen französischen Geist hin, und weil ihm als Vor- 
bild zum „Russlan" Ariosts „Orlando furioso" gedient hatte, spricht man 
gern von der italienisch- französischen Periode seiner dichterischen Ent- 
wicklung; man könnte sie ebensogut die französisch -italienisch-deutsche 
nennen, denn zum „Russlan" hat auch bedeutend Wielands ,,Oberon" 
mitgeholfen. 

Wenn das Publikum von der Dichtung begeistert war, so hatte es 
ein Recht dazu, denn die Sprache, der Vers waren äußerst gefallig und 
lebendig, der Witz war prickelnd und geistreich, der Stoff war neu ge- 
formt; aber wenn es darin schon das nationale Epos erblickte, so sieht 
man, daß es noch nicht recht wußte, was national ist — es war im 
Gegenteil französisch. 

Puschkin fühlte sich. Spöttisch, ironisch, satirisch war seine ganze 
Natur. Dieser Charakteranlage ließ er jetzt freien Lauf, in Oden und 



/ 



62 Dreizehntes Kapitel 



Epigrammen, gegen den Klaiser und Araktschejev , für die Dekabristen 
und Pestel , gegen , die Tyrannen und für die Freiheit , gegen das ge- 
knechtete Rußland und für die französische Revolution. Der „ Arsamass '' 
mit seinen Bestrebungen blieb auch nicht unbekaimt, da konnte er noch 
froh sein, daß er nicht eines guten Tags in Sibirien erwachte , sondern 
nur in Südrußland, in Jekatjerinosslawl. Puschkin studierte hier. Byron; 
er lernte den Kaukasus, dann die Krim kennen, und damit ist die 
französische Anakreontik abgetan. An ihre Stelle tritt Byron. 

Die zweite Dichtungsperiode Puschkins beginnt mit zwei größeren 
Epen: „Der Kaukasusgefangene" (1822) und „Die Fontäne von Bach- 
tschissaraj" (1824) — beide nahm das Publikum wieder mit der größten 
Begeisterung auf. Der Titel des ersteren kennzeichnet den Inhalt. Mit 
dem zweiten ist die historische Tränenquelle im Schloßhof der alten 
Tatarenchane der Krim gemeint, die ein Chan zur Erinnerung an eine 
schöne Christensklavin hat errichten lassen, die ihm eine andere, eifersüchtige 
Sklavin, hat ermorden lassen, v Schon das Thema ist echter Byron; 
dazu nun die ganze Auffassung des Stoffes, die Stimmung, die Auf- 
machung, das. Versmaß, imd wir haben den „Giaour** oder „Die Braut 
von Abydos" oder „Den Korsar"! Großartig und selbständig ist aber 
Puschkin in der Naturbeschreibimg, in der Schildertmg der Sitten tmd 
Gewohnheiten der Kaukasusbewohner, in der Schilderung der Land- 
schaftsschönheiten der Krim. Das russische Publikum erfuhr hier zum 
erstenmal etwas von der Naturerhabenheit seines südlichen Reiches. 

Ebenso scharf, wie er hier das Bergvolk des Kaukasus und die 
Bewohner der Krim zeichnet, zeichnet er in einem andern im Byronschen 
Stil geschriebenen Gedicht „Der Zigeuner" {1824) die Sitten dieser 
Leute; er selber soll mit ihnen herumgewandert sein. 

Nachdem Puschkin aus der Verbannung zurückgekehrt war und in 
Moskau seinen Wohnsitz genommen hatte, schrieb er seinen großen 
Roman in Versen „Eugen Onjegin" ^^) (1832 vollendet). Einen Inhalt 
hat der Roman kaum. Es wird uns nur das nutzlose, blasierte, ge- 
wissenlose Leben und Treiben eines jungen reichen Mannes aus der 
vornehmen russischen Gesellschaft jener Zeit vor Augen geführt — ein 
Typ für alle. Eugen Oujegin ist Childe Harold, ist Don Juan. Und 
doch geht Puschkin schon über Byron hinaus; es zeigen sich die An- 
fänge des nationalen Dichters. Eugen Onjegin ist ein Russe mit russischer 
Empfindtmg und russischer Anschauung. Und es zeigt sich noch ein zweites, 
das hiermit eng zusammenhängt, das eigentlich der Boden ist, aus dem erst 
sein nationales Empfinden herausgewachsen ist. Puschkin hat 8 Jahre am 
„ Eugen Onjegin " gearbeitet — in dieser Zeit hatte er sich auf das eingehendste 
mit der deutschen Romantik beschäftigt, aus ihr sehr viel gelernt. „An 
dieser Dichtersonneupracht (der Goethes und Schillers) War Puschkins 
eigene Glut erwacht" Er nahm selber, auch literarisch, engen Anteil 



Alexander Ssergejewitsch Faschkin 



63 



am Kampf zwischen Pseudoklassizismus und Romantik ; er schrieb heftige 
Artikel gegen den ersteren im „Sohn des Vaterlands'*; er überließ „dem 
Moskauer Boten ''9 dem Propheten Goethes, seine dichterischen Produk- 
tionen; er sandte, als Wjenjewitinov den „Moskauer Telegraphen" grün- 
dete und „den Sänger Byrons und Chdniers*^ aufforderte, „auch dem 
großen deutschen Alten Goethe" ein freundliches Wort zu sagen, ihm 
sofort seine „Szene zwischen Faust und Mephistopheles ". Es stammen 
aus dieser Zeit verschiedene Bekenntnisse seines dichterischen Glaubens, 
und sie alle sind die Forderungen der deutschen Romantik, voran ihre 
Auffassung vom Dichterberuf. . 



Der Rebe Spriefien und den Gang 
Der Meergeschöpfe, nachtgeboren . . . 
Stumm, leblos lag ich fort und foprt, 
Als ich vernahm des Höchsten Wort: 
,Steh auf, Prophet, und sieh und höre. 
Voll meines Willens, allerwärts 
Zeug über Länder, über Meere 
Und rede Glut ins Menschenherz'/' 



„Mit zartem Finger, wie im Traum, 
Berührt er (der Seraph) meine Wimpern 

kaum — 
Und Sehkraft ward dem Augenpaare, 
Wie sie verliehn dem jungen Aare. 
Mein Ohr berührt er, — und Gedröhn 
Durchscholl's und wundersam Getön : 
Den Flog der Engel, lichterkoren, 
Vernahm ich, und der Sphären Klang, 

Diese erhabene, überirdische Stellung des Dichters, die er hier im 
,, Propheten" (1826) ausspricht, kehrt noch weihevoller, göttlicher, ferner 
dem alltäglichen Leben, ferner dem Treiben der Menge in semem „Dichter** 
(1827) und in „Der Pöbel** (1828) wieder, und diese Auffassung ist 
^us der deutschen Romantik geholt. Wie sehr ihm deutscher Geist und 
deutsches Wesen zusagten, das zeigt andrerseits launig eine Stelle im 
„Eugen Onjegin**, da wo dem Genußmenschen Eugen gegenüber sein 
Freund Lenskij geschildert wird: 

Er war schön, wunderlich, voll Schwung 
Der Rede und Begeisterung . . . 
In nnentweihter Liebe pflegte 
Er alles was nur schön und gut. 
Und durch die Welt mit seiner Leier 
Zog er zu Schillers, Goethes Feier; 
An dieser Dichtersonne Pracht 
War seine eigene Glät erwacht." 



it 



Von Gemüte 



Göttinger Bnrsch, der in der Blüte 

Der Hoffnung und des Lebens steht, 

Verehrer Kants ist und Poet! 

Aus Deutschlands Nebeln kam er wieder 

Mit Fruchten der Gelehrsamkeit, 

Freiheitsideen unserer Zeit. 

Sein Haar hing bis zum Nacken nieder. 

Zu diesem Freunde sieht Eugen in allen guten Stunden mit Be* 
geisterung auf — in böser Stunde freilich fordert er ihn und tötet ihn. 
Wenn dann aber die guten wiederkommen, wenn sich seine Seele sammeln 
will, wenn Friede in sein Gemüt einzieht, dann schließt er sich von allem 
ab und liest — Schiller. 

„Eugen Onjegin** ist der erste psychologische Roman 
Rußlands. 

In Byrons Stil sind noch die liederlichen Epen: „Graf Nulin" und 
„Das Häuschen von Kolomna". Damit wirft Puschkin aber den Mantel 
Byrons ab. August Schlegel hatte als das eigentliche Wesen der Romantik 



^ f Dreizehntes Kapitel 



das Nationale betont, dies jedoch nur den romanischen und germanischen 
Völkern zugestanden; Puschkin zeigte, daß es auch für das slawische 
galt: er schrieb 1831 aus Altruölands Geschichte das Drama y,Boriss 
GodtmoT*' — die dritte Periode seiner dichterischen Entwicklung. 

,, Nationale Romantik*' zeigen auch schon vorher zwei auf russische 
Geschichte sich stützende Epen, der in Gedanken und Form gleich 
großartige „Gesang vom Weisen Oleg" — dem Oleg, der auf die Weis- 
sagung hin, er werde durch sein treustes Schlachtroß den Tod finden, 
dies nie wieder besteigt und doch durch dasselbe stirbt, indem lange 
Jahre nachher unter seinem Totenschädel die giftige Schlange hervor- 
schießt und Oleg umwindet — und das zweite Epos „Poltawa". Ursprüng- 
lich hatte der Dichter es richtiger „Maseppa^* genannt, denn die Schlacht 
ninunt nur einen Gesang ein. Er hatte den Titel fallen lassen, um einen 
Vergleich mit Byrons „Maseppa*' zu vermeiden. 

Aber am schönsten tritt die nationale Romantik in „Boriss Godunov'* 
hervor. Es ist kein Drama im strengen Sinne der früheren Zeit, d. h. 
seine Handlung ist nicht einheitlich, steht nicht im ELausalzusanmienhang, 
aber es ist ein Drama im Sinne unserer Jetztzeit, wie es Gorkij, Tschechov, 
unsere deutschen Modernen schreiben, und wie es ehedem Goethe in 
seinem „Götz** geschrieben hat, der Puschkins Vorbild gewesen ist Es 
sind mehr oder weniger fest aneinander gereihte Szenen, die ein Bild 
von jener Zeit aufroUen, wo der Usurpator Boriss Godunov nach Er- 
mordung des letzten Rurik seinen Thron gegen den falschen Demetrius 
verteidigen muß. Welche Lebenswahrheit, welche Naturtreue herrscht in 
diesen Bildern, die streng auf der Geschichte, wie sie Puschkin bei 
Karamsin gefunden, au%ebaut sind! Die Menschen sind Menschen, keine 
Helden, keine Halbgötter, wie sie bis dahin die russische Bühne in Nach- 
ahmung der französischen gesehen. Boriss Godunov, Demetrius, alle 
übrigen haben Menschenblut, haben menschliche Vorzüge und mensch- 
liche Schwächen und reden die Sprache der Menschen. So hatte der 
Dichter die Menschen bei Shakespeare und bei Goethe gefunden, und 
so hatte er sie nicht im französischen Drama gefunden. Dem letzteren 
schlägt er überall ins Gesicht: keine Einheit des Orts, keine Einheit der 
Zeit, kein Alexandriner, keine Einteilung in Akte, sondern nur, genau wie 
„Götz** Szene neben Szene, und was ein französisches Drama nie erlaubt 
hätte, Volksszenen, richtige Volksszenen mit Trunkenbolden imd mit faulen 
Witzen — alles Shakespeare, alles „GötÄ"! 

Mit dem Erscheinen von „Boriss Godunov** war das französische 
Drama in Rußland abgetan. Puschkms übrige Dramen' haben dazu kaum 
beigetragen;, sie stehen dem „Boriss Godunov" nach: die Tragikomödie 
„Der geizige Ritter" (1830 — der Ritter häuft Gold auf Gold und 
wird dadurch der Feind seines Sohnes), „Mozart und Salieri" (1830 — 
der Haß Salieris gegen Mozart), „Der steinerne Gast" (1830 — Don 



Michael Jorgewitsch LermontoT ge 

Juan), das unvollendete „Die Wassernixe" (1832 — aus Altrußlands 
Märchenwelt) und die oben erwähnte „ Szene zwischen Faust und Mephi- 
stopheles" (1825). 

Puschkin hat mit „Boriss Godunov" seine Höhe erreicht. Er war 
älter, und die Zeiten waren schlimmer geworden. Er hatte auch 1831 
geheiratet, Fräulein N. N. Gontscharowa. Da wollte er gern in Peters- 
burg bleiben, und so hieß es Kompromisse schließen, mit der Regierung, 
mit dem Kaiser. Nikolaus I. war freundlich zu ihm : er wurde Kammer- 
junker, was freilich nicht viel bedeutete. 

Er zog sich, ähnlich wie Karamsin, in das Fach der historischen 
Belletristik zurück. Es entstanden seine „ Geschichte des Dorfes Gorochino " 
(1830), die „Geschichte des Pugatschov- Aufstandes " (1833), „Die Kapi- 
tänstochter** (1836 — Szenen aus dem Pugatschov-Aufstande), die „Histo- 
rischen Anekdoten" (1834), auch „Die Pikdame" (1834). Er gründete 
die rein literarische Zeitschrift „Der Zeitgenosse". Aber weder das 
Publikum noch die Kritik zeigten die frühere Begeisterung; das Publikum 
zog den Stürmer dem Geklärten, dem etwas reaktionär Angehauchten vor, 
und einzelne Kritiker sprachen ihm sogar die Empfindtmg, selbst den 
WohUaut seiner Sprache ab — was eine spätere Kritik wieder gutmachte. 

Aufsehen erregte erst wieder sein tragisches Ende. Klatschereien, 
welche die Ehre seiner Frau berührten, ließen ihn den Verleumder, den 
Gesandtschaftssekretär Dantj^s, fordern. Dessen Kugel traf ihn tödlich. 
Er starb am 29. Januar 1837. 

Puschkins Dichtungen ^^) aus seiner guten Zdit sind ein großer, reicher 
Schatz für Rußland gewesen und es geblieben. Seine Poesie wurde auf 
ihrem Höhepunkt national und vertrieb dadurch und durch ihre Natür- 
lichkeit die Unnatürlichkeit des französischen Klassizismus. Puschkin ist 
der Maler der Wirklichkeit, der russischen Wirklichkeit; er wählte von 
der Romantik die reale Seite, aber er wühlte nicht in ihren Tiefen; er 
kannte auch die Höhen, und diese sind umstrahlt von der Ursonne, aus 
welcher der Realismus entflossen ist, von der reinen Romantik. Der 
Romantik oberste Forderung heißt Phantasie ; mit ihr umschließt Puschkin 
den Himmel und die Erde, mit ihr zauberte er bis dahin unbekannte Ge- 
bilde hervor, die Schönheiten der kaukasischen Bergesnatur. Puschkins 
Sprache ist die Sprache der Wirklichkeit, aber bei aller Natürlichkeit und 
Einfachheit, fem von jedem überflüssigen Beiwerk, ist sie von unendlicher 
Grazie, von unendlichem Wohllaut ^®). 

Vierzehntes Kapitel 
Michael Jurgewitsch Lermontov 

§ 39 I Die gewaltige Kraft dichterischen Talents, die Puschkin inne- 
wohnte, hat auch Lermontov ^^) ; freilich geht sie in etwas anderen Bahnen. 

Friedrichs, Russische Literaturgeschichte 5 



66 Vierzehntes Kapitel 



LermontOY wird gewöhnlich als der bedeutendste Vertreter Byronseber 
Zerrissenheitspoesie, Byronschen Weltschmerzes hingestellt. Nicht mit Un- 
recht. Nicht allein ist ein Teil seiner Werke direkt nach Byron gearbeitet^ 
überhaupt der Geist seiner Dichtungen ist der Byrons, der düstere^ 
▼erzweiflungsvoUe, zersetzende« alles Hohe verachtende und verhöhnende. 
Aber diesen Geist hat er nicht allein durch das Studium Byrons; er ist 
dadurch nur bestärkt worden; die Zerrissenheit, der Weltschmerz wäre 
über einen so stolzen, leidenschaftlichen Menschen, wie er war, auch 
ohne Byron gekonunen. Den gaben ihm die Zustände in seinem Vater- 
land, die ganze Nikolaitische Zeit, die Verhältnisse, unter denen er lebte. 

Lermontov hat nur ein kurzes, unruhiges Leben gelebt. Der in 
Moskau 1814 geborene Knabe verlor bald Mutter und Vater. Die sehr 
reiche und adelsstolze Großmutter verhätschelte ihn, so daß er hochmütig, 
eigensinnig, spottlustig wurde. Sehr befähigt kam er früh zur Universität, 
trat jedoch bald in ein Petersburger Gardehusarenregiment ein, wo er 
tolle, ausschweifende Jahre verlebte« Diesen Stempel trägt eine ziemlich 
große Zahl von Dichtungen jener Zeit: „Das Petershofer Fest", „Die 
Ulanin", „Die Frau des Kassierers". Das war aber nur die eine Seele 
in Lermontovs Brust — er lebte noch ein zweites Leben, fem von diesen- 
Nichtigkeiten und Fadheiten, ein tief innerliches, tief ernstes, ein Leben,, 
wo er sich mit den großen Denkern aller Kultumationen beschäftigte,, 
mit Byron und Shakespeare, mit Lessing, Goethe, Schiller, mit Rousseau,. 
Voltaire und von den eigenen Landsleuten vor allen mit Puschkin. Eine 
tiefgehende Wendung rief daher der unter so tragischen Umständen er- 
folgte Tod Puschkins auf ihn hervor. Er feierte den Dichtergenius in 
einer Ode „Auf den Tod des Dichters" (1837), imd in dieser Schob- 
er den Tod direkt der vornehmen Gesellschaft wegen ihrer ehr- und ver- 
nunftwidrigen Anschauungen und wegen der Verderbtheit ihrer Sitten zu. 
Mit dieser Ode war Lermontovs Dichtemame bekannt, sein Dichterruf 
begründet. 

Aber den jungen Leutnant traf die Strafe. Die entrüstete vornehme 
Gesellschaft setzte bei Nikolaus seine Versetzung nach dem Kaukasus 
durch. Für den Leutnant war das hart, für den Dichter von unendlichem 
Wert. Diesem Aufenthalt verdanken wir die schönsten Perlen seiner 
Poesie, die Schilderungen der Naturschönheiten des Kaukasus und der 
Sitten seiner wilden Völker, eine Naturmalerei, wie sie selbst Puschkin 
nicht gelungen ist. Lermontovs Großmutter, die sehr viel bei Hofe galt,, 
brachte ihn zwar bald wieder nach Petersburg zurück; aber Lermontov 
neigte zum Spötteln und Höhnen, eine Folge seiner falschen Erziehung, 
und so kam es zu einem Duell zwischen ihm und dem französischen 
Gesandten. Er wurde wieder nach dem Kaukasus strafversetzt, kam wie- 
der zurück, ging wieder dorthm, hatte wieder, aus ganz nichtigen Gründen,, 
hier ein £)ueU und fiel darb, 27 Jahre alt (1841). 



Michael Jnrgewitsch LermontoT 0^ 

Lermontov ist, wie gesagt, ByroD. Schon den Jungen sah man oft 
mit Byrons Gedichten unter dem Arm, und der junge Mann drapierte 
sich gern mit dem Byronschen Mantel. Auch Puschkin war in Bpon 
aufgegangen , hatte sich dann aber aus ihm herausgeschält. Das hätte 
vielleicht aucn^ Lermontov; nur ließ ihm das Schicksal nicht Zeit genug 
dazu. Die russische Kritik von früher erklärte ihn fUr einen sklavischen 
Nacharbeiter des englischen Dichters, so daß an ihm selber nichts Gutes 
übrig blieb; die heutige verfällt gerade in den entgegengesetzten Fehler, 
indem sie jede Anlehnung an Byron, auch an Lessing, Goethe, Schiller 
leugnet. Beides ist falsch, aber Lermontov bleibt bei aller Anlehnung 
doch ein großer Dichter. 

Wie Byron mit Vorliebe seine Stoffe aus dem fernen Osten wählt, 
weil er dort noch die reine, unverfälschte Natur im Menschen sah, 
während ihn der Mensch seiner Umgebung anekelte, so geht Lermontovs 
„Korsar" ^®) fort von der Heimat, zu den grauen Felsgestaden der Donau 
und dann weiter nach Griechenland und weiter, weiter zum wilden Meer ; 
so führen alle seine „östlichen" Gedichte „Chadsi Abrek", „Ismael 
Bey", „Der Dämon", und das herrlichste von allen „Mzyri" in die wilden 
Berge des Kaukasus, nach Grusien ^^). ^ 

„Ghadsi Abrek" ist der junge Kaukasier, der die Pflicht der Blut- 
rache am Mörder seines Bruders erfüllen will und dabei entdeckt, daß 
der ihm auch seine Geliebte geraubt hat, die aber glücklich mit jenem 
ist. Da tötet er nicht ihn, sondern sie. „Ismael Bey" ist der junge 
Grusinier, der vom Vater nach Rußland geschickt ist,, dem aber Heim- 
weh das Herz zersprengt; vergrämt, verzweifelt kehrt er unter unsäglichen 
Mühen und Drangsalen in den heimatlichen Aul (Dorf) zurück. Dem 
„Dämon" liegt die grusinische Sage von einem gefallenen Engel (d. i. der 
Dämon) zugrunde, der die georgische Ftirstentochter Tamara liebt; der 
Überirdische zerstört das Glück der Irdischen, er trägt jedoch dafür die 
Schmerzen eines Irdischen. Und endlich „Mzyri" ist der von den Russen 
gefangene und in einem russischen Kloster erzogene Tscherkessenknabe, 
den, wie Ismael Bey, die Sehnsucht nach der Heimat packt. £r flieht 
Und über reißende Gießbäche und tiefe Felsschluchten eilt er und durch 
Urwälder und über die nackten Höhen des Kaukasus, in sengender Mittags- 
glut und in der Eiseskälte der Nacht. Er sieht schon das heimatliche Dorf. 
Da stürzt plötzlich aus dem Dickicht ein Tiger, und ein wildes Ringen 
beginnt Er siegt, aber sinkt toderschöpft auf das Gras. Sein brechendes 
Auge blickt in den Bach. Da schwimmen die Fische herbei und ein gold- 
schuppiger sieht ihn wehmutsvoll an. 



„Mein eigen sei, 
Mein Kind, bei mir bleib da: 
Im Wasser ist das Leben frei, 
Und hier ist Kühl' und Ruh. 



Ich rufe meine Schwestern her: 
Und Tanzesreih'n und Scherz 
Klärt deinen Blick so kummerschwer, 
Erfreut dein müdes Herz. 

5* 



68 



Yierzehotet Kapitel 



Schlaf Weich dein Bett bereitet steht, 
Die Decke klar und rein, 
Im süßen Traum die 2^it vergeht, 
Die Welle wiegt dich ein! 



Ich liebe dich, da janges Blat, 
Dich mir za eigen gib ! 
Bist mir wie frische Wasserfiat, 
Mir wie mein Leben Iiebl'< 



Das ist Goethes „Fischer" und Goethes „Erlkönig". Ler- 
montov kannte Goethe, Schiller, Lessing genau; das wird sich an 
seinen Dramen noch näher zeigen. Lermontov kannte auch Byron 
genau und hat sich gern an ihn angelehnt. Alle die eben gezeichneten 
Gestalten, wie auch femer den „Bojaren Orscha" und den Träger 
der Handlung im Roman „Der Held unserer Zeit" sehen wir bei Byron 
im „Korsaren", im „Giaour", in „Lara", in der „Braut von Aby- 
dos'*, im „Childe Harold" usw. Eine Kritik, die das leugnet, legt 
sich selber die Binde vor die Augen. Trotzdem ist er, wie gesagt, ein 
großer Dichter. 

Ganz sein ist die eigenartige romantische Gestaltung des Stoffes 
und dann vor allem die die farbenprächtige Beschreibung der Natur- 
schönheiten des Kaukasus und die lebenswahre, lebenstreue und doch 
in romantischem Lichte glänzende Zeichnung der Bergbewohner und 
ihrer Sitten. 

Im Kaukasus spielt auch Lermontovs bestes Werk, sein Roman „Der 
Held unserer Zeit" (1839 — 1840). Der Held unserer Zeit ist ein Mann, wie 
ihn Lermontov nicht will, wie ihn aber das Rußland seiner Zeit wollte. Der 
Träger der Handlung, Pjetschorin, ist Offizier, gesund, kräftig, klug, ge- 
wandt, aber innerlich hohl, ohne Herzensbildung, ein kalter Egoist, ein 
Genußmensch, der, um zu seinem Genuß zu kommen, weder die Ehre 
noch das Leben der andern — Weib oder Mann — schont. Pjetschorin 
ist in seiner Philosophie, seiner Lebensauffassung der Don Juan, der 
Junker Harold Byrons. Auch die Abenteuer, die er in seiner Kaukasus- 
gamison erlebt, ähneln denen Byrons ; sie sind grausam, herzlos. Lermon- 
tov hat sich übrigens zum Teil in Pjetschorin selber porträtiert. Das alles 
würde abstoßen. Aber Lermontov will diese Fehler dadurch, daß er sie 
aufdeckt und offen bespricht, gerade brandmarken; er sitzt über ihnen 
wie über sich zu Gericht und verdammt sie. Das Schönste am Roman 
sind wieder die lebensvollen und lebenswarmen Naturschilderungen, das 
Lyrische. Die schönsten Stellen in allem, was Lermontov geschrieben 
hat, sind überhaupt die lyrischen. 

Lermontovs vornehmstes Gebiet ist die Lyrik. Oben ist das tief- 
innige, wehmutsvolle Liedchen aus „Mzyri" zitiert. Andere Kleinodien 
sind: aus seiner Frühzeit „Der Tod" (1830), „Der Engel" (1831); aus 
den späteren Jahren „Ein Gebet" (1837), „Die drei Palmen" (1839), 
„Die Wolken" (1840), „Das Kasakenwiegenlied" (1840), und die stolzen 
Verse, die der Bekenncr und der Prophet der Romantik, im „Dichter" 
(1839) spricht: 



Michael Jnrgewitsch Lermontov 



69 



„Wie schlugen eiost der Sänger 

klangmächt'ge Worte ein, 

Entzündend zn der Glut des Kampfes! 

Das Volk bedorfte ihrer 

wie des Pokals zum Wein, 

Wie beim Gebet des Opferdampfes. 



Sie schwebten über ihm 

gleichwie der Geist des Herrn, 
Und zum Gebet, gleichwie zum Sturme 
Der Schlacht, entflammten sie 

Die Völker nah und fern 
Wie Glockenklang Yom hohen Turme/' 



und im „Propheten" (1841): 

„Mir, nach des Ew'gen Ratschluß, dort 
Beugt sich die Kreatur der Erde — 
Die Sterne horchen meinem Wort 
Mit freudestrahlender Geberde.'* 

Der nationale Dichter, zu dem sich Puschkin so kraft- und macht- 
voll hindurchgearbeitet hatte, leuchtet bei Lermontov nur selten hervor — 
die Zeit seines Ringens war, wie gesagt, zu kurz; aber die wenigen Ge- 
dichte, zwei, die er geschrieben, „Borodino** (i 831) und „Das Lied vom 
Zaren Iwan Wassiljewitsch , dem jungen Opritschnik und dem tapfem 
Kaufmann Kalaschnikov", sind Meisterwerke. Wie gewaltig hebt sich trotz 
der so einfachen , gemütlichen Einleitung und Einkleidung des Ganzen, 
trotzdem die Geschichte in der stillen Dämmerstunde am warmen Ofen 
im kleinen Zimmerchen erzählt wird, das Ringen der Heere bei Borodino 
heraus und wie strahlt trotz des Unglücks Rußlands Größe! Und der 
Kaufmann Kalascbnikov, der so friedlich, ruhig alles hinnimmt, wie wird 
der mutig und entschlossen, als ihm die Ehre seiner Frau vom jungen 
Opritschnik angetastet ist ! Russischer Gleichmut imd russische Tapferkeit ! 

Lermontov ist kein Dramatiker; er konnte es gar nicht sein, weil 
seine Poesie Subjektivdichtung ist. Er hat jedoch ein paar Dramen ge- 
schrieben, Jugendwerke, die für uns eigentlich nur der russischen Kritik 
wegen Interesse erwecken. Er steht in diesen Dramen ganz auf deutschem 
Boden ^*). Das sind seine „Spanier" (1830) und „Die zwei Brüder" (1830). 
„Die Spanier" beruhen aber nicht, wie die russische Kritik von heute 
noch immer annimmt, auf Schillers „Räubern" und „Kabale und Liebe", 
sondern auf Lessings „Nathan" und auf „Emilia Galotti", und die „zwei 
Brüder" beruhen nicht auf Schillers „Braut von Messina", sondern auf 
den „Räubern". Außer diesen beiden Stücken hat er noch ein Drama 
mit dem deutschen Titel „Menschen und Leidenschaften" {1830) ver- 
faßt, die Geschichte der traurigen Verhältnisse in seinem Elternhause, des 
Zerwürfnisses zwischen seinem Vater und seiner Mutter; und schließlich 
noch „Die Maskerade" (1834). Der Held der „[Maskerade** ist ein 
zweiter Dämon. 

Lermontov hat bei uns in Deutschland sehr gute Aufnahme gefunden, 
größere und frühere als bei seinen Landsleuten. Schon 1840, also noch 
bei seinen Lebzeiten, gab Vamhagen unter dem Tilel „Bela" einen Ab- 
schnitt aus „Dem Helden imserer Zeit" heraus. Es folgen dann Auf- 
sätze über ihn, Übersetzungen einzelner Gedichte, bis 1853 der mit ihm 



^o F&nfzehntes Kapitel 



befreundete Bodenstedt eine hervorragende Übersetzung eines großen Teils 
seiner Schöpfungen brachte ^^). Freilich wird die Authentizität einiger von 
ihm gebrachter Gedichte von russischen Literarhistorikera bezweifelt. 
Lermontovs Werke sind auch ins Französische, Englische, Polnische, 
Serbische tibersetzt. Heute, wo man in Rußland den Wert seiner Dich- 
tungen erkannt hat und ihn anders einschätzt als früher, ist die Literatur 
über ihn ins Ungeheure gestiegen ^*). 

Fünfzehntes Kapitel 
Um Puschkin herum 

§ 40 I Die „neue" Poesie Puschkins breitet sich aus. Trotz der 
jammervollen äußeren Verhältnisse — vielleicht auch gerade durch sie — 
war der russische Geist erwacht und verlangte nach Arbeit und Schaffen. 
Eine ganze Schar wirklicher Dichter tritt mit Puschkin zusammen auf den 
Plan, die, zum Teil seine Freunde und Anhänger, nach ihm eine förm- 
liche Schule bilden, oder, in loserem Zusammenhang mit ihm, doch das 
Gemeinsame haben, daß sie mit der alten Zeit, d. h. dem französischen 
Klassizismus gebrochen haben. Am wenigsten nahe stehen ihm Ba- 
tjuschkov und Gribojedov; ganz sein sind Delwig, Jasykov, Baratynskij, 
Rylejev, Wjenjewitinov u. a. m. '^) 

§ 41 I Batjuschkov (1787 — 1855) gehörte zwar mit Puschkin 
zum Kreise Shukowskijs, zum Verein Arsamass, er wurde auch von Pusch- 
kin zärtlich geliebt, aber seine Dichtungen laufen nur zum Teil in dieser 
Richtung. Wohl hatte er etwas vom Romantiker an sich; er war ein 
Zerrissener, dessen Zerrissenheit sogar im Irrsinn endete. Es ist aber 
nicht der hervorstechendste Zug seiner Dichtungen: der Übersetzer von 
Tibull und von Horaz hat seine Kraft in der leichten Anakreontik, in der 
Erotik; er neigt zu den Franzosen imd sucht in ihrer heiteren und ge- 
fälligen Form zu glänzen. Es zog^ ihn aber auch zu Byron und Tasso ; 
sein Gedicht „Der sterbende Tasso" ist tief melancholisch, tief pessi- 
mistisch. Es zog ihn auch zu den Deutschen, zu Goethe, Schiller, Voß, 
Matthisson. Sein „Übergang über den Rhein", den er als Stabskapitän 
18 14 mitmachte, gibt ein herrliches, romantisches Bild vom Fluß, von 
seinen Ufern, seinen Bergen. Er wütet hier gegen dia Franzosen, um 
dann, als er in Paris einzieht, den „Franzosenfreund" zu besingen — 
ein unsteter, kranker Mann, sich aufbäumend gegen die Regierung, gegen 
die politischen und sozialen Verhältnisse, gegen sich selber, und dann 
wieder weich nachgebend und hin und her schwankend, aber in allem 
ein Dichter, ein hervorragender Lyriker. 

§ 42 I Ein anderer ist Gribojedov ^^) (1795 — 1829), Puschkins 
großer Rivale in der Gunst des Publikums; Puschkins „Eugen Onjegin" 
hatte eine Zeitlang einen schweren Stand gegen Gribojedovs Drama 



Um Paschkin heram 



7» 



IJ 



Verstand schaffi Leiden". Im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts stand 
die Bühne einmal wieder im Vordergrund des Interesses. Nicht allein 
in den großen und kleinen Städten spielte man, auch jeder größere Guts- 
besitzer bildete sich aus seioen Leibeigenen Schauspielertrupps, die ihm 
Possen, Vaudevilles, am liebsten Balletts vorspielen mußten. Hier und da 
ging über die russische Bühne aber auch Goethe, Schiller, Lessing, noch 
lieber Kotzebue; da Shakespeares Königsdramen vom Hofe und von 
der Regierung als revolutionär einfach verboten waren, hat sich erst eine 
spätere Zeit auch an die unschuldigeren herangewagt. Ein guter Dra- 
maturg und ein guter Förderer junger Talente war Fürst Scha- 
chowskoj. In seinem vornehmen Hause unterstützte er gern durch 
Rat und Tat emporstrebende Talente wie Gribojedov, Gnjeditsch, 
Katjenin, Kokoschkin, Sagosskin, Chmjelnizkij; schade, daß 
er auch ein Dichter sein wollte und dieses glaubte durch 80 — sage 
achtzig — Stücke beweisen zu müssen. 

Gribojedovs „Verstand schafil Leiden" ^^ (1824) stellt zwei Gene- 
rationen der vornehmen Gesellschaft einander gegenüber, die ältere in 
Famussov, dem als höchstes, einzigstes Ideal der Rang, die Rangstufen 
erscheinen, der verächtlich auf alles andere, vor allem auf die Wissen- 
schaft herabsieht, dem vom Wissen nur die französischen Brocken und 
Gesellschaftsßoskeln imponieren. Auf der andern Seite steht der die 
jüngere Generation repräsentierende Tschazkij, der diese Sucht, das Fran- 



zösische nachzuäffen, die knechtische Verehrung des Auslands auf das 
schärfste geißelt, sich aber mit seinem gesunden „Verstände" bei seinen 
verbohrten Landsleuten nur „Leiden schafft". Daß Gribojedov mit seiner 
bittem Satire in ein wahres Wespennest gestochen hatte, beweist der großartige 
Beifall der einen, beweisen die heftigen Anfeindungen der andern; diese 
und jene ironische Bemerkung, dieses und jenes Bonmot gingen so 
von Mund zu Mund, daß sie zum Sprichwort geworden sind. Man muß 
sagen, daß aus mancher spöttischen Redewendung, aus dem Dialog oft 
französischer Esprit hervorleuchtet. Deshalb aber und weil er die Regeln 
von den drei Einheiten beobachtet, Gribojedov für den Pseüdoklassizis- 
mus in Anspruch nehmen zu wollen, geht zu weit. Goethe hat im 
„Torquato Tasso" auch die drei Einheiten. Und wenn er nun einmal 
zum Pseudoklassizismus sich bekennen wollte, warum ließ er es dann bei 
dieser einen Äußerlichkeit bewenden und nahm nicht auch die zweite, 
den Alexandriner? Dafür hat er jedoch Jamben mit wechselnder Länge. 
Eher könnte man sagen, er gehörte, obwohl er aus Voltaire, aus Viktor 
Hugo übersetzt hat, zu den Deutschen; denn abgesehen davon, daß er 
deutsch erzogen war, daß Schlözer, Buhle auf der Universität seine Lehrer 
waren, daß er für Goethe, Schiller, Wieland, Shakespeare eine aus- 
gesprochene Vorliebe hatte, abgesehen hiervon sein „Verstand schafft 
Leiden" baut sich auf Wielands „Geschichte der Abderiten" auf. 



72 Fünfzehntes Kapitel 



Als die AnfeinduDgen wegen seines Stückes außerordentlich heftig 
wurden, zog sich Gribojedov eine Zeitlang in stille Abgeschiedenheit zurück, 
und hier suchte er und fand er Erholung in der Übersetzung des Pro* 
logs von Goethes „ Faust *S und das war keine augenblickliche Laune, 
sondern seine Künstlerbeichte. Romantik, nicht die Byronsche, sondern 
die Shakespeare - Goethesche , atmet auch seine unvollendete Tragödie 
„Eine Nacht in Grusien'^ Die erhabene Natur der kaukasischen Berge 
ist grofiartig gezeichnet. 

Gribojedov kannte durch seinen längeren Aufenthalt als Gesandt- 
schaftssekretär Grusien sehr genau. Als er von dort in die Stellung 
eines bevollmächtigten Ministers nach Teheran ging, wurde er hier von 
einem fanatischen Volkshaufen ermordet. 

§ 43 I Delwig (1798 — 1831) hat in manchem seiner „Russischen 
Gedichte" den echten Ton des Volksliedes getroffen. Er ist vor allem 
Lyriker, auch in seinen Idyllen. In einer Sanmilung von Gedichten und 
Prosabeiträgen, die er mit Unterstützung seiner Freunde Shukowskij, 
Puschkin u. a. unter dem Titel „Blumen des Nordens" herausgab, ist 
der hervorstechendste Zug „die deutsche Sentimentalität und die roman- 
tische Melancholie". Die deutsche Sentimentalität lag ihm durch die 
Geburt; seine Voreltern gehörten zum westfälischen Baronsgeschlecht der 
Dalwig. Er gab auch im Sinne der „neuen" Poesie 1830 die „Lite- 
raturzeitung" heraus. Als er bald nachher starb, war Puschkin, der ihn 
von der Schule in Zarskoje Ssjelo her kannte, geradezu untröstlich. 

Jasykov (1803 — 1846) wird der „russische Anakreontiker" ge- 
nannt. Als Sänger des Bacchus, der Freundschaft, der Liebe hat er sich 
durch seine klangvollen und dabei innigen „Gedichte" (1833) wohlver- 
dienten Ruf erworben. Puschkin schenkte ihm seine Aufmerksamkeit, 
und von da ab wandte er sich ganz dessen „netier" Poesie zu. Als 
Redakteur des „Moskauer Boten" arbeitete er für diese Richtung. Außer 
den Anakreontika zeigen auch seine Elegien, seine vaterländischen Ge- 
dichte („Meine Heimat" — «Oleg") tiefes Empfinden und wahres Ge- 
fühl. Leider wurde aus dem oft recht lockeren Sänger der Liebe ein 
Frömmler und aus dem Freiheitsdichter ein Reaktionär, der sogar seine 
früheren Freunde denunzierte: sein Charakterbild schwankt also nicht. 

Baratynskij (1800 — 1844) wurde von Puschkin höher als Delwig 
und Jasykov eingeschätzt. Er vertritt die „neue" Poesie, aber mehr nach 
der Byronseite hin. Seine Gedichte sind auf den traurigen, melancholischen 
Ton gestimmt, voller Reflexionen, voller Selbstzerfleischung ; Puschkin 
nannte ihn gern seinen „Hamlet". In seinem Gedichtband „Abend- 
dämmerung" (1842) ist manches Hübsche, Zarte, Stimmungsvolle. Er 
war ein großer Verehrer Goethes; sein Gedicht „Auf den Tod Goethes" 
(1833) ist tief empfunden. Durch einen längeren Aufenthalt in Finland 
— er war dort Offizier — war er mit der finländischen Natur und dem 



Um Puschkin hemm 



73 



Wesen seiner Bevölkerang sehr vertraut geworden ; er hat beides in seinem 
größeren Gedicht „Eda'^ ausgezeichnet gemalt. 

Eine Byronnatur, wie Baratynskij, aber nicht wehmütig und sich zer- 
fleischend, sondern feurig, kraftvoll, ein Mann der Überzeugung und der 
Tat ist Rylejev (1795 — 1826). Seine Überzeugungstreue besiegelte er 
mit dem Tode; er wurde als Hauptbeteiligter an der Militärverschwörung 
von 1825 mit den andern Führern in der Peter-Pauls-Festung gehenkt. 
Sein episches Gedicht „Woinarowskij " (1825 — Woinarowskij war der 
Waffengefährte Maseppas gegen Peter und wurde, geschlagen, zu entsetz- 
lichem Schicksal nach Sibirien verbannt) ^ atmet Byronschen Geist und 
geht im Stile seiner Romantik. Chamisso hat es trefflich übersetzt (mit 
dem Titel „Die Verbannten"). Der nationale Dichtef spricht aus seinen 
„Träumereien" (1825), die sozusagen eine Geschichte Rußlands in Versen 
sind ; er träumt sich in die Heldenzeiten der Ahnen zurück und will sein 
Volk durch diese Beispiele gegen die jetzigen Machthaber entzünden. Ein 
unparteiischer Historiker ist er freilich nicht. 

Die Vorhergehenden überragt der jung verstorbene Wjenjewitinov 
(1805 — 1827). Er ist ein großer Verehrer Schellings, Goethes, Pusch- 
kins. Sein „Dichter" gibt sein romantisches Bekenntnis ganz in dem 
Sirme von Puschkins „Dichter" und von dessen „Propheten". Obwohl 
von Naturanlage viel mehr eine Byronnatur, schwärmte er für Goethe; 
er hat vorzüglich Szenen aus „Faust", dann die dramatischen Spiele 
„Künstlers Erdenwallen" und „Künsüers Apotheose" übersetzt. Zum 
Kult der „neuen" Poesie gründete er noch kurz vor seinem Tode den 
„Moskauer Telegraphen" (1827), für den ihm Puschkin seine „Szene 
zwischen Faust und Mephistopheles" zur Verfügung stellte. 

Durch das Studium Puschkins reifte die dichterische Kraft eines 
andern, seltsamen Menschen aus, des Autodidakten Kolzo v (1809 — ^^4^)$ 
des russischen „Bums". Er ist der beste Volksliederdichter'®) 
Rußlands. Aus dem Volke hervorgegangen und immer in engster Be- 
rührung mit ihm — sein Vater wie er waren Viehhändler — , fühlte er 
alle Freuden und Sorgen mit ihm und wußte er diese in innige, schlichte, 
einfache Töne zu kleiden. Seine „Russischen Lieder" sind tief aus der 
Seele des Volks geschöpft, wachsen hervor aus dem weiten, grünen Boden 
der heimatiichen Wiesen und Felder („Die Ernte", „Des Landmanns 
Lied", „Der Wald"). Der so weich- und zartfühlende Dichter ging 
frühzeitig an der Schwindsucht zugrunde; die Gedichte des Mannes, der 
erst in späteren Jahren schreiben lernte, wurden 1846 von Bjelinskij 
herausgegeben. ^ 

Es gehört noch eine ganze Reihe von keineswegs unbedeutenden 
Namen hierher : der früh erblindete K o s 1 o v („Der Mönch" nach Byron); 
D. Dawydov („Soldatenlieder"); Herr und Frau Glinka (sie — Über- 
setzerin von Schiller); und vor allen der durch tiefe Gedanken, innige 



yj Sechzehntes Kapitel 



Gefühle, lebenswarme Naturschilderungen ausgezeichnete Tjuttschev 
(auch guter Übersetzer von Goethe, Schiller, Heine; eine Auswahl seiner 
Gedichte ist ins Deutsche übertragen) ; dann der recht klangvolle, aber etwas 
erotisch angehauchte Wjerdjerewskij; der auch als Elritiker $ehr tätige 
Fürst Wjasemskij; die beiden Brüder Tumanskij; Tjepljakov u. a. 

Sechzehntes Kapitel 

Die Realisten (Naturalisten). — Die Westlinge. — 

Die Slawophilen 

§ 44 I „Die naturalistische Schule". So wurden Gogol und seine 
Anhänger zunächst spöttisch von der Kiitik genannt. Der Spott hörte 
bald auf. 

GogoP^) (1809 — 1852) ist der größte Humorist Rußlands gewesen, 
ein wehmütiger Humorist; sein Lachen ist ein Lachen unter Tränen, 
denn was er schreibt, ist eigentlich furchtbar traurig, ist zum Weinen; es 
wird nur durch den darüber hinflutenden Humor erträglich. 

Gogol ist der Vater des russischen Realismus Auch Pusch- 
kin ist Realist, aber Puschkin malt nicht, wie er, nur die Schattenseiten 
des Lebens, im Gegenteil, er bevorzugt die Sonnenseiten. Gogol dagegen 
zeichnet, vor Dostojewski] und lange vor Zola und Gorkij, mit Vorliebe 
den Abhub der Gesellschaft, das menschliche Laster, die menschliche 
Schande. Freilich werden die Schärfen, das Bittere, das Herz und 
Seele Zermürbende solcher Gemälde durch den über alles und alle hin- 
strömenden Humor milder, sanfter, versöhnlicher, wie es annähernd etwa 
nur Dickens versteht. 

Der junge Gogol ist ein anderer als der Gogol der mittleren Jahre 
und gar als der spätere. Der junge war, bevor er sich und seine Eigen- 
art fand, Romantiker, deutscher Romantiker. Seine ersten Werke sind 
direkt dem Deutschen entlehnt. Er hat die Deutschen nie geliebt, aber vor 
deutscher Bildung und deutschem Wissen großen Respekt gehabt. „ Schlözer, 
Müller, Herder", schreibt er in seinen „Arabesken" (1832), „sind die 
großen Baumeister der Weltgeschichte". Ebenso nahe stehen ihm Goethe 
und Schiller, und sein erster literarischer Versuch ist das von ihm 
nachher wegen erfolgter schlechter Kritik verbrannte romantische Idyll 
„Hans Küchelgarten" (1827), das nicht allein den Stoff, sondern die 
einzelnen Personennamen direkt aus Voß' „Luise" entnommen' hat; Voß' 
„Luise" war 1820 in russischer Übersetzung erschienen. Ebenso ist 
seine Novelle „Das Porträt" (1834), das die Seelentragödie eines jungen 
Künstlers schildert, welcher Verrat an der echten, reinen Kunst übt, 
E. T, A. Hoffmann. 

Romantisch sind auch die „Abende auf dem Meierhof bei Dikanka" 



Die Realisten (Naturalisten). — Die Westlinge. — Die Slawopbilen yc 

(1832) und ihre Fortsetzung, die Sammlung „Mirgorod" (1834), mit 
mehreren Erzählungen, unter denen die besten „Altmodische Gutsbesitzer" 
und die historische Erzählung aus dem 16. Jahrhundert „Taraß Bulba** 
sind: die ersteren - — Schilderungen des idyllischen kleinrussischen Lebens ^% 
mit alten Sagen und Legenden durchwoben j die letzteren — Gemälde 
voll dramatischer Kraft vom alten Kasakentum und seinen wilden Kämpfen 
für Land und Glauben mit den Tataren, Türken, Polen, auch sie mit 
poetischen Volkssagen durchzogen. In allem, in der Charakteristik der 
Personen wie in der Naturbetrachtung, regiert das Träumerisch-Phantastische 
der Romantik. 

Land und Menschen in diesen Bildern sind Gogols Heimat, sind 
seine Landsleute. Gogol wurde im Gouvernement Poltawa geboren; sein 
Vater war da ein wohlhabender kleiner Gutsbesitzer. Hier hörte er von 
den alten Bauern und Bäuerinnen die Volkslieder und Volkssagen der 
Ukraine; hier beobachtete er die Natur Kleinrußlands, die Sitten tmd 
Gewohnheiten seiner Bewohner. Der Humor leuchtet auch schon golden 
in diese Frühwerke hinein; wie launig zeichnet er in den „Altmodischen 
Gutsbesitzern" die eigenen Eltern, mit welcher Wehmut verweilt er bei ihnen! 

Verlassen wird jedoch bald die Romantik, verlassen auch die klein- 
russische Heimat, und es tritt an ihre Stelle der Realismus in den „Petersburger 
Erzählungen" (1836). Der Realismus steigert sich noch in seinem Lust- 
spiel „Der Revisor" (1836). Das Stück hatte einen gewaltigen Erfolg; 
es wird noch heute gern gespielt, auch bei uns. Es geißelt die Bestech- 
lichkeit und die Borniertheit der russischen Beamtenwelt mit rücksichts- 
loser Schärfe. Alle Häupter einer Provinzstadt haben vieles auf dem 
Gewissen und sind daher in Angst vor einer Revision. Sie halten einen 
unbedeutenden Menschen für diesen Revisor, sie erweisen ihm die größten 
Ehrenbezeugungen, sie umwedeln ihn, geben ihm Geld ; zu spät sehen sie 
ein, daß sie von einem Windbeutel betrogen sind. 

Das Stück hat wenig Inhalt, auch eine dürftige Verwicklung, aber 
es ist voll sprudelnden Humors und eine bittere, sehr bittere Satire, und 
dabei hat sich Gogol, wie er selber versichert, noch manchen Zwang 
auferlegen müssen, um es vor der Zensur zu retten *^). 

Gogol hat sich noch in einigen Komödien versucht: „Die Spieler" — 
„Das Lakaienzimmer" — «Die Hochzeit"; sie hatten wenig oder gar 
keinen Erfolg. 

Neben dem sehr großen Beifell, den „Der Revisor" fand, entstanden 
ihm aber auch Unarmehmlichkeiten, * die ihn bei seiner krankhaften Ver- 
anlagung empfindlich trafen. Der gesunde Gogol wäre darüber hinweg- 
gekommen, waren doch seine äußeren Verhältnisse keineswegs mißlich — 
Shukowskij und Puschkin hatten ihm eine Professur für Literatur an der 
Petersburger Universität verschafft — , aber den krankhaft gereizten ließ 
es nicht niehr im Vaterland, er ging ins Ausland, und von nun ab führt 



^6 Sechzehntes Kapitel 



er ein ruheloses Dasein. Er nahm Aufenthalt in Rom, besuchte andere 
Städte Europas, war in Marienbad, in Wien. Seine Gesundheit besserte 
sich nicht, seine Gemütsver&ssuug wurde schlimmer. Er kehrte nach 
Rußland zurück, verließ es wieder und fuhr nach Jerusalem. Von da 
ging er nach Konstantinopel, dann zurück nach Odessa, nach Moskau. 
Hier starb er, in geistiger Umnachtung, 1852. 

Obwohl er krank war, hat er noch mehrere große Werke geschrieben ; 
den meisten ist der Stempel der Krankheit aufgedrückt. 

In Rom hat er sein unvollendet gebliebenes Sittengemälde „Die 
toten Seelen" begonnen (1835 — 1842). Es ist ein Buch voll köstlicher, 
satirischer Typen. Der äußere Rahmen ist: Tschitschikov , ein armer 
Beamter, will reich werden ; in seinem Steuerdienst ist das nicht möglich. 
Er beschließt nun, bei mehreren Gutsbesitzern die „toten Seelen" auf- 
zukaufen, d. h. Bauern, die nach der Volkszählung, die in Rußland nur 
alle zehn Jahre stattfand, gestorben sind. Mit den Kaufpapieren will er 
dann in irgendein wenig bevölkertes Gouvernement gehen und sie dort 
^ur Ansiedlung verkaufen. Deshalb reist er in Rußland herum, verkehrt 
mit den verschiedensten betrügerischen Gutsbesitzern, kauft sehr billig 
natürlich diese Seelen und verkauft sie teuer wieder. Endlich verfällt er 
dem Gericht. 

Den Gedanken hierzu wie zu seinem „ Revisor*' hatte ihm übrigens 
Puschkin gegeben; Puschkin selbst war einmal fiir einen solchen Revisor 
gehalten worden. 

Die „toten Seelen" erregten ungeheures Aufsehen; von einzelnen 
Kritikern wurde Gogol neben Homer und Shakespeare gestellt. Auch 
Puschkin war entzückt; freilich fühlte er zu seinem größten Schmerz 
heraus, daß „ganz Rußland so aussah". Natürlich gab es auch Tadler, 
die Gogol vorhielten , er verstehe nur schlechte Menschen hinzustellen^ 
und nun passierte das, was nur seine Krankheit erklärlich macht, er kam 
auf die Idee, den „toten Seelen" eine Fortsetzung in einem 2. und 3. 
Bande zu geben, wo diese Leute, durch die Religion und den Glauben 
geläutert, in Tugend glänzen. Dieser Gedanke wurde tiefgründig theo- 
logisch, mystisch durchgeführt; er selber gefiel sich als Heiland. Als 
das Buch fertig war, schien es ihm nicht religiös genug, er warf es ins 
Feuer, schrieb ein neues tmd warf es wieder ins Feuer. Wir haben 
heute nur Entwürfe. D^mit seine Freunde aber ja seine Umkehr sähen, 
veröffentlichte er „ Ausgewählte Stellen ' aus einer Korrespondenz mit 
Freunden" (1847), eine mystische, finstere, trübselige Arbeit. Das Resultat 
war, daß er alle Freimde verlor; selbst der Kritiker Bjelinskij, der ihn 
einst vergöttert hatte, sagte sich von ihm los. 

Gogols Zustand wurde immer schlimmer; er starb, wie gesagt, in 
geistiger Umnachtung ®2), 



Die Realisten (Naturalisten). — Die Westlinge. — Die Slawophilen »jj 

§ 45 I Wie die Romantiker ihre Kritiker hatten, durch die sie erst 
ihre richtige Wertung beim Publikum erlangten, so wird der Herold des 
Realismus (Naturalismus) Bjelinskij. 

Bjelinskij und Herzen, die Häupter der „Westlinge", 
kamen aus dem „aufgeklärten" Moskau. Es zeigt sich wieder, wie schon 
öfters, ein tiefgehender Unterschied zwischen Petersburg und Moskau. 
Moskau war weit vom Zaren, und daher lastete hier der Druck nicht 
so wie am Sitze der Regierungsmaschinisten. Wir sind in der Zeit, wo 
Wissenschaft und Kunst unter Obhut und Fürsorge einer hohen Peters- 
burger Polizei standen, wo diese die Philosophie nur von Theologen 
lehren ließ, wo die Zensur allen, nur sich keine Schranken auferlegte, 
wo man nicht ins Ausland reisen durfte, als Ersatz dafür aber auch von 
ausländischen Büchern ferngehalten wurde, und wenn im Lande etwas 
gedruckt werden konnte, es seine Au&ahme in der von den Regierungs- 
redakteuren Bulgarin und Gretsch geleiteten „Nordischen Bien«" finden 
mußte. 

Moskau ist, ohne Eisenbahn, weit von Petersburg ; außerdem lag es 
da ganz hinten, in der „Provinz", besonderer Beachtung weiter nicht wert. 
Da lehrte man denn ruhig Schellmg, Fichte, besonders Hegel. Nadjeshdin, 
Dawydov, Schewyijov trugen über die „revolutionäre" Romantik und die 
neuere Literatur und Geschichte vor. Zu ihren Schülern zählten Bjelinskij 
und Herzen. 

Bjelinskij hatte schon einen Vorgänger gehabt, der auch nach dem 
Westen blickte und der russischen Zivilisation und Intelligenz mit dem 
größten Skeptizismus gegenüberstand, Tschaadajev; seine „Philo- 
sophischen Briefe", von denen nur der erste gedruckt wurde, im „Tele- 
skop" 1836, zeigen das; aber er sah die Hilfe nur im westlichen Katho- 
lizismus, also sehr einseitig. Anders Bjelinskij. 

Bjelinskij ®3) (181 1 — 1848) gilt als der bedeutendste Kritiker Ruß- 
lands , wegen der Schärfe und der Folgerichtigkeit seines Urteils. . Das 
ist natürlich kein starres gewesen und geblieben. Als Jünger Schellings 
und als Schüler Nadjeshdins vertrat er zunächst den idealen Standpunkt 
beider, der, auf die russische Literatur angewendet, die glückliche Ver- 
bindung von Romantik und Klassik, wie sie durch Puschkin repräsentiert 
wurde, forderte. In diesem Geleise laufen die Aufsätze, die er flir 
Nadjeshdins „Moskauer Teleskopen" schrieb, laufen seine „Literarischen 
Träumereien". 

Bjelinskij war eine Kampfnatur, er suchte den Kampf — wo konnte 
er den besser haben als in Petersburg? Selbst das Schicksal des ver- 
armten, verspotteten, verfehmten Polevoj®*) (1796 — 1846) — das war 
dessen Los nach dem Eingehen des „Moskauer Telegraphen" — schreckte 
ihn nicht zurück; er selber kannte Not zu genau, seitdem er von der 
Univeisität wegen seines Dramas „Dmitrij Kalinin", in dem er gegen 



^3 Sechasehntes Kapitel 



die Leibeigenschaft geeifert hatte, relegiert war; er hatte auch einen 
siechen, schwindsüchtigen Körper. Das alles hinderte ihn nicht ; er ging 
nach Petersburg, und nun wurde hier aus dem Romantiker-Klassiker der 
Naturalist. Nicht gleich; zunächst nahm er nur den Kampf gegen die 
Regierungsredakteure Bulgarin und Gretsch in den' „Vaterläiidischen 
Annalen'^ auf, mit Erfolg. Dann rückt er aber so nach und nach von 
Schelling ab ; er beschäftigt sicl^ unter dem Einfluß Bakunins mit Fichte, 
darauf mit Hegel („das Wort ^Wirklichkeit wurde mir gleichbedeutend 
mit Gott"), und als er nun Gogols Werke in sich aufgenommen hat, 
kämpft er in aller Leidenschaft in seinem „Zeitgenossen" für diesen, für 
Dostojewskij , Gontscharov, Herzen, für ihren Naturalismus, für ihren 
Realismus. Von diesem Standpunkt aus — er ist ja einseitig — ver- 
steht man, daß er Puschkin, den er einst vergöttert hatte, jetzt vorwarf, 
er habe nicht genug Bezug auf die Gegenwart genommen, und daß er 
den Gogol der „Korrespondenz mit den Freunden" vollkommen fallen 
ließ, wenn auch schweren Herzens. Der Schwindsüchtige starb schon 1848. 

Herzen®^) (181 2 — 18 70) hatte sich, genau wie Bjelinskij, als Student 
an den Freiheitsdichtungen Schillers berauscht, obwohl seine Erziehung 
eigentlich französisch gewesen war ; die deutsche Mutter hatte auf deutsche 
Erziehung wenig Gewicht gelegt — übrigens eine etwas sonderbare Ehe, diese 
elterliche ; sein Vater, der reiche Fürst Jakowlev, hatte die Stuttgarterin, die 
er gern mein „ Herz(ch)eQ " nannte, in Rußland nicht legitimieit. Herzen hatte 
weniger als ßjelinskij sich an Schelling angeschlossen ; er war Hegelianer — 
Hegel stand damals in Rußland auf der Höhe seines Rufes — tmd vor 
allem Naturwissenschaftler, aber noch keineswegs Atheist. Selbst nach 
jahrelanger Intemierung in Pjerm und in Wjatka wegen Verdachtes der 
Zugehörigkeit zu einer Saint- Simonistischen Gesellschaft schrieb er noch 
religiöse Dramen. Auch sein Roman „Wer ist schuld?" steht dem noch 
fern. Er entwickelte sich erst nach und nach dazu. Der Roman ist der 
erste einer langen Reihe von Romanen, die den Leser zum Kampf auf- 
rütteln wollen nicht allein gegen die herrschenden Gesellschaftszustände, 
die sozialen Verhältnisse, sondern vor allem gegen den russischen 
Charakter. Der Held — vielleicht Herzen selber — ist ein guter, 
ehrenhafter, geistreicher Mensch, aber ein „überflüssiger", weil er 
keine einzige edle Absicht verwirklicht, aus Mangel an Tatkraft, an 
Arbeitsfreude. Wer ist schuld, fragt der Verfasser, nämlich an unserm 
Unglück? Die russischen Verhältnisse, der russische Mensch, das russi- 
sche Herz, der russische Charakter. Und wodurch kann man dem Elend 
entgehen? Nur indem man schafiFt, wirkt, arbeitet, wie es die — Deut- 
schen tun. 

Angewidert von den russischen Verhältnissen, verließ er seine Heimat, 
ging nach Deutschland, Italien, Frankreich, endlich nach London. Aus 
dem Romandichter, dem philosophisch -ästhetisierenden Schriftsteller — 



Die Realisten (Naturalisten). — Die Wcstlinge. — Die Slawophilen 7^ 

er hatte inzwischen wieder zwei sehr hübsche, vom Publikum verschlungene 
Werke „Vom andern Ufer" und „ßriefe aus Italien und Frankreich", 
die beide zuerst deutsch erschienen (Hamburg 1850), veröffentlicht — 
entwickelte sich nun der Politiker. Neben mehreren Einzelschriften hat 
vor allen seine Zeitschrift „Die Glocke", mit dem Schillerschen Motto 
Vivos voco, von 185 1 ab ungeheures Aussehen tiberall hervorgerufen; 
sie griff die sozialen russischen Mißstände, die Verbrechen der Leib- 
eigenschaft in so scharfer imd dabei so überzeugender Art an, daß deren 
endliche Aufhebung zu einem guten Teil auf ihr Konto zu setzen ist. 
Die Politik wurde von jetzt Herzens Beruf, und in ihr hat er auch seine 
schönsten Lorbeeren geerntet, aber er hat dabei nie den Ästheten 
vergessen. Wir verdanken seiner Londoner Tätigkeit die ersten Ver- 
öffentlichungen von Puschkin, Lermontov usw. ohne die Lücken der Zensur. 
Herzen, der Flüchtling, übrigens vielfach in der „Glocke" von der nächsten 
Umgebung des Thrones unterstützt, beherrschte in Wirklichkeit Jahre hin- 
durch ganz Rußland; erst als er in seinem Gerechtigkeitssinn zur Zeit 
des polnischen Aufstandes sich auf die Seite Polens stellte, schwanden 
seine „Glocke" und sein Ansehen. Herzen wanderte wieder, nach Genf, 
nach Paris; er konnte sein Ansehen nicht herstellen. Er starb in 
Paris, 1870. 

Herzen war aus Rußland entflohen, mit der größten Hoffnung auf 
den Westen. Der Westen hatte ihm ja auch die Freiheit gegeben, zum 
Segen des Vaterlandes. Aber er sah auch hier Verhältnisse, die ihm 
bald das Wort vom „faulenden" Westen eingaben, die ihn so wenig 
glücklich machten, daß manche seiner Äußerungen ein Zurück- 
sehnen nach dem verlorenen heimatlichen Boden verraten, daß manche 
seiner Äußerungen auch ein Slawophile getan haben könnte. Diese 
Gedanken, ein Bekenntnis seines innersten Herzens über Kunst, 
Wissenschaft, Religion, Politik, über Hohes und das Alltäglichste, sind 
in seinem sprachhch wie gedanklich gleich hochstehenden Buche „Die 
Vergangenheit und Gedanken darüber" (1852 — 1855) niedergelegt. 

Alle Schriften Herzens bis in die ftinfziger Jahre hinein erschienen 
unter dem Pseudonym Jskander. 

Noch einen bedeutenden Schritt weiter geht Michael Bakunin 
(1814 — 1876), der Apostel des Anarchismus. Er war wie Herzen Mos- 
kauer Student gewesen, hatte Schelling, Kant, Fichte, besonders Hegel 
studiert, den letzteren persönlich in Berlin gehört. Von der Philosophie 
ging er jedoch bald zur Politik über. Eine Reihe teilweise deutsch 
geschriebener Bücher bekundet den extremen Kommunisten, den An- 
archisten. 

§ 46 I Auf der Moskauer Universität war von derselben Mutter, von 
der Romantik, der feindliche Bruder der Westlinge, der Slawop^ilis- 
mus, geboren. Die Romantik hatte das Nationale betont. Das taten 



gO Seduetintei Kapitel 

die Slawopbilen auch, nur betonten sie es zu scharf, &Sten sie es zu 
einseitig auf^ setzten sie neben das heimische Glück den Ha8 des Frem- 
den. Bei den Slawophilen tritt bald ganz die Politik in den Vordergrund, 
übrigens nicht so unberechtigt, denn Alezander I. hatte unbedingt die 
Deutschen bevorzugt, und Nikolaus L schützte und unterstützte bewuSt 
zwar das AUrussentum, unbewufit aber machte er es wie Alexander; nur 
war er weniger einseitig, er schätzte alles Fremde. 

Der Chorführer der Slawophilen war der Moskauer Alcademieprofessor 
fÜrTheologic und flir Sprachen Chomjakov**) (1804— 1860), der Schwager 
Jasyko»s. Er ist Romantiker; sein Gedicht „Begeisterung" wurde vom 
Moskauer Boten ab der Typ deutscher Romantik bezeichnet. Sein Haupt- 
feld ist, wie gesagt, das Nationale. „Der Grund seiner Poesie und seiner 
ganzen Tätigkeit war der unetschütterhche Glaube an die welthistorische 
Bedeutung der rech^läubigen Kirche und Rußlands. Seine Verse sind 
Hymnen auf das Christentum und das russisch- slawische Volkstum." 
Dieses Geistes sind seine „Lyrischen Gedichte" (1844), die seinen Namen 
weit über die Grenzen Rußlands getragen haben, auch seine Dramen 
„Jermak" (1833 — Jermak war der Eroberer Sibiriens) und der 
„Pseudo-Dmitrij" (1833). Chomjakov vertrat das Allslawentum — er 
fordert die Bulgaren, Serben, Kroaten auf zum Kampf gegen das türkische 
Joch — übrigens nicht bloS in Liedern, sondern er focht 1818 selber 
mit gegen die Tütken. In späteren Jahren war er Vorsitzender der 
„Gesellschaft der Liebhaber der russischen Poesie", einer der vielen 
Vorkämpferinnen für die „neue" Poesie. 

Ein sehr eifriger Slawophile, Gründer des Moskauer Slawenkomitees, 
ist auch der angesehene Moskauer Gescbicbtsprofessor Michael Petrowitsch 
Pogodin*') (1800 — r87s) gewesen. Er war hterarisch außerordentlich 
tätig. Der „Moskauer Bote" stand gerade in den schwersten Kampfes- 
jahren der „neuen" Poesie unter seiner Leitung (1827 — 1830). Welche 
Bedeutung man ihm beimafl, zeigt eine andere Zeitschrift „Der Tele- 
skop": „Die neue Poesie war da mit Puschkins „Boriss Godunov", mit 
Sagosskins Romauen und mit Pogodins „Marfa Possadniza" (r83i). 
Denselben Stoff^ d. h. die muüge Verteidigung Novgorods gegen Iwans IV. 
Ansohlte, hatte auch Karamsin behandelt. Pogodin wußte in der 
deutscheu Literatur sehr gut Bescheid; er übersetzte Goethes „Götz" (1838). 
Zahlreich sind seiue historischen Schriften. 

n:. T.~i:tjt ^^j jjieg bei Konstantin Akssakov dem Sohn. Schon 
ergej Akssakov (r79i — 1856) ist slawopbil. Aber da 
lies noch in liebenswürdiger, ruhiger, humorvoller Form aus ; 
It (1856) herausgegebene „Familienchronik" ist ein Meister- 
schen Familienlebens, auf den alten Herrensitzen im süd- 
Sland. Ebenso bieten seine „Kinderjahre Bagrows des 
ist poetische Bilder aus der eigenen Kindheit. Meisterhaft 



Der realistische (oataralistische) Roman. — Turgenjev. — GontscharoY 3l 

zeichnet er auch das geheimnisvolle Leben und Weben in der Natur in 
seinen „Aufzeichnungen eines Jägers im Gouv. Orenburg" (1852). In 
der Landschaftsmalerei, kann man sagen, hat ihn weder Gogol noch 
Turgenjev erreicht. 

Ein anderer ist Konstantin Akssakov (1817 — 1861). Konstantin 
war gleichfalls von der Romantik ausgegangen; er hat mehrere Schiller- 
sche Gedichte gut tibersetzt. Die eigenen lyrischen Gedichte zeigen gleich- 
falls gedankenvollen, stimmungsvollen Ernst. Sein Beruf, sein Kampffeld 
wurde aber die Politik. Von 1846 ab ist er Mitarbeiter aller Zeitschriften 
slawophiler Richtung, gibt er den Ton für alle Versammlungen und Be- 
schlüsse der großen slawophilen Partei an und predigt die Kulturmission 
des slawischen Volkes für alle übrigen Völker. Selbst seine wissenschaft- 
lichen Arbeiten, z. B. seine Schrift über „Das Leben der alten Slawen 
überhaupt und der Russen insbesondere** (1852), zeigen seine aus- 
gesprochene Kampfesnatur. 

Nicht so scharf tritt sein Bruder Iwan Akssakov hervor; er wirkte 
aber auch mit seiner panslawistischen Zeitung „Der Tag" (1861) ganz 
im Sinne Konstantins. 

Der reaktionärste unter allen istKatkov(i8i8 — 1887). Ursprüng- 
lich Moskauer Universitätsprofessor für Philosophie, Schellingianer, — er 
hatte übrigens auch in Deutschland, in Königsberg und in Berlin, studiert 
und sich in letzterer Stadt besonders für Schelling und Werder interessiert — 
hatte er sein Amt quittieren müssen und wurde nun mit der Monats- 
schrift „Der russische Bote" und dann mit der „Moskauer Zeitung" 
einer der ersten Streiter für die Russifizierung Polens, Litauens, der Ostsee- 
provinzen, und trotz seiner einsägen Verehrung deutschen Wissens ein 
wütender Femd alles Deutschtums. 

Als Führer der Slawophilen traten auch noch der Dichter Tjuttschev 
(S 43) und ein etwas zweifelhafter Charakter, aber sehr begabter Mensch, 
Kirejewskij, hervor, der erst in seinem „Europäer" (1832) ganz 
Westling gewesen war und wenig Zutrauen zur russischen Intelligenz gehabt 
hatte, nach Verbot seiner Zeitschrift jedoch ins entgegengesetzte Lager ge- 
zogen war. 

Siebzehntes Kapitel 

Der realistische (naturalistische) Roman. — 

Turgenjev. — Gontscharov 

Die „neue'* Zeit sucht sich ganz besonders eine' Form aus, in 
der sie wirken will: den Roman. Für den Roman ersteht eine Blütezeit 
durch Turgenjev und Gontscharov. 

§47 I Iwan Ssergejewitsch Turgenjev (1818 — 1883). Gogols 
Romantypen waren hauptsächlich Beamte gewesen. Turgenjev wählte die 

Friedrichs, Russische Literaturgeschichte O 



g2 Siebzebnte« Kapitel 

seinigen mit Vorliebe aus den EdeUeulen, den adligen Gutsbesitzern — er 
selbet war der Soha eines solchen. Das Kind hatte auf dem Gute des 
Vaters, nicht weit von Mzensk im Gouv. Orlov, die Gutsbesitzer, die dort 
ein- imd ausgingen, kennen gelernt; er hatte auch die schlechten Be- 
ziehungen zwischen den Gutsbesiticni und ihren Bauem-Leibeigcnen, schlecht 
infolge der Roheiten der ersteren, beobachtet. Ein beredtes Beispiel bot 
das eigene Haus, die harte und grausame Mutter, die auch den Sohn nicht 
anders behandehe. Sein erstes bedeutendes Werk, „Die Memoiren eines 
Jägers", zeigt uns diesen Verkehr zwischen Herren und Knechten; es 
ist ein flanmiendet Protest gegen das Los der unterdrückten, geprügelten, 
verkäuflichen Menschen, gegen die Leibeigenschaft mit allen ihren tollen 
Auswüchsen. 

Turgenjev ist in seinen „Memoiren eines Jägers" schon Realist 
Das war er nicht gleich im Anfang. Seine ersten lyrischen und epischen 
Versuche neigen nach der romantischen Seite hin. Der Held seines 
gröBeien Gedichtes „Parascha" (1843) ist vollkommen der Eugen On- 
jegin Puschkins oder der Pjetschorin Lermontovs, freilich nicht mehr zum 
Schlufi. Da ist er ein dicker, fetter Spießer geworden, und seine An- 
gebetete Parascha eine behäbige, nichtssagende Hausmadame. Es kommt 
also hier der Spnttvogel heraus. Aber im großen und ganzen ist alles 
noch Romantik, mit der er sich während seiner Studienjahre in Moskau, 
Petersburg, Berlin gründlich beschäftigt hatte. Turgenjev ist Überhaupt 
einer von den wenigen Russen , die etwas gründlich studiert und gelernt 
und die eine wirkhche Allgemeinbildung besessen haben; die ganze Tur- 
genjevsche Familie, sein Vater, seine vier Brüder waren gebildet, west- 
lich, stark deutsch. Er selber hätte gern die Universitätskarriere ein- 
geschlagen; da die Mutter nicht das Geld dazu gab, arbeitete er im 
Ministerium des Innern. Als sie starb, konnte er, der nicht Unbemittelte, 
den Beruf des freien Schriftstellers wäblea. 

Turgenjevs erste poetische Versuche hatten keinen Erfolg. Jedoch 

gewaim sich die im „Zeitgenossen" 1847 veräffenüichte Bauemskizze 

„Chor und Kalinytsch" viele Freunde, und nun ließ er bis 1851 

eine ganze Reihe solcher folgen, die er zusammen 1852 unter dem Titel 

„Memoiren eines Jägers" — ■ Turgenjev war leidenschaftlicher Jäger — 

herausgab. Der Bauer, der gewöhnliche Mann ist hier mit großer Liebe 

umfaßt; er ist nicht etwa ohne Fehler dargestellt, sondern wie die Wirk- 

hchkeit ist. mit gesunder Natürlichkeit, mit offenem Kopf, mit gutmütigem, 

:hem Herzen, und ein solcher Meusch hat ein überaus 

IS bereitet, durch den Eigennutz und die Roheit des Herrn. 

smd durch diesen Blick in die sozialen Verhältnisse eines 

Is der russischen Bevölkerung überaus wertvoll , sie werden 

aller durch die vollendete Darstellung der Schönheiten der 

'Tatur. 



\ 



Der realistische (nataralistische) Roman. — Tnrgenjey. — Gontscharov 33 

Die abfällige Kritik, die er hierin an eiper so einfluÖreichen Kaste, 
wie die der Landedelleute war, übte, zog ihm manchen Haß zu, und als 
er nun mit einem Nekrologe auf Gogol auch die Regierung verletzte, 
wurde er unter Polizeiaufsicht gestellt. Tief verletzt verließ er nach Auf- 
hebung des Anests Rußland und ist nur noch ein paarmal flüchtig da 
gewesen. Er lebte lange in Deutschland, in Baden-Baden, und nach 1870 
in Paris. 

Turgenjev hat viele, bedeutende Romane ®®) geschrieben, durch die das 
Ausland überhaupt erst Aufschluß und richtigen Einblick in die sozialen 
und politischen Zustände Rußlands erhalten hat. Er ist der genaue 
Kenner und Schilderer der russischen Menschen tmd russischer Verhält- 
nisse vor der großen Reform, vor Aufhebung der Leibeigenschaft; selbst 
die Werke, die er viel später geschrieben hat, Ende der sechziger Jahre 
und im Anfang der siebziger Jahre, und die eigentlich die Menschen 
dieser Zeiten wiedergeben soUen, wurzeln in jenem Boden. 

Rußlands Menschen jener Zeit sind „ überflüssige *' Menschen. Alle 
seine Romanhelden in „Rudin" (1856), in „dem Adelsnest'* (1859), in 
„Am Vorabend" (1860), in „Väter und Söhne" (1862), in „Rauch" 
(1867), in „König Lear" (1870), in „Neuland" (1876) u. a. sind „über- 
flüssige" Menschen, sind „Hamletnaturen". Sie haben keinen schlechten 
Charakter, sie haben ein gutes Maß Bildung,- sie haben auch mancherlei 
Talente, aber sie sind ohne Tatkraft, ohne Energie, sie tändeln mit ihrer 
Bildung, sie reden und schwatzen, sie können nicht handeln, und des- 
wegen kann das Vaterland sie entbehren, deswegen sind sie überflüssig. 
Nur sehr, sehr selten gibt es davon eine Ausnahme ; z. B. Basarov in „Väter 
und Söhne " ^^). Das kann natürlich kein Adliger sein, Basarov ist eines 
Kleinbürgers Sohn. Im Kleinbürgerstand steckt eine gewisse Kraft, die 
der Adel längst eingebüßt hat Aber Basarov ist kalt, nur berechnend, 
nur an sich denkend, und daher kann das Vaterland auch ihn und seines- 
gleichen nicht gebrauchen. Diese beiden Gruppen sind Rußlands gebildete 
Gesellschaft — an solcher moralischen Krankheit muß es zugrunde gehen. 

Turgenjev ist also ausgesprochener Pessimist; nur in einem ist er 
Idealist, und zwar Idealist vom reinsten Wasser, in seinen Frauengestalten, 
Seine Frauen überragen weit, weit alle diese Männer, an Charakter und 
an Herzensbildung, Im „Adelsnest", wo die Männer alle so einfaltig 
oder so faul oder so arrogant sind, ist Lisa der Ausbund aller Tugenden, 
und wie sie, so ist Marianne in „Rauch", und so sind sie alle. Tur- 
genjev ist der Herold der Frau. In seinen Männern steckt, nach seiner 
eigenen Äußerung, ein Stück von ihm, und bei seinen Frauengestalten 
spricht auch ein Stück von seiner Lebensgeschichte mit; er hat sein Leben 
lang — möchte man sagen — im Banne von Frau Garcia- Viardot *^) ge- 
standen; ihretwegen ist er auch 1870 vom Deutschenfreund ein Franzosen- 
freund geworden. 

6* 



Siebzehntes Kapitel 



„Väter und Söhne" ist Tuigenjevs bester Roman; er charakterisieit 
die Zeit der jungen Generation und ihrer Väter. Aber der Realist und 
Wahrheitsfanatiker hatte bei allen die Farben richtig verteilt, und so 
wurden nun beide verstimmt Die Kritiken haben ihm grofien Schmerz 
bereitet. Sein Gleichgewicht hat er erst ganz zum Schluß wieder ge- 
wonnen in seinen „Gedichten in Prosa" (1878). Senilis hat er sie selber 
genannt — senil sind sie aber keineswegs, sie haben nur das Friedlicb- 
Ausgleichende, das Versöhnende des Alters. 

Turgenjev ist der erste, der RuSiand im Ausland erst wirklich be- 
kannt gemacht hat. Zunächst bei ims; seine Romane haben zum Teil 
ii^ Deutschland eher und fester Fu8 gefaßt als im eigenen Land. Seine 
vielen Freunde, Bodenstedt, Adolf Menzel, Paul Heyse haben natürUch 
dazu beigetragen ^^). Als er dann Deutschland Lebewohl sagte und sich in 
Paris niederließ, hat er, der Freund Flaubeits, Goncourts, Daudets, Mau- 
passants, nicht etwa bloß fiir sich gewirkt, er hat auch Tolstoj die Wege 
geebnet. Seinem Vatcrlande stand er stets zurückhaltend gegenüber. Erst 
in den letzten Lebensjahren besuchte er es wieder, und nun wurde ihm 
eine glänzende Aufnahme zuteil. Als er 1880 eine Festrede zur Ent- 
hüllung eines Denkmals von Puschkin hielt, holte man Versäumtes nach; 
er wurde Ehrenmitglied der Moskauer Universität und der „Gesellschaft 
der Liebhaber der russischen Literatur", und als er 1S83 starb, begrub 
man ihn mit ungewöhnlichem Pomp. 

In Rußland fand, nachdem sich einmal die Geister beruhigt hatten, 
nicht blofi, wie bei uns, seine Epik, sondern auch seine Lyrik und selbst 
seine Dramatik Anklang; man führte recht oft seine kleinen, der Jugendzeit 
angehörenden Lustspiele auf: „Das Frühstück beim Adelsmarschall" (184.9], 
„Ein Monat auf dem Lande" (1856), humoristische Bilder der ländlichen 
Sitten aus guter, alter Zeit. 

Turgenjev gibt in allen seinen Werken eine wirkliche Zeitgeschichte 

Rußlands, seiner vierziger und fünfziger Jahre. Sie waren ein Ringen 

und Streiten der Jugend mit den Anschauungen der älteren Generation, ein 

Kämpfen der erst jetzt in Rußland allgemeiner werdenden Wissenschaft 

gegen Unwissenheit und Vorurteil. Träger dieses Wissens war für Rußland 

die studierende Jugend. Die Helden von Turgenjevs Romanen sind also 

vorwiegend Studenten. Auch bei uns wurden ja zur selben Zeit die 

Studenten rotnane beliebt; vielleicht ist Spielhagen durch Turgenjev be- 

einSußt worden, vielleicht liegt Wechselwirkung vor. Da die Bildung 

tudenten aber keine ausgereifte war, da sie keine Früchte 

te wegen der eigentümlichen Veranlagung des ganzen russi- 

len, da sie anstatt zum Segen nur zur Verneinung, zum 

ozialen, moralischen Umsturz, in das Nichts führte, so hat 

n früher nur literarisch verwendeten Ausdruck Nihilismus 

, der von jetzt ab zu so trauriger Berühmtheit gelangt ist. 



Der realistische (naturalistische) Roman. — Torgenjev. — Gontscharov g^ 

Turgenjevs Romane haben keine sensationellen Verwicklungen, sie 
sind nur groß in der Schilderung der Zustände und der diese charak- 
terisierenden Personen. Hinzu kommt eine hübsche, innige Zeichnung 
der Natur und des mit ihr unmittelbar verbundenen Landlebens. Und dazu 
ist er ein vollendeter Meister der Form, einfach im Ausdruck, klar im Ge- 
danken, hierin Dostojewskij und Tolstoj weit hinter sich zurücklassend. 

§ d8 I Gontscharov (1812 — 1891) hat dieselben Themata, die- 
selben Zeiten, die vierziger und fünfziger Jahre, wie Turgenjev ; er hat auch 
dieselben Menschen, nur wählt er sie aus einem andern Beruf, dem, welchen 
Gogol bevorzugt hatte und der sein eigener war, aus den Beamten. 

Er ist, auch wie Turgenjev, in der Romantik groß geworden. Der in 
Ssimbirsk in wohlhabender Kaufmannsfamilie Geborene hatte in Moskau Ge- 
schichte und Philologie studiert, beiNadjeshdin und Schewyrjov gehört und bei - 
ihnen Schiller, die deutsche Dichtkunst, vor allem die Romantik lieben gelernt. 
Im Beruf — er war im Finanzministerium, dann in der Gberpostverwaltung, 
eine Zeitlang auch Redakteur der offiziellen „Nordischen Post 'S erst in 
späteren Jahren Privatmann — versagte sie ; das reale Leben will anderes ^^), 

Das ist zum Teil das Thema seines ersteren größeren Romans; er- 
schöpft ist es damit nicht. In seiner „Gewöhnlichen Geschichte" (1847) ^st 
der junge Edelmann Adujev ein solcher romantischer Schwärmer ; er ist aus 
der Provinz nach Petersburg gekommen, um etwas zu werden, und er wird in 
der Tat etwas, sogar Geheimrat, aber nur weil er Onkels Rezept befolgt: 
„Zieh deine Träumereien aus, Jugend, imd die Vizeuniform an!" Hat 
man erst die Uniform, dann kann man alles ruhig an sich herantreten 
lassen, dann ist der Zweck erfüllt — eine höhere Aufgabe gibt es für Ruß- 
land nicht. Der Dichter geht zum zweiten Thema über: Adujev hat 
nach jenem Rezept reich geheiratet, aber er will diese Frau ganz nach 
sich, ganz nach seinem Willen und seinen Wünschen formen und modeln 
— auch das gelingt ihm, aber was wird dabei aus der Frau? Ein voll- 
kommen apathisches Wesen, eine leblose Masse, eine Gliederpuppe, ein 
Nichts. Das ist also dasselbe Thema, wie es Drushinin in „Pauline 
Saks" hat, und wie es, nur unendlich dramatischer, in Ibsens „Nora" 
durchgeführt ist. Wahrscheinlich hat er übrigens den ganzen Roman 
nach George Sands „Horace" gearbeitet. 

Sein zweites, sehr großes Aufsehen erregende Werk war „Oblomov" 
(1859). Oblomov ist Kollegiensekretär in Petersburg, hat aber noch 
irgendwo hinten ein Gut von 350 Seelen. Er galt auf der Universität 
für sehr begabt, er ist es noch jetzt. Er hat den Kopf voll von großen 
Projekten, für seine Stellung, für sein Gut; sein Herz zittert in freudiger 
Erregung über alle großen Zukimftstaten , aber er — liegt auf dem Sofa 
und räkelt sich und will sich anziehen und räkelt sich wieder und schläft 
wieder ein, und so liegt er tage-, wochenlang, und um ihn herum 
vergeht und verfallt alles in Unordnung. Auch Freund und Gelieb*** 



gg Achteeluite« KapiEel 

können ihn nicht aus der „OblomoTcrei" reiBen. Und „so sind sie 
alle in Rußland". Tatkraft wohnt nur in seinem Freund Stolz, und das 
ist ein Deutseber. Die Person des Stolz möchte man ein hohes Lied auf 
deutsches Wesen, deutsches Wissen, deutsche Kultur nennen ; selbst- 
verständlich hat er auch Fehler und berührt bisweilen etwas spieSbUi^erlich. 
In allem also dieselbe Erkermtnis, dasselbe Resultat wie bei Turgenjer. 

Ein ähnliches Bild haben wir im „Abgrund" (1869). Nur ist hier 
der Held, Rajskij, kein Beamter, sondern ein Künstler — der Roman 
war ursprünglich „Der Künstler" beti'.elt — und kein Nichtstuer im 
Sinne Oblomovs ; im Gegenteil, er ist geschäftig, sehr geschäftig, jedoch 
zerspaltet er seine Kräfte überall und wird so ein Nichtstuer, ein „Über- 
flüssiger", Die überragende Rolle bat hier, wie bei Turgenjew, die Frau. 
Selbst die unbedeutenden stehen höher als Rajskij, sie lassen ihn mit 
seinen Bewerbungen abfallen , und nun gar erst die kluge , gemütvolle, 
charakterfeste , Willensstärke Wjera ! Jedoch stürzt sie , indem sie sich 
Rajskijs Gegenbild, dem starken, tatkräftigen Wolochov zuwendet, in den 
Abgrund; Wolochov ist ein egoistischer Zyniker. 

Gontscharov hat nicht viel mehr als diese drei grofien Romane 
geschrieben. Erwähnenswert sind noch seine scherzhafte Skizze „^n lite- 
rarischer Abend" {r88o) und mehrere Uterarische Aufsätze im „Euro- 
päischen Boten" und in der „Niwa" und sein großes Jugeudwerk „Die 
Seereise auf der Pallada" (1852), nicht nur eine der besten Reise- 
beschreibungen in der russischen Literatur, sondern auch ausgezeichnet 
durch Humor und tiefes Nation algefühl, das überall, selbst m der weitesten 
Feme, durchleuchtet. Mit seinen drei Romanen sticht er gegen die 
vielen Turgenjevs ab. Er unterscheidet sich auch sonst von ihm. 
Turgenjev hat eine freiere, weitere Auffassung von Menschen und Leben, 
Gontscharov wird mehr von den Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten des 
. Alltäglichen angezogen. Freilich ist er darin ein vorzüglicher Kenner und ein 
kunstvoller Erzähler. So ist er ein Genremaler. Er liebt nicht, wie Turgenjev, 
die Natur, sondern nur den Menschen, und den studiert er bis in den 
innersten Kern, er zerlegt alle Fasern seines Herzens. Freilich macht er 
denselben Fehler wie Turgenjev; er will uns im „Abgrund" Leute von 
1869 zeichnen, es sind jedoch Menschen aus den vierziger und fünfziger 
Jahren. 

Achtzehntes Kapitel 
lageliteratur", ihre Ausströmungen und 
[enströmungen. — Die Narodniki 

t hatten die Regierung, die gesellschaftlichen Zustände auch 
Lermontov und Turgenjev und Gontscharov. Ihre Anklagen 
h in zweiter Linie; in erster Linie standen für sie die 



yyAnklageliteratar*', ihre AasströmaBgen a. Gegeaströmnngen. — Die Narodniki 3t 

Analyse der menschlichen Seele, das innere Erlebnis, das Künstlerische. 
In der Anklageliteratur ^^) ist es eher umgekehrt : sie hat praktische Zwecke 
im Auge, sie will Mißstände aufdecken, sie scharf beleuchten, um sie 
dann zu bessern; das Künstlerische kommt erst hinterher. 

§ 49 I An der Spitze der Ankläger steht Ssaltykov (1826 — 1889), 
anfangs unter dem Pseudonym Schtschedrin^*) schreibend. Seine Satire 
überragt alle vorhergehende, in der Form wie im Inhalt. Sie wäre noch 
viel schärfer, schneidender gewesen, hätte nicht aus Furcht vor der Zen- 
sur so manche bittere PiUe vom süßesten Zucker umgössen werden 
müssen. Vieles tritt aus diesem Grunde in der Form der Allegorie auf und 
wird, je weiter wir uns von jener Zeit entfernen, um so unverständlicher. 
Die weitschweifige Sprache, die uns heute recht veraltet erscheint, ist 
gleichfalls zum guten Teil auf dies Konto zu setzen. 

Rußland hat zu Ssaltykovs Lebenszeit verschiedene Phasen der politi- 
schen und sozialen Entwicklung durchgemacht; sie alle begleitet sein 
Spott, bei allen findet sein durchdringender Blick die Mängel und Fehler 
heraus, und sie geißelt seine scharfe Zunge mit glänzendem Witz, mit 
glänzender Schlagfertigkeit. Bisweilen geschieht es mit überlegenem Humor, 
bisweilen aber auch mit dem Herzblut, denn er ist Patriot, der seinem 
armen Lande helfen will, und das geht nicht mit Vertuschen und laisser 
aller, sondern nur mit dem schonungslosen Aufdecken aller Lüge, aller 
sittlichen Gebrechen. 

Der junge Staatsbeamte hatte sich recht früh durch Gedichte be- 
kannt gemacht, dann durch satirische Erzählungen, deren Stoff und Art 
der Behandlung an Dostojewskij und Njekrassov erinnern. Diese satirischen 
Erzählungen gefielen der Regierung so wenig, daß sie ihn — 10 Jahre, 
von 1848 bis 1858 — in der Gouvernements Verwaltung von Wjatka 
festsetzte. Die Früchte der Verbannung waren ftir den dann bald 
den Staatsdienst quittierenden die „ Skizzen aus dem Gouverne- 
ment'' {iSs6 bis 1857); sie machten seinen Namen sofort in Rußland 
populär. Sie sind, sich nur wenig von Gogols Typen unterscheidend, 
ein Hohn auf den Dünkel der Beamienwelt, ihre moralische Minder- 
wertigkeit, ihr Nichtstun, ihre Bestechlichkeit, ihre Trunkenheit. Dei 
durch die „Skizzen" erworbene Ruhm steigerte sich fortgesetzt, nach- 
dem er mit Njekrassov die Herausgabe der „Vaterländischen Annalen'' 
übernommen hatte. 

Der verlorene Krimkrieg zeitigte eine gewaltige Umwälzung nicht nur 
in politischer Hinsicht, sondern im ganzen Volksdenken. Wie verlief 
jedoch diese Aufwärtsbewegung? Wie sieht Ssaltykov dies? Die Leute 
sind jetzt alle liberal , haben neue Ideen , berauschen sich an ihnen, 
schwatzen, debattieren und tun — nichts. Diese Leute geißelt er in 
„der Stadt Glupov" (Dummstadt) und, auf die Beamten besonders ange- 
wendet, in „den Zeichen der Zeit". 



g3 Achtzehntes Kapitel 



Die Jahre schreiten fort: die Aufhebung der Leibeigenschaft ist ge- 
kommen, mit ihrem wirtschaftlichen Umschlag. Stark leidet darunter der 
Landadel f der sich nun neue Existenzbedingungen und Existenzmittel 
suchen muß. Er wendet sich nach Petersburg und hofit dort die Mög- 
lichkeit zu finden, das frühere Leben fortzusetzen, durch Nichtstun und 
durch Vergnügungen; andere versuchen aber auch, im geheimen oder 
offen, die Wirkimgen des Gesetzes zunichte zu machen und die früheren 
Zustände zurückzuftihren. Diese Leute trifft er mit seinem Spott im 
„Tagebuch eines Provinzialen in der Hauptstadt" und in „den Briefen 
aus der Provinz" (1869). Besonders werden hier wie in seinen „Männ- 
lichen und weiblichen Pompadours" und in „den Herren Taschkentem"^^) 
die Gouverneure (Pompadours) mit ihren Frauen und die Beamten (Tasch- 
kenter) mitgenommen, die sich liberal und freidenkend geberden, im 
Grunde genommen aber die früheren Taschkenter geblieben sind; denn 
„Taschkent ist das klassische Land der Hanmiel, die immer zum Ge- 
schorenwerden bereit sind und denen nach dieser Operation von neuem 
die Haare mit erstaunlicher Schnelligkeit wachsen. Zu dieser Operation 
braucht man weder Ehre nocfi Gewissen, noch Verstand noch Wissen — 
nötig sind nur fest zupackende Hände". 

Dieselbe scharfe Waffe führt er weiter in „ der Geschichte einer Stadt 
nach den Originalurkunden" (gemeint ist wieder Glupov), in „der Zu- 
flucht Monrepos" (1879),^ ^ „Jenseits der Grenze". Der Haüptangriff 
gilt immer und immer wieder den Beamten, dann auch den Kulaks, d. h. 
den gewissenlosen Landaufkäufem und Schiebern; er schrickt aber auch 
nicht vor den höchsten Personen zurück — es war sehr gewagt, mit 
Decknamen natürlich, Alexander I. und seine Pfeiferscha, d. i. Frau von 
Krüdener, dann Araktschejev usw. anzugreifen. 

Aus den siebziger Jahren stammt ein Roman „Die Herren Golowlev". 
Ssaltykov gibt darin ein sehr düsteres Sittengemälde vom Verfall einer 
begüterten Landadelsfamilie, die durch Nichtstun, Trunksucht, durch 
Mangel an Kraft, sich in die neuen durch Aufhebung der Leibeigen- 
schaft bedingten Verhältnisse zu fügen, durch Mangel an — Liebe, 
die nun einmal zu allen menschlichen Lebensaufgaben nötig ist , « zu- 
gnmde geht. 

Schwer traf ihn das Verbot der „Vaterländischen Annalen" im Jahre 
1884, nachdem er sie anderthalb Dezennien mit großem Geschick durch 
alle Fährnisse hindurchgesteuert hatte. Sein Lebenszweck und sein Lebens- 
imterhalt waren damit unterbunden. Der müde Mann zog sich zurück 
und schrieb neben kleinen, religiösen Charakter tragenden „Märchen" 
nur noch seine „Erzählungen aus Poschechonien " (eine Art Abdera), ein 
Kulturbild aus der Zeit vor der Reform, fast ebenso düster und mit ähn- 
lichem Hintergrund wie „Die Herren Golowlev", aber doch versöhnend, 
voll christlicher Liebe und Humanität. 



,,Anklageliteratiir", ihre Aasströmangen u. Gegenströmungen. — Die Narodniki 30 

Ssaltykov ist wieder einmal eine Kolossalfigur, die aus der Zeit heraus- 
ragt. Dieselben Bestrebungen haben jedoch viele, keineswegs unbedeutende 
Männer, nur reichen sie nicht an seine Größe. Die radikale Jugend, welcher 
der revolutionäre Herzen zu .wenig revolutionär geworden war, sammelte 
sich jetzt um Ssaltykov und bald um noch schärfere Ankläger. 

Njekrassov (1821 — 1877) hatte den von Puschkin gegründeten 
„Zeitgenossen" 1847 übernommen, und wenn sich dieser in den ersten 
Jahren auch noch ziemlich harmlos gab, so hatte er doch von 1855 ab 
die Maske immer mehr fallen lassen und zwar so, daß 1866 sein Schick- 
sal besiegelt war; er wurde suspendiert. Dann redigierte Njekrassov, wie 
wir gesehen, mit Ssaltykov zusammen „Die Vaterländischen Annalen". Er 
selber beteiligte sich daran jedoch meist nur belletristisch, durch Gedichte, 
schön in Form und Inhalt, aber bitter, gallig, worüber später (S 51). 

Böse, aber der Jugend sehr genehme Kritiker waren Tschemyschewskij, 
Dobroljubov und später Pissaijev, reine Tendenzkritiker, deren ästhetische 
Urteile durch den parteipolitischen Standpunkt beeinflußt wurden; sie 
wollten vor allem parteipolitische Agitatoren sein. 

An Gelehrsamkeit, Schärfe des Urteils, an Charakter überragt 
Tschemyschewskij ^®) (1828 — 1890) bei weitem die andern. Er war 
Gelehrter; er hat ein Werk über Lessing geschrieben (1857), dann Adam 
Smiths „Untersuchung über den Volksreichtum" bearbeitet, im Alter 
Schlossers „Weltgeschichte" übersetzt. Auch treffliche Aufsätze über 
Gogol, über Bjelinskij sind aus seiner Feder geflossen, und in diesen literari- 
schen Betrachtungen tritt der Anhänger der Lessingschen Lehren markant 
hervor. Aber die Literatur fesselte ihn nur in der ersten Zeit ; nachdem ist 
er ganz und gar Sozialpolitiker geworden. Seine politisch- ökonomischen Auf- 
sätze nehmen in den Jahren 1855 bis 1864 einen weiten Raum im „Zeit- 
genossen" ein und erregten großes Aufsehen. An den „Vaterländischen 
Annalen" konnte er sich nicht mehr beteiligen, da saß er schon in Sibirien 
— 20 Jahre. Neben seinen politischen Aufsätzen trug sein Roman „Was 
tun?" (1863) die Schuld daran. Dieser radikale Roman mit seiner äußerst 
scharfen Beleuchtung der neuen staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, 
mit der neuen Auffassung von der Ehe und dem Heraustreten der Frau in die 
Öffentlichkeit — die Materie ist ungefähr dieselbe wie in Turgenjevs „Neuland" 
und inTolstojs „Lebendem Leichnam" — wurde für staatsgefährlich erachtet. 

Noch schärfer, aber weniger gelehrt und weniger gründlich — an 
beiden hinderte ihn ein früher Tod — ist sein Schüler Dobroljubov 
(1836 — 1861). Er führte sich auch mit einigen und zwar glänzenden 
Aufsätzen über Literatur, über Turgenjev, Gontscharov, Ostrowskij ein, aber 
mehr zogen ihn die Philosophie und vor allem reale, die Masse des 
Volks berührende Fragen an, wie Pädagogik, politische Ökonomie. Im 
„Zeitgenossen" leitete er die satirische Abteilung, „den Pfiff"", und 
schrieb hier unter dem Pseudonym Konrad Lilienschwager schonungslose, 



OO Achtzehntes Elapitel 



ätzende Artikel gegen das langsame Fortschreiten der Reform, gegen die 
Minderwertigkeit der liberalen Errungenschaften. — Eine noch schärfere 
Tonart als „Der Pfiff'* schlug nach Dobroljubovs Tod „Der Funke" an. 

Den extremsten Standpunkt von diesen veitritt Pissarjev (1841 
— 1868). War für Tschemyschewskij das Schöne einzig und allein das 
Leben gewesen, hatte Dobroljubov den Zweck jeder Kunst und jeder 
Literatur nur als einen untergeordneten, „dienenden" angesehen, so be- 
streitet Pissarjev (im „Zeitgenossen", nachher im „Russischen Wort") 
jeden Nutzen der Poesie und verwirft aus diesem Grunde den ganzen 
Puschkin. Das sind natürlich durch die Hitze des Kampfes erzeugte Über- 
treibungen, konnte er sich doch für Turgenjevs Basarovfigur begeistern. 
Aber er will auch gar nicht Ästhet sein; sein Interesse gehört den Natur- 
wissenschaften, die er in die Tiefe des Volkes hineintragen will. Für die 
brausende, vorwärts stürmende, materialistische, sozialistische, atheistische, 
nihilistische Jugend war er eine unbedingte Autorität, so laut sie auch 
schrie, sie erkenne nirgends eine Autorität an. 

§ 50 I Satire und Kritik kommen von Gelehrten und gehen zu Ge- 
lehrten ; für die Masse des russischen Volks waren sie unverständlich und 
einflußlos. Eine die breiteren Schichten interessierende, diese zum Kampfe 
gegen die imgeheuren Mißstände und Mißbräuche aufrüttelnde „ Anklage "- 
literatur mußte also eine andere Form finden. Das war der Roman. 

Der Roman hatte schon vorher einen recht breiten Raum einge- 
nommen; jetzt drängt er die andern Dichtungsarten vollends beiseite und 
bekommt eine außerordentlich weite und große Tragkraft. Der Roman 
wird ein anderer als früher. Er ist auch realistisch, naturalistisch, aber 
schon der Stand, die Geburt, die Lebensbedingungen seiner Autoren 
geben ihm eine besondere Färbung. Die früheren Romanschriftsteller 
waren gebildete Leute gewesen, viele hatten die Universität hinter sich; 
sie hatten zum großen Teil dem Adel, dem wohlhabenden Adel ange- 
hört, waren daher in der Lage gewesen, durch Reisen ins Ausland ihre 
Bildung zu erweitern und zu vertiefen; sie hatten infolge ihrer Um- 
gebung und ihrer Kenntnisse einen allgemein menschlicheren Blick, all- 
gemein menschlichere Auffassungen und Anschauungen gewonnen. Andrer- 
seits aber war der Blick nach einer Richtung hin einseitig geblieben: der 
Abstand zwischen ihnen, zwischen ihrer Lebensatmospbäre und der jener 
Leute da unten war zu groß, als daß etwas anderes als eine höchst ober- 
flächliche Kenntnis dieser herauskominen konnte. Jetzt wurde der Mann 
des mittleren, des unteren Standes, der Proletarier Schriftsteller, der Mann, 
der selber die Not und das Elend und den Hunger mit angesehen und mit 
durchgekostet hatte, der imter der schwersten Arbeit und den schwersten Ent- 
behrungen sich allenfalls bis zur Universität durchgerungen hatte, um dort doch 
zu scheitem,weil die Existenzmittel nun ganz versagten. Diesen Unterdrückten, 
den Proletariern, zu denen sie also selber zählten, gehört ihr Mitgefühl; 



^,AQklageliteratar*^ ihre AasstrÖmaagen a. Gegenströmangeo. — Die Narodniki qx 

die Armen und ihre Leiden wollen 3ie der übrigen Welt zeigen, damit man 
ihnen hilft, damit man Stellung, nimmt für sie und gegen ihre Unterdrücker. 
Unterdrücker waren die Regierung sowohl wie die Gesellschaft. Gegen beide 
richtet sich also der Roman, er wird damit politischer Tendenzroman. 

Meist sind die Autoren recht objektiv, was nicht so schwer war, 
weil das Elend der Unterdrückten ebensosehr wie die Herzlosigkeit und 
Grausamkeit der Mehrzahl der Unterdrücker nur allzusehr in die Augen 
sprang. Daß sich anderseits manche diese Objektivität nicht bewahren, 
sondern einseitig ungerecht übertreiben, verwundert auch kaum. 

Wir bekommen also Bilder nur der Not und des Elends, Bilder von 
hungernden, dürstenden^ frierenden Menschen, Bilder auch von Trunken- 
bolden und Dieben, Bilder der gemeinen Wirklichkeit — lange vor Zola 
und ohne seine Pornographie. 

Der imterdrückteste, rechtloseste aller Stände war vor der Reform 
der Bauernstand gewesen; ihm gilt daher der größte Teil der Schilde- 
rungen. Man hat für alle diese Schriftsteller den etwas weit fassenden 
Namen Narodniki (Volksmaler) geprägt. 

Grigorowitsch (1822 — 1899) ^^i^ gelernter Maler und wandte 
sich auch später wieder von der Literatur zur bildenden Kunst zurück. Es 
waltet daher in ihm bei aller realistischen Auffassung doch ein ausgeprägtes 
ästhetisches Gefühl vor. Seine erste Erzählung „Das Dorf" (1847) wurde 
von Bjelinskij freudig begrüßt. Es folgten in den fünfziger Jahren u. a. 
^, Anton Gorjemyka" (Kummervoll), ,,Die Fischer**, ,,Die Proletarier**, 
„Nebenwege** — alle in denselben Bahnen; das Elend der Bauern, die 
Härte der Verwalter, die Laune der Gutsherrn sind ihre Stimmungs- 
themata. „Die Fischer** zeichnen sehr schöne landschaftliche Bilder aus. 
Auch das Beamtentum und den Beamtendienst kennt er gut; die Skizze 
,,Die Nachbarin** zeichnet beides vorzüglich. 

Bedeutender als Grigorowitsch ist Pi SS je mskij (1820 — 1881). Er 
hat Ähnlichkeit mit Dostojewski] ; nur kennt er nicht dessen feine Seelen- 
analyse , sondern schildert die Welt der Tatsachen in ihren unbarmherzigen 
Folgen. Seine ersten Romane laufen noch in romantischer Richtung, 
und zwar in der Byronschen, aber seine „Tausend Seelen** (1858) zeigen 
schon die sog. gebildete Gesellschaft in ihrer Oberflächlichkeit, ihrem 
Egoismus, ihrer Genußsucht in derb realistischer Weise; ein aus kleinen 
Verhältnissen heraufgekommener Vizegouvemeur eines Provinzstädtchens 
— 1 000 „ Seelen" — ist der Typ dieser Leute. Der Roman fand großen Beifall. 

Die Reform ging ihm zu langsam vorwärts, weil allzuviele unwissende 
und unfähige Leute sie lenkten, weil allzu vieles total mißverstanden 
wurde. Sein bester Roman „Das aufgewühlte Meer** (1863) — das ist 
der Aufruhr, der in der Reformbewegung tobt — spiegelt dies wieder. 
Zu dem Mißverstandenen der Reform zählt er auch die Art und Weise, 
wie sich die Frau emanzipiert. Das ist scharf gegeißelt, mit erotischem 



02 Achtzehntel Kapitel 

Einschlag, in der „Ehe aus Leidenschaft", in „Ist sie schuldig?" Er 
wühlt dabei recht tief im Schmutz herum. Dieses scharfe Urteil über 
die Frau mildeit dann der Roman „Im Strudel" (1863). Pissjemskij will 
das feste Band der Familie. Aus den siebziger Jahren stammt noch eine 
ganze Reihe von Romaaen und Dramen; die Dramen, z. B, „Die 
Bürger", „Die Freimaurer" hatten keinen Erfolg, 

Jünger ist Pomjalowskij (1835 — 1863), Sohn eines Diakonus und 
selber im geistlichen Seminar erzogen. Daher die Lebenstreue seiner „ Skizzen 
aus der Burssa" (d. i, dasPriestetseminar), die in grellen Farben die verkehrte 
Erhebung in den Seminaren beleuchteten; sie fanden in dieser Zeit der 
Schulreform groSen Anklang. Pomjalowskij hat mancherlei geschrieben — 
am gelesensten war sein ,,Molotov" (1861), einer von jenen Helden, die 
nachher Gorkij so propagiert hat, ein Barfliöler, der Armut und Hunger 
bis zur Neige auskostet, der aber alle Leiden und Mühsale ohne viel 
Klagen erträgt imd immer weiter arbeitet, weil er etwas hat, was Gorkijs 
Helden nicht haben, ein Ideal, kein besonders hohes, aber doch eines: 
er will so viel erwerben, daß er im Alter behaglich wie ein Bürger leben 
kann. Molotov ist dabei keine Idealfigur, er ist vollkommen realistisch 
hbgestellt mit all den unangenehmen Eigenschaften des Proletariers , mit 
seinem Mißtrauen , seinen plebejischen Manieren , seiner Ungebildetheit. 
Diese Ungebildetheit erscheint Pomjalowskij als die Wurzel alles Übels, 
und deshalb suchte er ihr auch praktisch in seinem Privatleben entgegen- 
zutreten; seine Lieblingsidee war, Schulen ftir Arme einzurichten. 

An die Figur des Molotov erinnern sehr die Gestalten A. Micbaj- 
lovs (Pseudonym für Scheller). Er wurde hauptsächlich durch zwei Ro- 
mane bekannt: „Faule Sümpfe" {1S64) und „Das Leben Schupovs" 
(1865}. Die Gutsbesitzer sind die Despoten und Bösewichter, die Guts;- 
besitzerinnen sehen alle Bauern imd Diener als Pöbel an und verachten 
und peinigen sie, während fUr diese das Leben nur eine Kette bitterer 
Prüfungen und Leiden ist. Seine Gestalten verraten übrigens hier tmd 
da die Einwirkung Dickens'. Auch er wollte praktisch helfen, er hielt 
eine Schule für arme Kinder. 

Ebenso malt, mit Übertreibung, das Elend des Dorflebena Sasso- 
dimskij. In seinem besten Roman „Die Chronik des Dorfes Ssmurin" 
(1874 — unter dem Pseudonym Wologdin erschienen) tritt die ideale 
Figur eines allen andern voraneilenden Schmiedes auf im Gegensatz zu 
dem reichen, rückschrittlichen, lasterhaften Fabrikanten. 

Kl — I. jii..^ __u:ij— A ,. — 1 ^lend Reschetnikov in semem 

das sind die als Burlaken (Barken- 
Kama vermietenden Bauern — 
[ädchen erstrebt, das es sich aber 
i'reüdenmädchen wird, wohl ein 



f^Aaklageliteratar", ihre Ansströmangeo a. Gegenströmangen. — Die Narodniki 03 

Dieselben trostlosen Bilder von Armut, Trunk, Laster gibt Lewitovin 
seinem ,, Kummer der Städte und Dörfer ^^ So sehr der Inhalt beider Schritt- 
steiler aber zusammenläuft, ebensosehr geht ihr Stil ausebander. Der Reschet- 
nikovs ist entsprechend der nördlichen Heimat des Verfassers rauh und hart, 
während der Lewitovs den Wohlklang und die Musik des Südens hat. Weniger 
schroff tritt das Elend in seinen „Steppenskizzen** (186 1) hervor, wo lieb- 
liche Naturbilder, glückliche Idyllen dann und wann hineinleuchten. 

Traurig, wiederum ganz traurig stinunt Naumov in seinen Romanen 
„Im tiefen Abgrund** und „Im vergessenen Land" (1858). Das ver- 
gessene Land ist Sibirien. Naumov zeigt die Armut, die Unterdrückung der 
sibirischen Bauern, die allerdings nie Leibeigene im europäischen Sinne 
waren, dafUr aber unter der Faust der reich gewordenen Bauern lebten, die 
Landstrich für Landstrich ankauften und aussogen. Wir bekommen auch 
sonst treffliche £inblicke in das Land und in die Sitten des fernen Ostens. 

GlebUsspjenskij (1840 — 1902) steht über den Vorhergehenden; 
er ist nicht bloß Photograph, er will auch zeigen, daß es in diesen ver- 
lumpten, schmutzigen, betrunkenen, betrügerischen Gestalten trotz alledem 
etwas vom Seelenleben gibt. Er malt den Auswurf der Stadt mit seiner 
moralischen Verwilderung, mit seinen tierischen Trieben in „den Sitten 
aus der Rasstjeijajewa-Straße** (liederliche Straße) und in „dem Bankerott** 
(beide 1866 im „Zeitgenossen** erschienen). In ebenso erschreckender 
Weise schildert er das ländliche Proletariat, so daß man ihn eine Zeit- 
lang für einen Anhänger der Leibeigenschaft gehalten hat. Das war er 
aber keineswegs ; er wollte nur die Illusionen, denen man sich gern über 
die Befreiten hingab, zerstören, er wollte diese richtig zeigen, damit man 
ihnen an richtiger Stelle helfen konnte. Seine besten Werke sind hierin 
„Neue Zeiten und neue Sorgen** und „Die Macht der Erde** (1882), 
eine Anklage für beide Teile, für die Gutsbesitzer wie für die Bauern. 
Usspjenskij geht mit den scharfen Waffen der Satire, auch des bissigen 
Humors den öffentlichen Einrichtungen des mit der Bauernemanzipation 
zusanunen geschaffenen Mir und der Obschtschba zu Leibe, d. h. der 
Gemeindeverwaltung, in deren Hand das den Bauern überwiesene Anteil- 
land war; der einzelne Bauer selber war nicht Besitzer. Er griff diese 
Institutionen an, weil sie die Kräfte des Individuums zu sehr lähmten 
und weil sie andrerseits die unmoralische Geldwirtschaft großzogen. 

Der Seelenanalytiker und zwar der der kranken Seelen wird er ganz 
in seinen letzten Novellen „Das kranke Gewissen**. Wenn es ein Heil- 
mittel in all dieser Trostlosigkeit gibt, dann kann dies nur Bildung, Bil- 
dung, Bildung sein, und Genesung in der schönen, freien Natur. 

Slatowratskij möchte man beinahe den Antipoden Usspjenskijs 
neimen. Er sieht das Heil gerade im Mir, in der Obschtschina, im 
Artjel (Arbeitergemeinschaft); Voraussetzung ist dabei der Geist der 
brüderlichen Liebe. Usspjenskij will der Intelligenz helfen, Slatowratskij 



QA Achtzehntes Kapitel 



achtet sie gering; Wert hat fiir ihn nur die Arbeit des Arbeiters. Usspjenskij 
mildert die Schrecken des Elends etwas durch den darüber flutenden 
Humor, Slatowratskij verstärkt sie noch durch sein Pathos. Seine erste, 
1866 im „Funken" veröffentlichte Skizze „Die Viehseuche" gab er unter 
dem Pseudonym „Der kleine Schtschedrin" heraus, etwas gewagt, denn 
von der Ssaltykov doch gerade charakterisierenden scharfen Satire hat er 
wenig. Slatowratskij hat viele, dicke Bände geschrieben, in denen be- 
sonders der reich gewordene Bauer der Peiniger ist. Sein bestes Werk 
ist „Fundamente" (1884). Hübsche Schilderungen bieten „Die Wochen- 
tage auf dem Lande" (1882). Land und Landleben zeichnet er treff'lich. 

§ 51 I Die „anklägerische" Lyrik konzentriert sich eigentlich in 
einer einzigen Person, allerdings einer bedeutenden, Njekrassov"(i82i 
— 1877). Als Herausgeber kennen wir ihn (§ 49). Njekrassov ist vor 
allem aber Lyriker ^^ und zwar ein Lyriker von Gottes Gnaden. Seine 
Dichtungen reißen durch die Macht des Gedankens, die Tiefe der Emp- 
findungen, die Musik der Form hin. Mit heiligem Eifer tritt -er für den 
Armen, den Darbenden, den Geprügelten ein, kämpft er gegen die Roheit 
und Unwissenheit der Herrschenden wie der Beherrschten. Dem Bauern 
gilt seine Liebe, weil da die Not am größten ist. Das wußte er aus eigener 
Erfahrung : er war der Sohn eines verarmten Gutsbesitzers. Gedichte wie 
„Die Heimat" und „Die Ungläubigen" sprechen von dieser Not. 

Njekrassovs erste Gedichte gefielen Bjelinskij, und der half dem 
jungen darbenden Studenten. Aber Bjelinskij starb bald, und Njekrassov 
stand wieder dem Nichts gegenüber. Da rettete ihn „ Der Zeitgenosse ", 
der durch seine Gewandtheit bald zu der gelesensten Zeitschrift Rußlands 
wurde. Nach dem „Zeitgenossen" übernahm er, wie wir gesehen, die 
„Vaterländischen Annalen", und so war er gegen äußere Not gesichert; 
die sehr anstrengende Tätigkeit zermürbte jedoch seine Kräfte. 

Njekrassovs Muse ist die Muse der Trauer, der russischen Melan- 
cholie, sie ist aber zugleich auch die Muse der Anklage und der Rache. 
Er geht auf das schärfste mit den Sünden der Väter ins Gericht, er 
geißelt jedoch nicht minder die Sünden der Jugend, er geißelt alle Lüge, 
allen Schmutz. Viele herrliche Gedichte geben uos solche Stimmungen 
wieder: „Das vergessene Dorf", „Vor dem Regen", „Im Hospital", 
das in Gedanken, Empfindung, Versmaß einzig großartige „Begräbnis", 
dann die größeren Dichtungen „Die Bauemkinder", „Der Korbflechter", 
„Der Frost", „Die Stille", und bitterste Satire enthält sein großes Epos, an 
dem er von 1866 bis 1876 gearbeitet hat, „Wer lebt glücklich in Ruß- 
land?" mit der Antwort „Der Trunkenbold". 

Alle diese Dichtungen^®) zeigen aber nicht allein, welch feines Ohr ihr 
Schöpfer für die traurigen Erscheinungen des Menschenlebens hatte, son- 
dern auch welch scharfes Auge er für die Schönheit und die große, ver- 
söhnende Güte der die Menschen umgebenden Natur besaß. 



yyAnklageliteratnr'^, ihre Änsströmimgen n. Gegenströmoogen. — Die Narodniki gc 

Njekrassov ist der Anwalt des Bauern, der Herold des Proletariats, 
aber nur, soweit sie in der Not sind — wenn die Not andere Personen 
trifit, dann ist er auch bei ihnen zur Hand : die Dekabristenfrauen Fürstin 
Trubezkaja und Fürstin Wolkonskaja und ihr und ihrer Männer furcht- 
bares Los sind mit derselben Liebe, demselben tiefen Mitgefühl behandelt 
wie irgendein gequälter Proletarier. 

Am ehesten reicht an Njekrassovs Poesie noch die Nikitins tmd 
Pleschtschejevs. Hervorragend sind Nikitins ^^) Volkslieder; Ge- 
fühlstiefe und Einfachheit sind ihre Merkmale; sie sind fast den Kolzov- 
schen ebenbürtig. Im „Kulak" ( — Landaufkäufer — 1858) greift er , 
scharf in die Zeitfragen hinein. 

Pleschtschejev ist aach ein „Ankläger", ein sehr scharfer, frei- 
lich nur im Anfang. Er hatte schon in seinen ersten Gedichten (1846) 
für „die höchsten Ideale des menschlichen Herzens" geschwärmt und 
seine „Brüder vorwärts ohne Furcht imd Zweifel auf zum Heldenkampf" 
gerufen, d. h. zur Revolution. 1849 batte er dann an der Verschwörung 
Petraschewskijs persönlich teilgenommen. Die Folge war, daß er zum 
Tode verurteilt, dann aber zu zehn Jahren Verbannung nach Orenburg 
und nach dem Kaukasus begnadigt wurde. Allzuviel Hoffnung hatten ihm 
diese zehn Jahre nicht eingebracht; nach seiner Rückkehr sehnte er sich 
nicht nach dort. So sind seine späteren „Gedichte" (1858) und seine 
„Neuen Gedichte" (1863) düster, melancholisch, jedoch nicht mehr in 
dem Grade aufreizend ^wie früher. Sie sind voll Tiefe der Empfindung, 
bringen stimmungsvolle Naturbilder, haben weichen, musikalischen Klang. 
Seine Novellen und Lustspiele sind von wenig Wert, degegen Übersetzungen 
aus Heine, Lenau, Herwegh, Hebbel („Maria Magdalena"), Byron („Sar- 
danapal"), Tennyson, Alfieri gut. 

Auch Ogarjov (f 1877), der Freund Herzens, der mit ihm in die 
Verbannung ging und mit ihm den „Kolokol" herausgab, kann hierher 
gezählt werden, eine Lermontovsche Gestalt. Er ist verzweifelt, möchte 
Trost im Träumen suchen, aber auch dies tötet ihm die kalte Vernunft. 
Am verzweifeltsten klingen seine „Monologe". Er ist der Sänger der 
Armut, der Not, des Todes und — was zu den Anklägern sonst weniger 
gehört — der verratenen Liebe, ganz Lermontov. 

§ 52 I Das „anklägerische" Drama vertritt Ostrowskij, ein großes 
Talent, durch den die schlummernde dramatische Dichtung erst wieder Leben 
erhielt und, in neuen Bahnen gehend, eine bedeutende Höhe erreichte. 

Das Theater war ja in Rußland seit seinem Entstehen außerordent- 
lich beliebt gewesen ; jedoch die Zuschauer stellten geringe Anforderungen^ 
sie hatten auch nicht das richtige Verständnis, denn bessere Stücke wie 
die Gogols und Gribojedovs schlugen nicht allzutief Wurzel. Man liebte 
mehr Schau- und Singspiele, einheimische wie übersetzte, vollkommen 
wertlose Sachen ^®®). An solche schwachen Stücke verschwendeten gute 



V 

/ 





o6 Achtzehntes Kapitel 



Mimen wie Martynov, Schtschepkij, Karatygin ihre Kräfte. So 
hielten sich durch ihre hervorragende Darstellung die mäßigen Dramen 
eines Obodowskij, wie sein „Belisar", aus dem Deutschen über- 
arbeitet, sein „Verzaubertes Haus", aus dem .Französischen überarbeitet, 
bis in die sechziger Jahre mit bestem Erfolg. Etveas höher stand 
Polewoj, der uns bekannte Literat, mit seinen Stücken patriotischen 
Inhalts: „Der Großvater der russischen Flotte " (1839), „Der Kaufioaann 
Igolkin", einer Episode aus der Schlacht bei Poltawa, und mit seinen 
Überarbeitungen Shakespeares „Hamlet", „Romeo und Julie", auch 
Moli^res und Schillers. Der Kriegs- und Siegesdramatiker Kukolnik 
hatte wegen seiner Themen den größten Erfolg. Dahin gehören „Die 
Hand des Höchsten rettete das Vaterland" (1834), „Fürst Skopin 
Schujskij" (1835); am meisten schlug seine ad hoc gemachte „Seefeier 
in Ssewastopol" (1854 — Sieg über die Türken bei Sinope) durch. Er 
kam auch noch auf den Gedanken, italienische Künstler und Dichter zu 
dramatisieren, z. B. Tasso, hatte aber trotz der eleganten Verse wenig Erfolg. 

Meilenweit über allen ist Ostrowskij (1823 — 1886). Seine Dramen 
sind anklägerisch ; sie leuchten unbarmherzig in die Sünden und Gebrechen 
eines Standes hinein, um den sich bis jetzt niemand gekümmert hatte, der 
aber ein „wahres Reich der Finsternis " bildete, in den Kaufmannsstand. 

Ostrowskij ^^^) ist wie Gogol Vertreter der realistischen (naturalistischen) 
Schule. Aber Gogol lag vor allem an der Komik der Situation; seine 
Personen sollten die Lachmuskeln der Zuhörer in Bewegung setzen. Derlei 
geht jedoch nicht ohne einen gewissen Zwang an den Personen wie an 
der Handlung. Ostrowskij ist objektiver; er bleibt streng sachlich, real, 
er nimmt die Vorgänge wie sie sind und verzichtet auf jede Effekt- 
hascherei. EiSekte brachten seine Vorwürfe an und für sich schon genug ; 
seine Umgebung war wie dazu gemacht. Die Moskauer Handelsleute, 
reich, geschwollen reich, aber geizig, unwissend, borniert, dummstolz, roh, 
sittenlos, abgefeimt, betrügerisch — so sah sie der Junge jeden Tag; 
sein Vater war eine Art Rechtskonsulent, den sie häufig gebrauchten. 
Später lernte er sie noch näher kennen, als er im Handelsgericht arbeitete. 
So ausgerüstet, trat er schon 1846 mit einigen kleinen Sachen hervor, 
die starken Unwillen bei den Betroffenen erregten. Von emer wirklichen, 
erfolgreichen Tätigkeit kann man jedoch erst seit 1852, seit dem Er- 
scheinen seiner „Armen Braut", sprechen. 

Ostrowskij ist der fruchtbarste Dramatiker, speziell Komödienschreiber 
Rußlands gewesen ; natürlich ist manches von untergeordneter Bedeutung. 
Ein erstklassiges dramatisches Talent verrät schon sein Stück „Armut ist 
keine Sünde" (1854). Es hat als Hauptaufgabe, die Sünden des Kauf- 
mannsstandes zu geißeln. Es blickt aber auch etwas vom Slawophilen 
hindurch, der er trotz aller „Anklägerei" im Grunde seines Herzens 
immer gewesen ist; es läuft auf das Lob der alten Zeit, ihrer Lieder, 



« 



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Anklageliteratar^', ihre Ansströmangen a. Gegenströmungen. — Die Narodniki m 



ihrer Spiele hinaus und auf das Bedauern, daß von allen nur die Er- 
innerung geblieben ist. Das zeigen noch deutlicher seine historischen 
Stücke, sein „Kosma Minin" (1862 — einer der Befreier Rußlands aus 
schlimmster Zeit, der des Interregnums), sein „Pseudodemetrius^^ (^367) 
(sozusagen eine Fortsetzung von Puschkins „Boriss Godunov'% auch 
seine ^,Wassilissa Mjelentjewa" ^•2) (s. S 58). Aber von diesen historischen 
Stücken wollte weder die Kritik noch das Publikum etwas wissen, mit Recht : 
was er nicht selber sah, konnte er nicht beleben. Als bestes Stück wurde 
von beiden sein „Gewitter" ^®') (1859) angesehen; Dobroljubov nannte es 
einen Lichtstrahl im „Reich der Finsternis". Durch ein schweres Natur- 
gewitter wird ein inneres Gewitter, d. h. die Herzensangst einer jungen Ehe- 
frau wegen eines Fehltritts so gesteigert, daß sie alles gesteht und dann die 
Sühne im Tod sucht. Ostrowskij fallt damit aber keineswegs ein Ver- 
dammungsurteil über sie, sondern klagt vielmehr die sie umgebenden Ver- 
hältnisse an und die Personen, welche die ärmste durch ihre Verbohrtheit, 
ihr allzu starres Festhalten am Herkömmlichen, durch ihre Kälte zu diesem 
Schritt verleiten. Diese schlimmen Personen gehören, wie immer bei ihm, 
dem Kaufmannsstand, dem „Reich der Finsternis" an. 

Ostrowskij folgte auf das lebhafteste allen Fortschritten, welche die 
Reform brachte, und schloß sich auf das innigste allen neuen Lebens- 
erscheinungen an, blieb aber gegen die Mißstände in ihrem Gefolge nicht 
blind. In dem Stück „Eine einträgliche Stelle" (1860) sind die Wort- tmd 
Maulhelden, die von jenen Zeiten ordentlich gezüchtet wurden, bitter gegeißelt. 

Auch andere Stücke: „Ein alter Freund ist besser als zwei neue" 
(1860), „Hartes Brot", „Tolles Geld" (1874), „Das Herz ist' kein Stein" 
(1880), die alle dem Kaufmannsstande und seinen Mißständen gelten, 
sind wertvoll. 

Trotz aller Anerkennung, die der Dichter fand, kam er aus pekuniärer 
Notlage erst gegen Ende seines Lebens heraus, als ihn schon die auf- 
reibende Arbeit gebrochen hatte. Da fielen ihm auch endlich Ehrungen 
zu: er wurde Intendant der Moskauer Theater und Vorsitzender der 
„Gesellschaft russischer dramatischer Schriftsteller". 

Ostrowskijs Stücke haben unendlich dazu beigetragen, den Geschmack 
des Publikums zu heben. Wenn es heißt, er habe keine wirklichen 
Dramen geschrieben, sondern nur lose Szenen aneinander gereiht, so ist 
das ein Vorwurf, der vom heutigen Standpunkt aus schon wiederholt 
zurückgewiesen bt. Ostrowskijs Gestalten haben noch eben Vorzug: sie 
sind nicht durchweg schwarz in schwarz gemalt ; seine Bösewichte sind nicht 
ganz Bösewichte und nur Bösewichte, sondern sie haben auch hier tmd 
da einen Vorzug, eine Tugend, sie sind eben reale Menschen. Ostrowskijs 
Sprache ist so mannigfaltig und abwechslungsreich wie die Puschkins. 

Dasselbe große Verdienst, das sich Ostrowskij um das russische 
Lustspiel erworben hat, steht Leo Tolstoj für die Tragödie zu; nur 

Friedrichs, Russische Literaturgeschichte 7 



q3 Achtzehntes Kapitel 



hat ihn das russische Publikum viel später, erst in der letzten Zeit,. 
schätzen gelernt. Ausfuhrliches darüber § 62. 

Hinter diesen beiden stehen alle übrigen weit zurück. Zwar hat 
auch Turgenjev (s. § 47) Komödien verfaßt; sie sind jedoch tief unter 
seinen Romanen und Erzählungen. Sie geben nicht üble Bilder von der 
alten Zeit, aber die alte Zeit tritt so sehr als die gute alte hervor, daß 
an ihr eigentlich nicht viel auszusetzen ist, und vom Einlänten einer neuen 
ist noch viel weniger die Rede. Es steckt auch Humor und Satire darin^ 
aber ihre Signatur ist Harmlosigkeit. 

Ebensowenig kann man hierher die Stücke rechnen, die Ostrowski] in 
Gemeinschaft mit N.J. Ssolowjov und die der letztere allein geschrieben 
hat. Ganz hübsch ist z. B. die gemeinsame Komödie „Ein glücklicher 
Tag" (188 1) und ebenso niedlich ist Ssolowjovs eigene „Auf der Schwelle 
zur Tat" (1881), aber sie sind nur niedlich, womit wohl genug gesagt ist. 

Anders ist es mit Pissjemskij. Wenn auch mehrere Stücke all- * 

gemein gehalten sind, wenn sie nur allgemeine^ Schäden hervorheben wie 
den Kult des Gottes Baal, so ist doch sein „Bitteres Loos" (1858) ein 
sehr schwer anklagendes „Bauerndrama'', das erste effektvolle dieser 
Gattung noch vor Tolstojs „Macht der Finsternis". 

In der Komödie steht Ostrowski] am nächsten Potjechin. Daß 
seine Stücke bitter waren tmd bei der Regierung keine angenehmen Ge- 
fühle auslösten, beweisen die Schwierigkeiten, welche die Zensur ihrer 
Aufführung bereitete; ein Teil wurde überhaupt nicht zugelassen. Schon 
sein erstes Stück „Menschengericht ist kein Gottesgericht" (1853) Wagt 
an, ebenso sein „Flittergold" (1858). Am besten zeichnet den Kampf 
zwischen der alten und der jungen Generation seine Komödie „ Das los- 
gerissene Glied" (1865), freilich sind ihm die Typen der alten Gene- 
ration besser gelungen als die der neuen. — Man darf übrigens auch 
nicht ganz an seinen Romanen vorübergehen, z. B. an „Den armen 
Edelleuten" (1859), an „Den Blutsaugern im Dorf " (1880). Schon die 
Titel sprechen eine deutliche Sprache. 

Speziell das Beamtentum wählt sich zur Zielscheibe Mann in mehreren 
oft aufgeführten Stücken. Sein „Spinngewebe" (1865) ist ein scharfer An- 
griff auf die Gerichte, die alles Leben mit ihrem Gespinst überziehen, ein- 
schnüren und töten. Es ist lebendig geschrieben, hat viele gute Einfälle, nur 
neigt es stark zur Vaudeville-Gattung. Eine andere Komödie „Die Schwätzer" 
(1868) geißelt, wie der Titel schon sagt, die mit der Reform zusammen ein- 
setzende öffentliche Redewut, die sich im Debattieren und in Erörterungen 
gar nicht genug tun konnte, dafür aber destoweniger oder gar nicht zum 
Handeln fährte. Man hat ihn wegen dieses Stückes zu den Reaktionären 
werfen wollen, es ist aber nur Objektivität, ebenso wie er rein objektiv 
in seinem „Allgemeinen Wohl" (1869) die unter dieser Firma segelnden 
egoistischen Bestrebungen des Provinzbeamtentums bloßlegt. 






,, Anklageliteratur ^^, ihre Aosströmnugen u. Gregenströmongen. — Die Narodniki qq 

Ungefähr denselben Strang zieht GrafWl. A. Ssologub (s. S36) 
in seiner Komödie „Der Beamte" (1857); sie hatte wenig Erfolg. 

Desto größeren hatte der äußerst gewandte und sehr fruchtbare 
Viktor Krylov(f 1906). Er griflf mit den Komödien „ Die Land^chafts- 
abgeordneten'' (1874) und ,, Gegen den Strom" in den Kampf der tobenden 
Geister. Später trat bei ihm die Politik zurück. Er übersetzte vorzüglich 
Lessings „Nathan" und überarbeitete eine Reihe französischer Stücke. 

§ 53 I Die „Anklageliteratur" erzeugte selbstverständlich Gegendruck; 
ihre äußersten Konsequenzen, Atheismus, Nihilismus konnten nicht ohne 
Antwort bleiben. So zeigt sich deim der extreme Gegensatz, der von 
einer Reform überhaupt nichts wissen will; neben ihm gemäßigtere Ele- 
mente, die vor der Reform sich von dieser eine durchgreifende Bessenmg 
versprachen oder nach ihrer Einftihnmg, da sie gegen manche übrig- 
gebliebenen oder auch neuerstandenen Mißbräuche nicht blind waren, 
doch eine langsam vorschreitende Gesundung erhofilen, jedenfalls keine 
Über- oder Umstürzung, keine dilettierenden Versuche, keine nebel- 
haften Neuerungen wollten. Das Proletariat hatte bei d^n „Anklägern" 
die Führerrolle gehabt; diese übernimmt bei ihnen wieder der Gebildete. 
Stark hervortretende Geister gibt es freilich unter ihnen nur wenige. 
Einer von diesen wenigen ist' 

Katkov (s. § 46), an Schärfe und an Schlagfertigkeit Ssaltykov 
nicht so femstehend. Er nahm den politischen Elampf in der 
Monatsschrift „Russischer Bote" und in der Tageszeitung „Moskauer 
Nachrichten" auf. Auf seine Rechnung ist zu setzen, daß „Der Zeit- 
genosse", „Die vaterländischen Annalen" verboten, Tschemyschewskij 
nach Sibirien verbannt wurde. Freilich wurden auch seine „Moskauer 
Nachrichten" suspendiert, jedoch nur auf kurze Zeit, um dann desto 
schärfer wieder in streng nationalem, reaktionärem, absolutistischem Sinne 
zu arbeiten. Natürlich halfen ihm die politischen Verhältnisse; Kara- 
kassovs imseliges Attentat kam; Dmitrij Tolstoj, auf den Katkov sehr 
großen Einfluß hatte, wurde „Verfinstenmgsminbter^^ 

§ 54 I Die „ Ankläger ^^ fanden auch ästhetische Gegner, deren 
Stimme allerdings im Winde verhallte, nicht etwa, weil sie unbedeutende 
Männer waren; die Zeit war gegen sie. Annjenkov (1812 — 1887) 
und Drushinin (1824—1864) anerkannten der Kunst gegenüber nur 
den rein ästhetischen Standpunkt; sie wollten nicht Tendenzkritiker sein 
wie Ssaltykov und Tschemyschewskij, sie wollten sich auch nicht von 
Pissaijev belehren lassen, daß ein paar Stiefel wertvoller sei als die Verse 
Puschkins. Der Politik standen sie fem. Annjenkov hat sehr wertvolle 
Aufsätze in den „Vaterländischen Annalen", im „Zeitgenossen", im 
„Boten Europas" über Turgenjev, über Ostrowskij, über Gogol geschrieben. 
Er gab auch Puschkins Werke heraus. In seinen Kritiken trägt er oft 
eine von Bjelinskij abweichende Meinung vor. 



7* 



JOO Achtzehotes Kapitel 



Dnishinins erste Tätigkeit gehörte dem „Zei^enossen^S solange 
dieser noch nicht im radikalen Fahrwasser segelte, dann schrieb er für 
„die Lesebibliothek", für den „Funken", für „den Russischen Boten". 
Er war ein sehr guter ELenner auch der westeuropäischen Literatur; er 
hat mehrere Stücke Shakespeares übersetzt, und manches sehr Lesenswerte 
über Balzac, Thackeray geschrieben. Daß er ein bedeutendes Erzähler- 
talent besafi und vorzüglich Menschen zu charakterisieren und das mensch- 
liche Herz, besonders das weibliche, zu analysieren verstand, beweist sein 
Roman „Pauline Saks" (1849). ^^ rollte mit diesem zum ersten Male 
in der russischen Literatur die weibliche Frage auf. Die jtmge Frau liebt 
einen andern. Der Ehemann hält sich nicht für berechtigt, sie zu ver- 
dammen und ihr die Möglichkeit zu nehmen, dem geliebten Mann zu 
folgen. — Dnishinins treffliches Herz und gesunder Verstand ließen ihn 
die „Gesellschaft zur Unterstützung notleidender Schriftsteller und Ge- 
lehrten" ins Leben rufen. 

Auch Apollon Grigorjev (1822 — 1864) ist ein Gegner der 
„Ankläger". Er bekennt sich aber auch nicht zur rein ästhetischen 
Kritik der Vorhergehenden, sondern vertritt die Carlylesche oi^nische 
Kritik, d. h. er sieht zwischen der Kunst und der Kritik eine organische 
Verwandtschaft, in der Erkenntnis des Idealen. Es steckt auch vieles 
vom Slawophilen in ihm. Seine kritischen Abhandlungen in den „Vater- 
ländischen Annalen", im „Russischen Wort", im „Russischen Boten" 
konnten gegen die. gegnerischen nicht aufkommen. 

§ 55 I Von den Dichtungsarten ist der Roman hier gleichOalls am 
besten vertreten. Mancher „klagt" auch „an" und nicht etwa bloß den 
Nihilismus und den Atheismus, sondern genau dieselben Sünden und 
Gebrechen, gegen die sich die „anklägerische" Literatur wandte, aber 
doch ist ein bedeutender Unterschied zwischen beiden: er hält Maß in 
seinen Anklagen, er sieht nicht überall Mißstände, er sieht auch lichtere 
Seiten; er klagt nicht an bloß der Anklage wegen. 

Noch auf dem Boden der Ideale der vierziger Jahre steht Kljusch - 
nikov. Sein bester Roman „Luftspiegelung" (1864) spricht von den 
Leuten, die mit hohen Idealen im Herzen sich mit dem ganzen Feuer- 
eifer ihrer Seele in die revolutionäre Bewegung stürzen tmd dort nun 
nach und nach erkennen, daß alle diese Ideale an der alltäglichen Wirk^ 
lichkeit zerschellen, daß die ganze Bewegung — Luftspiegelung ist. 

Wie Kljuschnikov kämpft gegen den Nihilismus, gegen seine sinnlose 
Zerstörungswut, gegen seine blutigen Konsequenzen Krestowskij. (Nicht 
zu verwechseln mit der gleichfalls Romane schreibenden, weniger be- 
deutenden Frau Chwoschtschinzkaja, deren Pseudonym Krestowskij ist.) 
Bekannt machte er sich durch seine „Petersburger Spelunken" (1864 bis 
1867), worin er nach Sues „Pariser Geheimnissen" die schaurigen 
Nachtseiten der Hauptstadt schüderte. Er war ein guter Keimer der 



„Anklageliteratnr^^, ihre Aasströmnngen n. GegeDströmnngeu. — Die Narodniki iqi 

französischen Literatur, wie die meisten dieser Schriftsteller wieder über 
eine gediegene Bildung verfügen, auch im äußeren Leben wieder mehr 
hervortreten; Krestowskij nahm 1877 als offizieller Hofhistoriograph am 
russisch - türkischen Kriege teil. Lesenswert sind seine Romane: „Nicht 
der erste und nicht der letzte" (1859), ,, Durchtriebene S(;helme" (1887). 

Den Bauern gilt natürlich auch das Mitgefühl dieser Schriftsteller. 
Ssalov schrieb von 1877 ab in den „Vaterländischen Annalen** eine 
Reihe von Erzählungen, so „Die Mühle des Kaufmanns Tschessalkin^S 
„Der Pächter" u. a., die uns das hungernde Dorf, die zerlumpten Kinder, 
die vernagelten Fenster der dem Einsturz nahen Häuser malen gegenüber 
dem feisten, aufgeputzten, Festmahle feiernden Volksaussauger, dem Kulak. 
Er bekämpft also auch die Auswüchse der Reform, aber nicht die Re- 
form selber. Seine Naturschilderungen, seine Bilder aus dem ländlichen 
Leben, Bilder vom Fischfang, von der Jagd sind trefflich. 

Den Trotz und Starrsinn des russischen Bauern, ebenso des Klein- 
kaufmanns, geißelt mit starkem Humor Lejkin. Sein „Stück Brot" (^869) 
wurde viel gelesen. Tiefen Ernst und tiefe Trauer atmet sein Roman „Auf 
Lohn" (189X), in dem das Los der armen Bäuerinnen geschildert wird, die 
nach Petersburg kommen, um Arbeit zu suchen, und dort nur Leid erfahren. 

Arm waren nicht bloß die Bauern, arm war infolge der Aufhebung der 
Leibeigenschaft auch der Kleinadel geworden ; Unfähigkeit, angeborener Leicht- 
sinn trugen natürlich ein gut Teil dazu bei. Davon sprechen die Skizzen, 
die Tjerpigorjev (unter dem Pseudonym Atawa) in den „Vaterländischen 
Annalen" brachte, und die er dann unter dem Titel „Verarmung** (188 1) 
zusammenfaßte. Auch Ssaltykov hatte das Thema berührt, aber nur all- 
gemein, während Tjerpigorjev konkrete, lebende Bilder zeichnet. 

L e s s k o V und M j e 1 n i k o v behandeln ganz besondere Themen. Lesskov 
(Pseud. Stjebnizkij) hat auch nihilistische Typen, die unreifen Jünglinge mit 
den imverstandenen Ideen, manche, 'die nach Wahrheit verlangen und das 
Gute wollen, manche, die meisten, die nur den eigenen Vorteil und den 
eigenen Genuß suchen, beide ihre Kräfte nutzlos verschwendend und ein 
Chaos für Mann und Weib herbeiführend; er bringt jedoch noch ein 
anderes Element hinein, die Geistlichkeit, die nur selten bis jetzt berührt 
ist. Sie spielt schon in seinen ersten großen Roman hinein „Nirgends 
wohin" („Kein Ausweg" — 1865). Ihr ganz gewidmet ist der Roman 
„Die Kirchenleute" (1876). Außerordentlich anschaulich und zugleich 
sympathisch ist hier ihr häusliches Leben mit Frau und ELindern, ihre seel- 
sorgerische Tätigkeit, ihr Kampf mit dem Unglauben, dem Sektenunwesen, 
dem Nihilismus geschildert. Am wenigsten befriedigt eigentlich sein Roman 
„Auf Messern" (1872), und dabei hat er die meisten Auflagen erlebt. 

Besonders dem Sektenwesen widmet sich Mjehiikov (Pseudonym 
Pjetscherskij). Um dieses noch vollkommen im Dunkel liegende Ge- 
biet genau kennen zu lernen, ist er in die fernsten, abgelegensten 



I02 Acbtzehntes Kapitel 



Orte, besonders der Wolgagegend, gewandert, zu den Bauern und 
kleinen Kaufleuten, den zähesten Schismatikem. In seinen Büchern 
„Alte Jahre" (1857), »i^^r Bärenwinkel" (1857), später in „Den 
Wäldern" (1872), „Auf den Bergen" (1875 — 1881) gibt er eine 
vorzügliche Schilderung ihrer Sitten imd religiösen Gebräuche, wahre 
Kulturgemälde. In die Erzählungen flicht er eine ganze Reihe von 
Volkslegenden und Sagen, viele russische Sprichwörter ein. Leider 
verteilt er zuviel Licht auf die Sektierer, zuviel Schatten auf die 
Geistlichen, denen er vor allem Trunksucht anhängt. Mjelnikov hat 
auch mehrere wissenschaftliche historische Arbeiten über die Schisma- 
tiker verfaßt. 

Es verdienen auch die Namen von Marko v und von Golowin 
(Pseudonym Orlowskij) erwähnt zu werden, die beide für den „ Russischen 
Boten" diesen und jenen hübschen Roman geschrieben haben. 

§ 56 I Im. Roman bietet sich noch eine neue Seite. Die russische 
Frau tritt in die Erscheinung. Turgenjev hatte sie sogar zur Herrin des 
Mannes gemacht. Das war vordem anders, ganz anders gewesen. Das 
Leben der russischen Frau noch in der ersten Hälfte des 19. Jahr- 
hunderts war genau dasselbe, wie es im 16. Jahrhundert der „Domostroj" 
vorgezeichnet hatte, d. h. das der oft geprügelten Dienstmagd gegenüber 
dem strengen und rohen Gebieter. Eine Bresche in diese von den Männern 
stark verteidigte Festung schlugen die am Ende der vierziger Jahre in 
Rußland eindringenden Werke George Sands, die nicht allein die Frau 
über sich selbst aufklärten, sondern auch den Männern ihr unrechtes 
Handeln zur Einsicht brachten. Die ersten Früchte dieser Aufklärung 
waren Drushinins „Pauline Saks", Herzens (Iskanders) „Wer ist schuld?" 
gewesen und, stark an „Pauline Saks" erinnernd, Awdjejevs „Stein 
unter Wasser" (1860). (Ein anderer Roman Awdjejevs „Tamarin" [1852], 
gleichfalls eine starke Nachahmung [von Lermontovs Pjetschorin] ist trotz 
der Anlehnung interessant und damals vom Publikum hoch eingeschätzt 
worden.) Dann kam Turgenjev und neben ihm Gontscharov, die nun aus 
der unterdrückten Sklavin eine erhabene Gebieterin machten. Und ähnlich 
stellte sich selbst Pissjemskij, der die Männer mit schonungsloser Satire 
verfolgt, die Frauen in allem entschuldigt. Im übrigen machte sich nicht 
bloß theoretisch im Roman der Fortschritt bemerkbar, sondern auch draußen 
im praktischen Leben; schon 1858 wurden die ersten weiblichen Gymnasien 
errichtet, also lange bevor man bei uns überhaupt nur eine Ahnung davon 
bekam. Die Entwicklung ging mit Sturmschritten weiter. Die Frau be- 
gnügte sich sehr bald nicht mehr mit der eben erst zugebilligten Stellung 
in der Familie und der Gesellschaft, sie wird selber handelnd, treibend, 
sogar politisch treibend. Die Frau auch dieser Art, nicht mehr die Herz 
und Sinne bestrickende, eher die abstoßende, unweibliche, unreif politi- 
sierende kennt man zur Genüge aus Turgenjev. 



,,ADklageliteratar", ihre Ausströmungen a. Gegenströmungen. — Die Narodniki 103 

f 

Diesen Auswüchsen femstehend, dringt jetzt die arbeitsame, kluge, 
unabhängige Frau selbständig auch in unser Gebiet; sie tritt selber lite- 
rarisch für die Rechte ihres Geschlechtes ein. 

Schriftstellerinnen hatte es ja lange vorher gegeben. Katharina 11., 
die Fürstin Daschkova ragten hervor. Aus einem Ssmirdinschen (Buch- 
händler-) Katalog ersieht man, daß am Ende des i8. Jahrhunderts und 
im Anfang des 19. sehr viele Frauen ihre Gedichte, Erzählungen, Dramen 
drucken ließen, durchweg dürftig und tendenzlos. Die Frauenfrage be- 
handeln zum ersten Male in ihren Romanen Frau Chwoschtschinskaja, 
Frau Ssochanskaja, Frau Markovitsch. 

In den vielen Romanen der Frau Chwoschtschinskaja (Pseu- 
donym Ws. Krestowskij — alle diese Damen schreiben pseudonym, wie ja 
auch viele Männer dieser Zeit) sieht man deutlich zwei Perioden. Die der 
ersten („Der Dorflehrer" 1850, „In Erwartung des Besseren" 1860) zeigen 
noch das unter der starren Aufsicht der tyrannischen Mutter duldende 
junge Mädchen, dem auch der schwache Vater nicht helfen kann; da- 
gegen tritt im Roman „Der große Bär" (1871) schon die neue Frau auf, 
die für das Allgemeinwohl arbeitet, die auf dem Boden der neuen Be- 
wegung steht, die im Kampfe ist mit dem noch die Ideale des Domostroj 
vertretenden Manne. Frau Chwoschtschinskaja hat ein scharfes Auge für 
die Fehler jener Zeit. Die großen Phrasenhelden und die kleinen Seelen 
zeichnen ihre letzten Werke, der Romanzyklus „Die Provinz in der alten 
Zeit" (1884) und „Pflichten" (1888). Überall haben wir in abgerundeter, 
anmutender Darstellung treffende Bilder aus dem Leben in der kleinen 
Provinzstadt, im Dorfe; besonders das Treiben der höheren Schichten 
ist gut beobachtet und gut wiedergegeben. Mehrere ihrer Romane sind 
ins Deutsche, auch ins Italienische übersetzt. 

Mit grelleren Farben malt ihre Bilder aus der vom Leben ab- 
geschnittenen fernen Provinzstadt, aus dem fernen Dorf, aus dem dort 
vegetierenden Dasein Frau Ssochanskaja (Pseudonym Kochanowskaja). 
Die unglückliche Ehe, die aus dem in Rußland heilig gewordenen Her- 
kommen resultiert, das junge Mädchen nur nach dem Beschluß der Eltern, 
nicht nach ihrem Willen dem Mann zu übergeben, dieser Krebsschaden aus 
der Vergangenheit, der noch immer kräftig Wurzel treibt, ist das Thema 
ihres ersten besseren Romans „Nach dem Mittagessen" (1857). Groß- 
artig ist hier wie in dem folgenden „Aus einer Provinzgemäldegallerie " 
(1859) die Schilderung der Stagnation fem vom Strom des Lebens, fem 
vom bildenden Treiben der Großstadt; aber der Roman zeigt zu gleicher 
Zeit an vielem, daß die alte Zeit auch gut sein kann, daß die Herren 
und die Leibeigenen durchaus nicht immer Feinde zu sein brauchen, 
daß sie einander zugetan und treue Diener und treue Schützer waren. 
Frau Ssochanskaja ist ebenso wie Frau Chwoschtschinskaja außerordent- 
lich gewandt im Ausdmck. 



I04 Achtzehntes Kapitel 



Am geschicktesten Ü3t die neue Zeit und die neuen Aufgaben Frau 
Markowitsch (Pseudonym Wowtschok) mit ihrem Roman „Die leben- 
dige Seele" (1868) an., Nachdem die Erzählung erst die Bedingungen 
entwickelt hat, unter denen sich der Charakter einer Frau vernünftig 
bilden kann — Erziehung zur Arbeit, zum selbständigen Denken, zur 
wahren Religiosität — zeigt er, wie eine solche Frau bei einem Ehe- 
mann, der unter ihr steht, der nicht schaffen kann und will, alle 
herkömmliche Sitte und Moral beiseite setzen und ruhig von ihm 
gehen kann. 

§ 57 I Aufs engste mit diesem Sittenroman verwandt ist der 
historische Roman, gibt er uns doch genau wie jener Bilder aus 
der Vergangenheit oder Gegenwart, nur nicht aus dem Kreise der Kleinen 
und schnell Vergessenen, sondern aus dem der Großen und Fortlebenden- 
Hier handelt es sich natürlich um ganz besonders hervorragende Ge- 
stalten, um besonders herausfallende Ereignisse. Eine splche Gestalt ist 
Iwan der Schreckliche. Mit ihm beschäftigen sich mehrere, wieder wirk- 
lich bedeutende Leute. An ihrer Spitze steht 

Graf A. Tolstoj ^^*) (181 7 — 1875), ein gebildeter, viel gereister Mann, 
eine Künstlernatur, ein Dichter. Auch äußere Umstände hatten zu seiner 
Entwicklung viel beigetragen. In Petersburg geboren, brachte er doch 
seine Jugend in Kleinrußland zu, dessen prächtige Natur außerordentlich 
auf das Knabengemtit wirkte; dann wurde er mit dem Thronfolger zu- 
sammen erzogen; später war er vielfach im Auslande, in Deutschland, 
in Italien, wo er mit den erlauchtesten Geistern verkehrte. Die kurze 
Begegnung des E^aben mit Goethe ist dem alten Tolstoj immer eine 
der wertvollsten Erinnerungen geblieben. Alle diese Umstände erweckten 
in ihm ein tiefes Kunstempfinden, ein tiefes Verstehen von Mensch und 
Natur. 

Graf Tolstojs Roman „Fürst Sserebrjanyj " (18 61) greift in die 
schlimmen Zeiten Iwans hinein, wo dieser in seiixer steten Angst um Ver- 
rat sich mit einer Leibwache, den Opritschniki, umgibt und wo diese Leib- 
wache ntm in maßlosester Willkür herrscht und die ' maßlosesten Grau- 
samkeiten verübt. Fürst Sserebijanyj kehrt aus dem litauischen Kriege 
zurück und sieht diese furchtbare Wandlung, sieht den nur nach Blut 
und Mord dürstenden Herrscher. Mit hohem Mut tritt er ihm entgegen 
und bezwingt ihn durch seine edlen Gründe. Der Wert des Romans 
besteht natürlich nicht in diesem Rahmen, am wenigsten in dem End- 
resultat, sondern in den Bildern, die er vom Zaren, von seiner Umgebung, 
von den damaligen Sitten und Anschauungen entwirft, und nicht allein 
von denen Rußlands, sondern auch von denen des eben erst in russi- 
schen Besitz übergegangenen neu eroberten Sibiriens. 

Ungefähr in dieselbe Zeit Iwans greift ein Roman Kostomarovs 
hinein. Kostomarov ist als Schriftsteller und als Gelehrter gleich be- 



,ÄnklageIiteratar", ihre Ansströmangen a. GegenströmmigeD. — Die Naroduiki 105 

deutend. Aus seinen vielen gelehrten Arbeiten über russische Geschichte 
schöpfte er die Stoffe zu seinen SchriftsteUereien , bei denen ihm seine 
Künstlerader wie seine reiche Phantasie sehr zustatten kamen. Mit seinem 
Roman „Kudjejar" (1875 im „Europäischen Boten") berührt er jene 
geheimnisvolle Persönlichkeit, die auf die unheilvolle Politik Iwans so 
entscheidenden Einfluß hatte ; so soll durch ihn Iwan zu der entsetzlichen 
Grausamkeit gegen die Nowgoroder bewogen worden sein. Am Schluß des 
Romans entpuppt er sich als Sohn Wassilijs III., also als älterer Bruder Iwans. 

Ein anderer, früher fallender Roman Kostomarovs „Der Sohn" 
(1865) ^^^^ ^^^ ^ ^^^ ^^^^ Stjenka Rasins, jenes aufständischen doui- 
schen Kasaken unter Alexejs Regierung, der vom Kaspischen Meer an 
bis Nishnij Nowgorod alles an sich riß und ausplünderte, bis er (167 1) 
gefangen und hingerichtet wurde. „Der Sohn" rächt die vom tyranni- 
schen Gutsherrn beleidigte Mutter ; er zündet das Gut des Beleidigers an, 
gerät aber in Gefangenschaft und wird nun getötet. Das Haupt- 
augenmerk des Verfassers ist darauf gerichtet, uns mit den Sitten des 
17. Jahrhunderts bekannt zu machen, mit den damaligen Hochzeits- 
gebräuchen und Leichenbegängnissen, mit den Gerichtssitzungen und der 
Art der Rechtsprechung, kurz mit allem, was dem 17. Jahrhundert 
eigen war. 

yDer Pugatschovsche Aufstand, also jener unter ICatharina II. tobende 
Aufstand, der vom Kasaken Pugatschov angestiftet war mit der Prokla- 
mation, Kaiser Peter III. lebe noch und er sei dieser Peter, bot gleich- 
falls reiche Nahrung. Er wurde von dem auf historischem wie auf belle- 
tristischem Gebiet gleich fruchtbaren Grafen Ssaliass de Turnemir 
im Roman „Die Leute des Pugatschov" (1873) behandelt. Er gibt 
vortreffliche Bilder von der Kasaner Gesellschaft, von der Gärung im 
Volke, dann von der Einnahme Kasans, auch vorzügliche Charakteristiken 
der russischen Kommandierenden Bibikov und Ssuworov. 

Denselben Stoff wählte auch Danilewskij für sein > „ Schwarzes 
Jahr" (1888). Bedeutender in seiner künstierischen Ausführung, wenn 
auch nicht immer treu der Historie folgend, ist Danilewskijs „Brennendes 
Moskau" (1885 — 1886). Er berührt sich da in vielem mit Leo Tolstojs 
„Krieg und Frieden". Tolstojs großes und großartiges Werk wird an 
anderer Stelle besprochen (S 62). Genau wie Danilewskij in manchem 
mit Tolstoj zusammengeht, genau so gehen sie natürlich auch ausein- 
ander: z. B. hat Napoleon bei Danilewskij viel realere Züge, und in der 
Auffassung der Frau divergieren sie vollkommen. Die Heldinnen Tolstojs 
sind Heldinnen als Mütter, Töchter, Gattinnen, Danilewskijs Heldin steht 
auf dem Boden der neuen Bewegung: ihr Opfermut gilt dem Vaterland. 

§ 58 I Dieselben Stoffe lagen auch dem Dramatiker. In die 
Epoche Iwans des Schrecklichen greift Ostrowskijs bestes historisches 
Drama „Wassilissa Mjelentjewa" hinein. Wassilissa ist die ehrgeizige 



Xo6 Achtzehntes Kapitel 



Witwe eines Bojaren, welche die Hand Iwans erstrebt; auch er will sie 
lind will dazu seine eigene Frau beseitigen. Wassilissa ist aber noch 
grausamer, sie will den Triumph des Mordes für sich haben und 
überredet einen Geliebten hierzu. Der Zar erfahrt von dem Geliebten, 
und nun mufi Wassilissa sterben. Das ist dramatischer Stoff, aber 
Ostrowskij hat ihn ein wenig schnell hingeworfen, tmd so ist es nur 
dramatisierte Geschichte geworden. Nichts anderes ist sein „Kosma 
Minin", sein „Pseudodemetrius**, sein „Wassilij Schujskij" (§ 52). 

Alexej Tolstoj hatte neben seiner epischen Ader entschied^ auch 
eine dramatische. Seine große Trilogie:„Der Tod Iwans des Schreck- 
lichen" (1858), „Der Zar Feodor Joannowitsch" (1868), „Der Zar 
Boriss" (1869) packt den Stoff dramatisch an, hat auch gute szenische 
Effekte, aber Tolstojs Personen reden zu wohlgesetzt, sind blutlos imd matt, 
so daß sie mit einem so großartig erfaßten und so großartig durch- 
geführten Werke wie Puschkins „Boriss Godunov" nicht in Konkurrenz 
treten konnten. 

Noch ein paar Dichter haben sich, keineswegs mit Ungeschick, auf 
diesem Gebiete, in diesem Stoffe versucht; nur werden auch sie natürlich 
von der Konkurrenz Puschkins erdrückt. So malt und charakterisiert 
ausgezeichnet 

L. A. Mej. In der „Frau aus Pskov" (1860) ist die Heldin eine 
Tochter Iwans und einer Bojarenfrau. Sie lebt in Pskov. Iwan will die 
Pskower wegen ihrer Unbotmäßigkeit züchtigen. Da erkennt er die 
Tochter, imd sein Zorn verraucht. Vortrefflich ist dem Verfasser die 
Zeichnung der übermütigen Opritschniki, des alten Volksrats, der auf- 
rührerischen Massen gelungen; nur blickt überall ein bißchen stark der 
gelehrte Inspektor am Moskauer Gymnasium hindurch. Der Gelehrte 
hat auch sonst mancherlei, zu dem ihn sein Studium führte, dramati- 
siert: aus dem russischen Altertum, aus der römischen Geschichte, aus 
der Bibel. 

Auch Awjerkijev knüpft in seinem Drama „Freiheit — Unfreiheit" 
(1868) an Iwan an. Er bringt den Zaren jedoch mehr zu Hause, in 
seinem Verhältnis zu den Dienern, zu der Leibwache, zu denen, die er 
liebt, wo er also nicht der Zar ist, sondern Wanja. Awjerkijevs Stücke 
zeigen den effektsicheren Arbeiter, den geschickten Dramaturgen. Er hat 
noch ein sehr bemerkenswertes Stück geschrieben, das einzige, das ein 
Bild aus der Zeit unmittelbar vor Peter gibt, die Komödie „Frol Sska- 
bjejev". Frol ist ein Narr am Hofe Alexej Michailowitschs. Das Stück zeigt 
das Leben und Treiben des Hofes imd der Hofgesellschaft mit Hinein- 
arbeitung aller Scherze und Witze, welche die naive Phantasie des Volkes 
für diese Narrensperson ausgesonnen und ausgesponnen hatte. Der Narr 
ist, wie bei uns, kein Narr, sondern eine kluge, witzige, schlagfertige 
Persönlichkeit. 



„Anklageliteratar", ihre Ausströmangen u. Gegenströmungen. — Die Narodniki io7 

Auch Kostomarovs Dramen verdienen Erwähnung : „Ssawa Tscha- 
lyj" (1838), und sein Trauerspiel „Die Nacht in Pjerejassiaw" (1841), 
mit kleinrussischem Hintergrund und in kleinrussischer Sprache geschrieben. 

§ 59 I Fem vom politischen Wirrwarr und jeder revolutionären Be- 
wegung hält sich auch ein Teil der Lyrik, Genüge findend^ in der 
reinen Kunst, sich in die Natur versenkend, in die Vergangenheit. Sie 
alle sind recht bedeutende Dichter. 

Den Reigen eröffnet wieder AlexejTolstoj. Der Verehrer Goethes, 
Heines, Dantes hat von ihnen die Schönheit der Form übernommen. 
Besonders gelingt ihm die Beschreibung der Natur, der Natur, die das 
Entzücken seiner Kindheit gebildet hatte, die kleinrussische. Manche 
der Gedichte treffien in glücklichster Weise den echten Volkston. Die 
ernste Seite liegt ihm , auch die religiöse — in erster Reihe steht da die 
epische Erzählung „Die Sünderin'' (1858). Andere schöne Erzählungen 
sind „Äljoscha Popowitsch", „Der Drache" (1875) usw. 

Eine zarte, weiche Natur, fem allem Leidenschaftlichen, Stürmischen ist 
A. N,Majkov(i82i — 1895). ^^ hatte die Rechte studiert, beschäftigte 
sich aber viel mehr mit Poesie und Malerei. In Italien hatte er sich für die 
Antike begeistert; der durch sie gewonnenen Richtung blieb er in allem 
treu. Aus dieser ersten Zeit stammen seine besten Schöpfungen: 1841 
seine erste Sammlung Gedichte — 1842 seine „Römischen Skizzen" — 1841 
auch das lyrische Drama „Drei Tode". Seine „Römischen Skizzen" mit 
ihren Bildern aus der Vergangenheit, denen die moderne Zeit gegenüber- 
gestellt ist, zeigen die Idealauffassung des Künstlers. Ebenso tritt sie in den 
„DreiToden" entgegen, d, h. Gesprächen, welche die durch sinnlose Tyrannen- 
wut zum Tode verurteilten Seneka, Luzian und Lukan führen. Der Gegensatz 
zwischen dem untergehenden Heidentum und der neuen Welt des Christen- 
tums ist kühn herausgearbeitet. Das lyrische Drama hat seine Fort- 
setzung im „Tod Luzians" und findet seine Krönung in „Zwei Welten". 

Der Epiker Majkov hat wirkliche Perlen der Poesie geschaffen in „Sa- 
vonarola", „Der Dom von Clermont", „Die Beichte der Königin", „Die 
Fürstin". — Alle Dichtungen haben eine klangvolle, weiche, sich in Ohr und 
Herz einschmeichelnde Sprache ; sie haben auch die mssische Melancholie, 
aber nicht die herbe, sondern die sich in stillem Frieden auflösende. 

Ein anderer Dichter, dem es gleichfalls das Altertum angetan hat, 
diesem das griechische, ist der Halbgrieche Schtscherbin — seine 
Mutter war Griechin, sein Vater Kleinrasse. Es war also Blutsdrang, der 
ihn unwiderstehlich nach Griechenland zog. Am besten sind seine Verse 
„Griechische Dichtungen" (1849). Auch sonst nahm er den Stoff" zu 
seinen Dichtungen aus dem altgriechischen Leben. Er steht Majkov an 
Schönheit etwas nach. 

Kleiner als Majkov ist auch wohl Fet (sein Vater heißt Schenschin). 
Seine Gedichte, schon die ersten, die er 19 Jahre alt veröffentlichte (1840), 



I08 Nennzehntes Kapitel 



zeigen tiefe SeelenstimmuDg sowie ein lebendiges Siebversenken »in die 
Scbönbeiten der Natur. Der Freund der Natur fühlte sieb in der Stadt 
niebt wohl, sondern siedelte auf das Land über und scbrieb hier prak- 
tisebe Briefe über die Landwirtsehaft , dann aueb über ländliebe Sitten, 
über das Verhältnis zwiseben Bauer und Besitzer und äußert sieh hier 
unverhohlen zugtmsten der alten, vorreformatoriseben Zustände. Er gab 
dies gesammelt unter dem Titel y,Aus dem Dorfe" heraus. In späteren 
Jahren, seit 1877, verließ er diese idyllisebe Riebtung und tändelte, sebon 
ein Voibote des neu heraufkommenden Dekadententums , in anakreonti- 
sehen Weisen, tändelte aueb im Versbau. So zeigt in seinen „ Abendlichen 
Feuern" (4 Sammlungen 1882 — 1887) das Gedieht „Schatten der Naebt" 
kein Verb, sondern Substantiv reibt sieb an Substantiv. Damit verliert 
aber der Wert dieser Dichtungen nicht; sie zeigen hübsche Gedanken 
und tiefes Gemüt. Fet hat auch manches vorzüglich übersetzt, z. B. 
Goethes „Faust** und „Hermann und Dorothea*'. 

/ Ebensowenig verbarg sein vorreformatorisehes Herz Pol onskij. Er 

schuf sieb in seinen Gedichten „Abendläuten" (1869) eine eigene Welt, 
etwas schwärmerisch, phantastisch, elegisch, reichlich mit philosophischen 
Betrachtungen durchsetzt, aber voll schöner, warmer Bilder, voll Emp- 
findung. Die Bilder aus dem Kaukasus sind besonders schön. Sehr 
hübseh ist auch sein großes Scherzgedicht „Grille-Musikant** (1863). Es 
zeigt den lachenden, aber unter Tränen lachenden Dichter. So ist sein 
eigenes Leben ^e das der Grille, die den Schmetterling liebt. Der 
verrät sie aber und umwirbt die Nachtigall. Die Nachtigall tötet ihn je- 
doch bald, und nun begräbt ihn die Grille. (Im Russischen macht sieb 
das Bild noch weit wirksamer — die Grille ist das männliche Wesen,, 
der Schmetterling das weibliche und die Nachtigall wieder das männliche). 
Das ist allegorisch das Herzweh des Dichters, der um das Glück der 
Welt wirbt und es nicht finden kann und darüber zugrunde gebt. 
Weniger hervorragend sind Polonskijs Erzählungen und Romane. 

§ 60 I Es ist dies auch die Zeit der guten Übersetzer. Eigentüm- 
lich ist es, wie gern, wie gierig das Publikum sie aufnahm ; man brauchte 
Ablenkung von der Trübsal und den Unruhen des Tages. 

Gerbel(i827 — 1883), von Abstammung Deutschschweizer, übersetzte 
vorzüglich Byron. Dann gab er in den fünfziger Jahren die Werke 
Schillers, Goethes, Shakespeares mit Biographien heraus. Seine eigenen 
Verse „Echos** (1857) zeigen auch den Dichter. 

Weinberg (1830 — 1908) übersetzte und dichtete für verschiedene 
Zeitschriften, er gab dann selbst „Das Zeitalter** heraus. Von Shake- 
speare bat er neun Stücke übersetzt, femer aus Byron, Shelley, Gutzkow 
(„Uriel Aeosta**). Er gab Goethe und Heine heraus (sein humoristisches 
Pseudonym war „Heine aus Tambov"). In den achtziger Jahren gründete 
er, hauptsächlich für Übersetzungen, die Zeitschrift „Die schöne Literatur**. 



Dostojewskij i qq 



M. P. Michailov (1826 — 1864) schrie^ Verse, Erzählungen, Kri- 
tiken. Er übersetzte aus Tennyson, Longfellow, vor allen aber deutsche 
Gedichte: Heine, Lenau. Er gab Heines „Buch der Lieder'' heraus. 
Ein viel gelesener Roman von ihm war „Zugvögel", worin er die Sitten 
und das Treiben der Schauspieler mit Humor und Satire schildert. 

Neunzehntes Kapitel 
Dostojewskij 

§ 61 I Jn den Rahmen aller dieser Zeitrichtungen pafit nicht Dosto- 
jews)rij, nicht etwa, weil er nicht realistisch geschrieben hätte, sondern 
weil bei ihm über dem Realismus die Mystik und die Romantik schweben, 
weil für ihn die reale Welt sich aus ihrem Elend nur durch die Flucht 
in den Himmel der Mystik und der Romantik erlösen kann. Er fallt 
auch aus dem Rahmen der andern durch seine überragende Bedeutung 
heraus. 

Dostojewskijs Werke erklären sich zum grofien Teil aus dem elter- 
lichen Hause; sein Vater gehörte zum geistigen Proletariat Rußlands, er 
war am städtischen Krankenhaus in Moskau Arzt, der mit der zahlreichen 
Familie in zwei Zimmern wohnen mußte. 

Fedor Michailowitsch Dostojewskij ^^^ wurde im Jahre 1821 
geboren. Die Erziehung des Knaben war religiös. Dieses religiöse Ge- 
fühl macht eine bedeutende Eigenart seines poetischen Talents aus. Nach 
der Übersiedlung des Vaters aus Moskau nach Petersburg kam der junge 
Mann in die Ingenieurschule, wo er viele Bücher las: Goethe, Schiller, 
E. T. A. HofFmann und die Franzosen Corneille, Racine, Viktor Hugo, 
Balzac, George Sand. Er wurde ein glühender Verehrer Schillers; die 
Frucht dieser Verehrung war eine „Maria Stuart", die aber ebenso wie 
ein anderes Drama dieser Zeit „Boriss Godunov" nicht erhalten blieb. 
In seine späteren Werke hat sich allerdings nur wenig von Schillers 
Idealismus und Humanismus hinübergeretiet. 

Er trat dann ins Heer, nahm aber schon 1844 seinen Abschied, um 
sich der Literatur zu widmen. Anfangs übersetzte er Romane, dann ver- 
faßte er selber 1846 den Roman „Arme Leute*', eine Beschreibung 
des Beamtenproletariats in Petersburg, das er im elterlichen Hause sehr 
genau kennen gelernt hatte. Der Roman entzückte Bjelinskij. 

£ane Reihe anderer folgte, alle in den „Vaterländischen Axmalen^' 
veröflfentlicht: „Die Wirtin" (1847), „Das schwache Herz", „Die fremde 
Frau", „Der eifersüchtige Mann" (1848). 

Da wurde er 1849 wegen Teilnahme an den Versammlimgen des 
Petraschewskijschen Kreises verhaftet und zum Tode verurteilt. Nachdem 
der schon nervenschwache junge Mann die ganze Zeremonie, die einem Er- 
schießen voranging, durchgemacht hatte, wurde plötzlich die Begnadigung 



HO Zwanzigstes Kapitel 



verkündet, und er nach Sibirien verbannt Man kann sich hiemach nicht 
wundem, daß er Zeit seines Lebens Epileptiker gewesen ist, was bei der Be- 
urteilung seiner Werke außerordentlich in Betracht gezogen werden muö. Die 
Erlebnisse in Sibirien zerrütteten seine Nerven weiter. Seine „Memoiren aus 
dem Totenhaus" bringen Bilder von dem, was in Omsk seine Mitsträflinge 
und er duldeten; es hat ihn dort nur sein tief religiöses Gefühl aufrecht 
erhalten. Nach zehn Jahren durfte er nach Petersburg zurückkehren. 

Er griff wieder zur Feder und gab nun mit seinem Brader die Zeit- 
schrift „Die Zeit" heraus. In ihr wurden gleichzeitig „Die Memoiren 
aus dem Totenhaus" (1861 — 1862) und ein anderer Roman „Die Ge- 
kränkten und Beleidigten" veröffentlicht. „Die Gekränkten und Be- 
leidigten" sind der Analyse eines niedergedrückten und gestörten Ge- 
müts gewidmet. Dostojewskij konnte sich tief in die Leiden xmd in die 
Gedankenwelt eines solchen kranken Menschen hineindenken, war er doch 
selber Psychopath. 

Die Zeitschrift wurde jedoch bald wegen eines Aufsatzes über die 
polnische Frage verboten. Der kranke Dichter litt nun unter Geldmangel ; 
auch seine schwindsüchtige Frau, die er aus Sibirien mitgebracht hatte, 
die Witwe eines Gefangenenaufsehers, kostete viel. So ging er denn teils 
zur Erholung, teils um den Gläubigem zu entfliehen, ins Ausland, nach 
Paris, nach London, wo er mit Herzen zusammentraf, nach Genf. 

Er kehrt zurück, und neues Unglück häuft sich auf ihn. Die Frau 
stirbt; sein Bruder, mit dem er eine zweite Zeitschrift „Die Epoche" 
herausgab, stirbt auch; die Zeitschrift geht ein. Er flieht wieder, geht 
nach Wiesbaden imd — verspielt sein letztes, geborgtes Geld. Er eilt 
wieder nach Rußland. Dieser Zeit gehören die Romane „Der Spieler", 
die „Memoiren aus dem Keller", vor allen aber „Verbrechen tmd Strafe" 
(1866), sein bestes, allerdings unvollendetes W^erk, an. 

Der Gedanke zu „Verbrechen und Strafe" war wohl schon in 
Sibirien entstanden. Der Held des Romans Rasskolnikov will seine Mutter 
und Schwester unterstützen;, er tötet deswegen eine alte Wucherin. ' Die 
Hauptaufgabe der Erzähltmg ist die Analyse der seelischen Leiden des 
Verbrechers vor dem Morde und nach Vollendung des Mordes. Obwohl 
ihm das Werk großen Erfolg, auch pekuniären, brachte, besserte sich seine 
Lage nur wenig, und er war gezwungen, sehr viel zu schreiben, zu viel. 

Bemerkenswert aus der Folgezeit sind die Romane „Der Idiot 
(1868), „Die Dämonen" (1871), „Das Tagebuch eines Schriftstellers 
(1876). 

In den „Dämonen" tritt uns der Politiker Dostojewskij entgegen. 
Der Revolutionär von 1849 batte sich inzwischen zum extremen Slawo- 
philen entwickelt. Er bekämpft in „den Dämonen" mit schärfsten Waffen, 
mit leidenschaftlichem Hasse — was Dostojewskij tut, tut er immer 
ganz — die unheilvollen Wortführer (Dämonen) des Nihilismus. Das 






Leo Tolstoj III 



Buch hat ihm unter der revolutionären, selbst unter den Liberaldenkenden 
bittere Feindschaft zugezogen ; noch heute veigeben es ihm manche Kreise 
nicht. Dostojewski) war bei der aufrichtigsten Frömmigkeit ein Fanatiker, 
der alles Heil nur in der von ihm als richtig erkannten Sache erblickte, 
der, weil er Rußland liebte, die andern Völker haßte, der fest daran glaubte, 
daß die westliche Welt nur durch das russische Volk gesunden könne. 

Großes, sehr großes Aufsehen erregte dann wieder neben der Rede, 
die er 1880 in Moskau bei Enthüllung des Denkmals für Puschkin (er feierte 
den Volksdichter Puschkin) hielt, der Roman „Die Brüder Karamasov". 
Die Karamasovs sind eine reiche Gutsbesitzerfamilie, allesamt Verbrecher; 
der Vater ist ein Betrüger und moralischer Schmutzfink; die drei Söhne 
werden seine Mörder, nur geht der, welcher den Mord wirklich vollzieht, 
frei aus, während der am wenigsten Beteiligte vom Gericht verurteilt wird. 
Das ist der äußere Rahmen des sehr großen Romans. Den wirklichen 
Inhalt bilden religiöse Fragen, Fragen nach Gott und Unsterblichkeit, 
Gedanken, die zeigen sollen, wie weit wir uns vom wahren Glauben ent- 
fernt haben. Das exemplifiziert der Dichter am besten dadurch, daß er 
Christus noch einmal zur Erde niederkommen und ihn vor den Groß- 
inquisitor zitieren läßt, und der Großinquisitor verurteilt ihn wegen seiner 
Irrlehren zum Verbrennungstod. Gemeint hat Dostowjeskij mit dem spani- 
schen Großinquisitor den Vertreter des Heiligsten Synod seiner Kirche. 
Er dachte noch an eine Fortsetzimg des Romans, starb aber darüber, 1881. 

Alle Werke Dostojewskijs stellen nur die traurigen Seiten des Lebens 
dar. Ihr Gegenstand ist die große Stadt mit ihren engen Straßen und 
schmutzigen Kellern und Winkeln. Er kennt ausgezeichnet das Spelunken- 
leben, das Leben der Sträflinge und der vom Schicksal Gezeichneten. 
Seine Hauptstärke liegt in der Seelenanalyse, in der Verlegung der seeli- 
schen Leiden der Menschen. Er wiU Mitgefühl für den Kranken, 
Schwachen, Hilfsbedürftigen, Verzweifelten, mag er noch so niedrig, so 
verkommen sein. ,,Der vergessenste letzte Mensch ist auch ein Mensch 
und nennt sich dein Bruder", sagt er in den „Beleidigten und Gekränkten", 
wohl nach Viktor Hugos „Les misdrables". Ebenso will er uns aber 
zurückstoßen von dem krassen Materialismus und Egoismus, wie er sich 
in den Karamasovs offenbart. 

Zwanzigstes Kapitel 
Leo Tolstoj 

§ 62 I Auch Tolstoj ^®^) hebt sich weit heraus aus seiner Umgebung. 
In seiner literarischen Tätigkeit liegt eine gewisse Ähnlichkeit mit der 
Dostojewskijs: beide haben einen lebendigen und tiefen Glauben an das 
Volk, der letztere denkt an das russische Volk, Tolstoj mehr an alle 
Arbeitenden auf dem ganzen Erdball. 



112 Zwanzigstes Kapitel 



Graf Leo Nikolajewitsch Tolstoj wurde im Jahre 182S 
auf dem Gute Jassnaja Poljana, im Gouv. Tula, geboren. Er verlor früh die 
Eltern und wurde durch ferne Verwandte erzogen. Er bezog die Uni- 
versität Kasan und studierte orientalische Sprachen und die Rechtswissen- 
schaft. Im Jahre 185 1 trat er als Fähnrich in eine Artilleriebrigade^ 
die am Tjerek stand. Unter dem Einflufi der großartigen Natur des 
Kaukasus und unter den Eindrücken des kriegerischen Lebens entstand 
hier eine Anzahl hübscher Erzählungen : ,, Der Überfall '% „Die Kasaken^', 
auch seine „KÜndheif* und sein ,, Knabenalter" (185 1). Die beiden 
letzteren sind aber nicht autobiographisch, sondern als Wahrheit und 
Dichtung anzusehen. Autobiographie findet man viel eher in andern Er- 
zählungen, in den „Kasaken" und den späteren „Luzem'' und „Krieg 
und Frieden 'S In den Jugendwerken liegt schon im Keim die große 
Beülhigung des Dichters für die Beschreibung von Natur und Mensch 
und seine spätere Weltauffassung. Im „ Überfall '^ wie in den „Kasaken^* 
ist die erhabene, mächtige Bergesnatur des Kaukasus, sind die Sitten 
und Gewohnheiten seiner Bewohner höchst anschaulich und lebenswahr 
gezeichnet, und wie in den „Kasaken^^ ein junger, vornehmer Moskauer, 
angewidert von dem nutzlosen und verdorbenen Leben seiner Umgebung 
und von dem eigenen, zu den einfachen Naturkindem flieht, tun hier 
körperlich und moralisch zu gesunden, so ist im „Überfall" der leitende 
Gedanke, daß der einfache, tmgekünstelte Naturmensch hoch über der 
Verbildung und der Verfeinerung steht 

Im Anfang des Krimkrieges ging Tolstoj als Offizier zur Donau- 
armee und nahm an der Belagenmg von Ssewastopol teil; von seinen 
„Kriegserzählungen" tragen drei den Titel „Ssewastopol^'. Die Stärke 
dieser Erzählungen beruht, ebenso wie die der vorhergehenden, nicht 
auf dramatischen Effekten; es tritt uns das gewöhnlichste , alltäglichste 
Leben entgegen, aber dies ist wahrheitsgetreu und lebendig gezeichnet, 
immer imter dem Gesichtspunkt, die moralische Kraft des ein&chen 
russischen Soldaten, des russischen Volkes hervorleuchten zu lassen. 

Nach Beendigung des Krimkrieges wünschte und erhoffte jeder Ge- 
bildete in Rußland eine Reform der unerträglich gewordenen Zustände» 
und auch Tolstoj war von dieser Hofihung beseelt und suchte persönlich 
durch Vorträge, durch Zeitungsartikel ihre Verwirklichung herbeizuführen ; 
er glaubte also zu dieser Zeit noch an eine Allgemeinbesserung, noch 
an eine Gestmdung auch der sog. besseren Kreise. Sehr bald setzte aber 
die andere Auffassung ein, jener schärfste Skeptizismus, der vor nichts 
haltmacht. 

Diese Weltauffassung tritt schon sehr stark hervor in den beiden Er- 
zählungen „Aus den Kaukasusmemoiren des Fürsten Njechludov*' und 
in „Luzem^*, Früchten seiner Reise ins Ausland. Er war, nach er- 
haltenem Abschied aus der Armee, 1857 in dem Gedanken fortgereist. 



■jf 



Leo Toktoj nj 



Erholung aus den trostlosen Verhältnissen der Heimat, die nach dem 
Krimkrieg um so stärker auf jedermann drückten, in der Kultur und 
dem Fortschritt des Westens zu suchen. Aber die Reise hatte den ent- 
gegengesetzten Erfolg; er hatte dort neben dem äußeren Glanz zu viel 
Unwissenheit, Unsittlichkeit , Barbarei gewahrt. So entwickelte sich sein 
Skeptizismus. Beide Erzählungen sollen die Dürftigkeit aller Zivilisation 
zeigen , sie predigen das Zurück zur Natur , zum einfachen Menschen, 
zum Volke, Der Fürst Njechludov sucht wie Tolstoj Trost und Heilung 
seiner Seele im Wissen und in der Kultur des Westens — vergeblich — -, 
€r findet sie erst bei den einfachen Elasaken und in ihrer großartigen 
Natur. Und in „Luzem" beweist Tolstoj, daß die dortige Zivilisation 
nicht die richtige ist. Sehr schön ist auch hier die Beschreibung der Alpen. 

Wenn im Anfang der sechziger Jahre für das ganze gebildete Ruß- 
land Volkserziehung eines der beliebtesten Losungsworte wurde, bei dem 
sich freilich die meisten recht wenig dachten, so wurde es für Tolstoj 
die augenblickliche Lebensaufgabe. Er reiste wiederum ins Ausland, 
studierte dort gründlich das Erziehungswesen und errichtete nach seiner 
Rückkehr in Jassnaja Poljana selbst eine Schule. Er gab auch ein päda- 
gogisches Journal „Jassnaja Poljana" heraus, das bei Pädagogen wie in 
der Gesellschaft Aufsehen hervorrief. Tolstoj wiU eine „nützliche" Wissen- 
schaft : keine alten Sprachen, vor allem Charakterbildung. Die sog. Auf- 
klänmgslektüre , die damals sehr beliebt war, verwirft er; für den ein- 
fachen Mann genügt Lesen, Schreiben, Rechnen. 

Durch seine Heirat 1862 mit der Tochter eines Moskauer Arztes 
kommt für ihn die Zeit der Ruhe, der inneren Sammlung. Er verläßt 
Jassnaja Poljana selten tmd dann nur auf kurze Zeit. Er studiert Ge- 
schichte und Sozialwissenschaften, letztere besonders in praktischer An- 
wendung. Er wird nach und nach Bauer mit seinen Bauern, Hand- 
werker mit seinen Handwerkern ; er verzichtet auf alle Äußerlichkeiten, 
will jenen ganz gleich sein. 

In der Geschichte interessierten ihn die Napoleonischen Kriege. So 
entstand seine große Erzählung „Krieg und Frieden", erschienen im 
„Russischen Boten" von 1865 — 1869, künstlerisch sein bestes Werk. 

„Krieg und Frieden" bietet nicht allein ein wahrheitsgetreues und 
schönes Bild des „vaterländischen Krieges" (18 12), — der Brand Moskaus, 
die Schlacht bei Borodino sind meisterhaft beschrieben, Napoleon, Barclay, 
Kutusov meisterhaft charakterisiert — , sondern malt auch vorzüglich das 
gesellschafdiche imd private Leben der vornehmen Gesellschaft im Anfang 
des 19. Jahrhunderts. Interessant, wenn schon etwas seltsam, ist die 
Philosophie des Romans. Tolstoj ist, kurz ausgedrückt, Fatalist; die 
Vorherbestimmung ist sein Glaubenssatz: Für Napoleon und seine Heere 
war es imabänderÜche Schicksalsbestimmung, in Rußland einzufallen, um 
dort unterzugehen. Konsequent ist er freüich in dieser Philosophie nicht. 

Friedrichs, Russische Literaturgeschichte 8 



\IA Zwanzigstes Kapitel 



In den siebziger Jahren erschien ein anderer großer Roman „Anna 
Kaijenina". Er ist nur die weitere Ausarbeitung des schon 1859 g^" 
schriebenen „Häuslichen Glückes". Die Frau findet durch Verschulden 
des Mannes keine Befriedigung in ihrer Ehe ; sie wird durch einen andern 
angezogen, aber ihre Moral trägt den Sieg davon. So das „Häusliche 
Glück". In „Anna Karjenina" (1874 — 1876) gehen beide Ehegatten 
mehr durch gegenseitige Erkältung als durch ein besonderes Verschulden 
auseinander. Hauptaufgabe des Romans sind aber auch hier wieder 
die Lebensweise und die Lebensanschauungen der vornehmen Gesell- 
schafty diesmal im Vergleich zu der Armut des Volks : die sozialpolitische 
Seite tritt also in den Vordergrund. Des Dichters Züge trägt im Roman 
eine der Hauptgestalten, Konstantin Ljowin, wie in „ Krieg und Frieden " 
Andrej und Pierre. Konstantin vertritt nicht nur theoretisch die Tolstoj- 
sche Philosophie, sondern sucht auch praktische Bande mit dem Volk; 
er arbeitet wie dieses auf dem Felde und sieht in dieser Arbeit die einzig 
zweckmäßige des Menschen; er will auch jeden Luxus von sich werfen, 
weil das Volk keinen Luxus kennt; .er ist religiös wie dieses. Tolstoj 
kämpft hier scharf gegen den Unglauben, gegen den Atheismus. „Der 
normale Mensch kann nicht ohne Religion leben." 

Tolstojs dritter großer Roman ist „Die Auferstehung" (1899). Auch er 
ist ein Meisterwerk der Milieuschilderung, der Kleinmalerei der äußeren Welt 
wie des inneren Seelenlebens. Vor allem kommt es dem Dichter aber auf 
die moralische Tendenz an. Der Held ist Graf Njechludov — wir 
kennen ihn schon aus den „Kaukasusmemoiren" — , der für das büßt 
(aufersteht), was er als Sünde erkannt hat; die übrige vornehme Welt 
geht freilich daran mit Achselzucken vorüber: er hat ein Mädchen aus 
dem Volke verführt und sühnt nun die Schuld, indem er in die Lebens- 
sphäre des Mädchens, das selber den Fehltritt gaf nicht so schlimm an- 
sieht, ihm auch keineswegs treu ergeben ist, hinabsteigt, sich ihr überall 
anschließt und ihr selbst nach Sibirien folgt, wohin sie unter dem falschen 
Verdacht eines Diebstahls verurteilt ist. 

Tolstoj schrieb außer diesen großen Romanen eine ganze Reihe 
kleinerer und größerer Erzählungen; jetzt sind in seinem Nachlaß noch 
neue gefunden. Sie alle zeichnen sich durch realistische Einfachheit aus 
und sind Geist vom Geiste dieser größeren Werke. Dahin gehört vor 
allem „Der Tod des Iwan Iljitsch" (1885), dann die kraftvolle, leben- 
sprühende Novelle „Der Teufel" imd die gedankentiefe Priestergeschichte 
„Pater Sergius". 

Der Roman ist Tolstojs hervorragendstes Arbeitsfeld. Großartig in 
der Milieuzeichnung wie in der Tendenz ist aber auch eine Apzahl 
Dramen. Allen voran steht auch die bei uns sehr bekannte Tragödie 
„Die Macht der Finsternis" (1887), ein düsteres Gemälde aus dem 
Volksleben mit Ehebruch, Gatten- und Kindesmord. Auf den ersten. 



Leo Tolstoj 115 



Blick scheint es, als ob er seiner Anschauung vom sittlichen Wert des 
einfachen Mannes untreu geworden wäre, denn au dies Entsetzliche spielt 
sich auf dem Lande, im niederen Volk ab — aber worauf führt er es 
zurück? Auf die Macht der Finsternis, d. h. die Unwissenheit, den Mangel 
an Herz- und Kopfbildung, und das ist die Schuld der Vornehmen, die 
das Volk in dieser Not verkommen lassen. 

Etwas später ist seine lustige Satire auf die Gesellschaft „Die Früchte 
der Aufklänmg" (18 91) entstanden. Hier sind ganz köstliche Gesell- 
schafts- und Volkstypen. Aber das Stück hinterläßt kaum einen nach- 
haltigen Eindruck. Desto tiefer wirkt das erst aus dem Nachlaß ge- 
wonnene Drama „Der lebende Leichnam". Der „lebende Leichnam" 
ist ein Mensch, nicht böse, aber ein Nichtstuer, ein Trinker, der ein- 
sieht, daß seine Frau glücklicher mit einem andern leben kann. Da 
das russische Gesetz eine Scheidung verbietet, verbreitet er das Gerücht, 
daß er sich tötete, und so heiraten die beiden andern. Aber durch üble 
Genossen bestimmt, tritt er plötzlich wieder auf, und die beiden Un- 
schuldigen sollen nun nach russischem Gesetz nach Sibirien verschickt, 
ihre Ehe soll für ungültig erklärt werden. Da erschießt er sich. Die 
Tendenz des Stückes liegt in dem Kampf gegen die orthodoxe Kirche. 

Ein anderes Drama, gleichfalls erst aus dem Nachlaß ans Licht ge- 
kommen, ist „Das Licht leuchtet in der Finsternis", eine Kopie seines 
Familienlebens mit dem Arbeiter und Handwerker Tolstoj, der bei den 
eigenen Familienmitgliedern recht wenig Verständnis findet. Ebenfalls im 
Nachlaß befindet sich noch ein Drama „Petrus der Zöllner". 

Was hat nun Tolstoj in Deutschland so bekannt gemacht? Weder 
seine Romane noch seine Dramen, und doch liegt in ihnen, besonders 
in den ersteren, seine ganze Stärke. Viel bekannter ist er bei uns durch 
seine sozial-ethischen Schriften xmd Erzählungen, durch seine „Beichte" 
(1879 verfaßt, 1882 erschienen), seinen „Glauben", durch „Was ist das 
Glück?", durch ,,Die Kreuzersonate", durch „Wandelt im Licht!" usw. 
usw. Er bringt in ihnen seine Weltanschauung, wie er sie durch theo- 
logische Studien, durch die Auslegung der Bibel, des Evangeliums ge- 
wonnen hat. Es sind das interessante Gedanken über die Moral des 
Lebens, über die Bestimmimg des Menschen, über die Pflichten unsem 
Nächsten gegenüber, über die Aussöhnung unseres inneren Zwiespalts 
zwischen Wirklichkeit und Ideal mit Hilfe der christlichen Religion. 
Selbstverständlich liegt in allen diesen Gedanken, besonders in ihrer Aus- 
führung, in der Art, wie er spricht, manches Packende, Überzeugende, 
mancher Lichtstrahl, auch sind sie fiir Rußland mit seiner verknöcherten 
Kirche originell, fiir uns aber doch nicht. Daß fiir sie bei uns 
solch Tamtam geschlagen wird, ist eigentlich bedauerlich, setzt es doch 
die Person des Dichters zurück und das - ist Tolstoj vorwiegend ; der 
Denker steht erst in zweiter Linie. Auch der Kult, den man bei uns 

8* 



Il5 Eioundzwanzigstes Kapitel 



mit seinem Sichentäufiern von allem irdischen Gut, mit seinem Leben als 
Bauer und H^d^erker treibt, Jst übertrieben. Es muß offen ausgesprochen 
werden, daß er in mancher Beziehung' — man denke auch an sein Ver- 
werfen Shakespeares, weil dieser unsittlich und unreligiös sei — ein 
Sonderling war und daß er durch &ein sonderbares Treiben niemandem 
genützt, auch zu niemand in nähere Beziehungen gekommen ist. Man 
braucht gar nicht von seiner eigenen Familie zu sprechen. Seine Bauern 
sind gerade die ersten gewesen , die in den revolutionären Unruhen die 
Hand an seine Besitzungen gelegt und alles zerstört tmd geraubt haben. 

Das alles läßt aber seinen Dichtemihm unangetastet. Ebenso bleibt 
sein Charakter. Er hat es in allem ehrlich gemeint tmd ist für seine 
Überzeugung mit einem für Rußland ungeheuren Wagmut eingetreten. 
Es ist für einen Russen, selbst für ihn nicht so einfach gewesen, als er 
im Jahre 189 1 vom Heiligen Synod exkommuniziert wurde. Er ist in der 
Exkommunikation gestorben, 1910. Der Haß der Kirche hat noch über 
das Grab hinaus gedauert; sie hatte den ältesten Sohn wegen der Heraus- 
gabe seiner letzten satirischen Broschüre „Die Wiederherstellung der 
Hölle" angeklagt 

Tolstojs letzte Tage, die Flucht aus dem Hause und von der 
Familie, die Streitigkeiten, die sich in der Familie untereinander tmd dann 
zwischen dieser und seinem Jünger tmd „Verführer" Wladimir Tschertkov, 
dem er die Herausgabe seiner Werke anvertraut hatte, entwickelten, die 
daraus entspringenden langjährigen Prozesse werfen tmangenehme Flecken 
auf das Gesamtbild. Im Jahre 19 15 war endlich alles so weit durch das 
Gericht geregelt, daß sein gesamter handschriftlicher sehr großer Nach- 
laß dem Rumjanzov- Musetun als separates Tolstoj- Museum, tmter Ober- 
aufsicht seiner Frau, einverleibt war. Es sollen danmter sehr wertvolle 
literarische Korrespondenzen z. B. mit Gontscharov, Njekrassov, Grigoro- 
witsch sein. Die Schriften über Tolstoj gehen ins Maßlose. 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Der Pessimismus der letzten Dezennien des 

19. Jahrhunderts 

§ 63 I Die Poesie der fünfziger, sechziger, siebziger Jahre hatte ganz 
im Zeichen der realen Tagesfragen gestanden. Die Lage eines großen 
Teils der Bevölkertmg hatte nach Erlösung aus Unmündigkeit, Unter- 
drückung, Willkür geschrien, aus materieller, geistiger, moralischer Knech- 
tung. Der Bauer war am stärksten von dieser Last niedergedrückt wor- 
den, sie hatte auch den ganzen Mittelstand hart genug gedrückt. 

Drei Jahrzehnte hatte sich für diese Entrechteten die Literatur ein- 
gesetzt — allzuviel Neues ließ sich da über dies Thema nicht mehr 



Der Pessimismus der letzten DezeoDien des 19. Jahrhunderts jj^ 

bringen; es verbot sich noch aus andern Gründen. In den fünf- 
ziger , sechziger, siebziger Jahren hatte diä Regierung dann und wann 
selber freie Allüren gehabt und daher manches freie Wort gestattet, und 
zu den Zeiten, wo sie selber solche Allüren nicht gern zeigte, waren die 
äußeren Verhältnisse, die verlorenen bzw. nutzlosen Kriege, stärker als 
sie gewesen und hatten sie zum laisser aller verurteilt. Hier und da 
raffte sie sich auch mal auf und scMug dann mit um so kräftigerer Tatze 
drein. Um 1880. herum änderte sich dieses Bild. Die Reform war 
eigentlich ins Gegenteil umgeschlagen, sie hatte nicht etwa blofi den 
BüchernihiUsmus erzeugt, sondern den der Tat. Wjera Ssassulitsch er- 
öffnete den Reigen der Attentate, denen viele hoch- \m^ höchststehende 
Personen zum Opfer fielen. Die Anschläge auf das Leben des Kaisers 
kamen, der Versuch den Hofzug in Moskau in die Luft zu sprengen, 
die Explosion unter dem Speisesaal des Winterpalais, schließlich das 
Dynamitattentat, das den Tod Alexanders IL am 13. März 1881 zur 
Folge hatte. Alexander in. bestieg den Thron, ein starker, ^energischer, 
zielbewußter Mann. Außerdem hatte sich alles so zugespitzt, daß . es nur 
noch ein Entweder — Oder gab, entweder er oder die Nihilisten. Bei 
Alexanders Natur war ein Schwanken ausgeschlossen. So trat denn auch 
in der Literatur eine Wendung ein: Das alte Thema war nicht mehr 
„ zeitgemäß '^ 

Dichtung ist vorwiegend Zeitdichtung — was konnten nirn diese 
Zeiten anderes ergeben als den Pessimismus? Wir bekommen da wieder 
die Dichter, die an sich, an den andern, an allem verzweifeln, die sehen, 
daß ihre Nerven zu schwach zu einem Kampf sind, die Überflüssigen, 
die Hamletnaturen, die Leute, die von einem Ufer abstoßen und am an- 
dern nicht ankonmieu; Und doch ist ein Unterschied zwischen diesem 
Pessimismus und dem Lermontovs. Es leuchtet bei vielen, nicht bei allen, 
eine Hoffnung auf bessere Zeiten, auf einen neuen Sonnentag hindurch. 

Der äußeren Form nach tritt auch eine Ändenmg ein: Die dick- 
leibigen Romane hören auf; an ihre Stelle kommen die kleinen Er- 
zählungen, die Novellen, die Skizzen, und damit zugleich eine kürzere, 
präzisere, frischere, prägnantere Sprache. — Von den nun Aufgezählten 
reichen manche in die Gegenwart hinein; ihre Bedeutung liegt jedoch 
z. B. bei Korolenko und Potapjenko in diesen Jahren. 

§ 64 I Hamletnaturen, mit etwas modernem Einschlag, sind No- 
wodworskijs (Pseud. Ossipowitsch) (1853 — 1882) Menschen. Sie haben 
von sich eine gewaltige Meinung, sie erheben sich selber auf ein sehr 
hohes Piedestal und klagen, wenn sie dann herunterstürzen, nicht sich an, 
sondern die Familie, die Gesellschaft, das Leben. Sie halten sich für 
Helden, flir Verfechter hoher Ideen — im Grunde sind diese hohen 
Ideen aber nur recht epikuräische Gastmähler, hübsche Operetten mit 
der Diva dazu. Nowodworskij wählt seine Typen gern aus dem ver- 



j 1 3 Eanandzwanzigstes Kapitel 



armten Kleinadel. Er macht seine Gestalten genießbarer durch den dem 
Kleinrussen nun einmal eigentümlichen Humor, mit dem er sie umgießt. 
Seine besten Werke sind „Weder Pfau noch Krähe", „Die Karriere", 
„Der Schwärmer". 

Keinen Humor, nur traurige, schreckliche Bilder, Blut- und Wahn- 
sinnsszenen hat Garschin (1855 — 1888) in seinen Dichtungen wie in 
seinem — Leben. Er war ein gebildeter, talentvoller, äußerst sympathischer 
Mensch, aber von Jugend auf leidend, krankhaft nervös, im Kriege 1877, 
in den er als Freiwilliger gegangen war, verwundet, von innerer Angst 
von Ort zu Ort gejagt. . Kurze Zeit beruhigte ihn dann seine Ehe mit 
einer Ärztin, aber eben nur kurze Zeit; ein Sturz aus dem Fenster des 
vierten Stockwerks seiner Wohnung setzte seiner Unruhe ein Ende. 

Gleich die erste, 1877 in den „Vaterländischen Annalen" veröffent- 
lichte Erzählung „Vier Tage*,' ist ein Bild schrecklichen menschlichen 
Leidens, wie es leicht in dem Kriege, an dem er teilgenommen, vor- 
gekommen sein kann. Vier Tage liegt der Soldat an einsamer Stelle auf 
dem Schlachtfelde mit zerschossenem Bein, so daß er sich nicht fort- 
bewegen kaim, ohne Nahrung, ohne Wasser in der heißesten Sonnenglut 
und neben ihm der sich in der Sonne zersetzende, furchtbaren Pestgestank 
verbreitende Leichnam eines Türken. Alle Gestalten seiner Werke, selbst 
die aus ruhiger Zeit wie „Die Erinnerungen des Gemeinen Iwanov" 
(1882) — gleichfalls, Episoden aus dem russisch-türkischen ELriege — 
sind Hamletfiguren, die weder physische noch moralische Kraft haben, 
die sich in allem ihrem Tun die Fragen vorlegen: wozu? wofür? und 
dabei zur Verneinung alles Glücks, alles Lebens kommen. Das endet 
dann schließlich, wie bei ihm, im Wahnsinn. Den Wahnsinn zeigt uns 
„Die rote Blume" (1883); ^i^^ ^^^te Mohnblume erscheint dem Gestörten 
als die Inkarnation alles Bösen, er will die Menschheit davon erlösen, 
er reißt sie aus und stirbt infolge der Aufregung. 

Dieselben Gestalten, dieselbe Lebensauffassung haben seine Erzäh- 
lungen „Der Feigling", „Die Begegnung", „Die Nacht", „Die Bären", 
„Der stolze Aggej" usw. So niederdrückend, so abstoßend lins oft 
Menschen wie Situationen erscheinen, der Dichter läßt uns dabei tief in 
sein eigenes Herz sehen, und das zeigt warmes, inniges Mitgefühl für 
die Leiden seiner Menschen. Dazu kommt neben dem großartigen 
Realismus der Schilderung zugleich seine außerordentliche dichterische 
Phantasie. 

Wie Garschin führt uns in den Krieg und auf das Schlachtfeld 
Schtscheglov. Auch er denkt nicht an das ehren- und ruhmvolle 
Schlachtfeld, an den lorbeerbekränzten Sieger, sondern an die Verwun- 
deten, Verstümmelten, Siechen, an die, welche ruhmlos, ungekannt im 
schmutzigen Hospital sterben. Seine Erzählungen „Das erste Treffen" 
(1882), „Der Leutnant Posspjelov", „Der Held ohne Erfolg" wollen nicht 



Der Pessimismus der letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts II9 

durch Handlung interessieren, sondern durch die Wahrheit und Lebendig- 
keit der Szenen und Bilder. Im ,, Ersten Treffen" geht weiter nichts 
Tor sich als daß der eben erst zum Fähnrich kreierte Jüngling sofort 
vom Regiment aus in die Schlacht geschickt wird und nun Rotte auf 
Rotte, Kompagnie auf Kompagnie vorgehen und fallen sieht. 

Schtscheglov hat auch Bilder aus dem Friedensleben der Soldaten, 
gleichfalls nur düstere, finstere. Im „Gordischen Knoten" liebt der Ai"- 
tiUetiehauptmann ein einfaches Mädchen, er will es gern heiraten, möchte 
es aber damit keineswegs seiner Verwandtschaft entfremden. Er gibt sich 
alle Mühe, gut Freund mit jenen zu sein, mit einem Lakai, einem Por- 
tier, einer Köchin ; aber nur Mißtrauen, Geringschätzung, Hohn begegnen 
ihm, und das Mädchen wird ihm durch sie auch abwendig gemacht.« 
Er erschießt sich. Hier und da wird das Widerwärtige, Traurige der 
Situationen und der Menschen durch glücklichen Humor gemildert.' — 
Wo Schtscheglov sich der Zeichnung anderer Gesellschaftsstände zuwendet, 
versagt er. 

Ähnliche trübe Bilder, das Leben der Kranken und Sterbenden, an 
trostlosester Stätte, im Hospital, in den möblierten Zimmern, im schmutzigen 
Wirtshaus zeichnet Baranzewitsch. An ein menschHches Glück glaubt 
er nicht. So klingen seine ,, Zersprungenen Saiten" (1878) aus, so „Der 
' Fremdling" (1882), „Die Sklavin" (1887), „Krankes Blut" (1900). 
Was die trüben Bilder erträglich macht, ist der künstlerische Aufbau und 
auch bei ihm dann und wann durchleuchtender Humor. Hübsch weiß 
er fiir Kinder zu schreiben. 

Andere Schriftsteller kleiden ihren Pessimismus mehr in die Form 
des Hohns, der Satire. . Jassinskijs (Pseudonym Maxim Bjelinskij) 
Helden sind die kleinen Gecken aus den Südprovinzen des Reichs. Sie 
betrachten alles Leben als schal, eitel, nichtig, bis sie ein gutes Beamten- 
pöstchen mit behaglichem Unterkommen erwischt haben. Man sieht Jas- 
sinskijs Werken, unter deren großen Zahl „Eine Petersburger Erzählung" 
und „Die Stadt der Toten" (1885) die besten sind, an, daß sie weniger 
von künstlerischem Streben eingegeben sind, als daß sie vor allem den 
Leser amüsieren wollen und dazu auch das probate Mittel der Erotik 
keineswegs verschmähen. 

Mit ähnlichem Spott stellt Albov seine Menschen hin. In seinem 
ersten Roman „Der Tag der Schlußabrechnung" (1879) ist der Held 
von größter Bewunderung fiir sich e'rfiiUt, erhaben über aJles und jeden, 
bis zum ersten — Mißerfolg. Der läßt ihn vollkommen zusai^menknicken ; 
Tage lang liegt er träumend auf dem Sofa, hat Halluzinationen, will sich 
töten. Der Held eines andern Romans „Wie Holz verbrannte" sieht noch 
mehr nach Hamlet aus. Er hat das Leben trotz seiner Nichtigkeit reich- 
lich genossen; jetzt will er sich verheiraten und fahrt zur Braut. Unter- 
wegs durchgeht er jedoch noch einmal seine Vergangenheit imd — erschießt 



I20 Einandzwanzigstes Kapitel 



sich. In ungefähr derselben Richtung, immer mit einer tüchtigen Dosis 
Humor, laufen alle seine Romane der achtziger Jahre. Nachdem hat er 
sich ausgeschwiegen. 

Veranschaulichen uns diese . Schriftsteller ihren Pessimismus , ihren 
Skeptizismus mehr durch einzelne Personen, durch Einzelumstände, so 
stellen andere ganze Gesellschafbkreise , die ganze gebildete Welt als 
morsch und verfault hin. So arbeitet z. B, der Vielschreiber Fürst G o - 
lizyn (Pseudonym Murawlin). Die Verderbnis der höheren Petersburger 
Gesellschaft, der Schwachsinn der verschiedensten Grafen und Fürsten ist 
sein Lieblingsthema, mit starker Betonung der guten Seiten des Prole- 
tariats. Seine besten Werke sind wohl „Arme und Elegante" (1884) 
und „Der Tenor" (1885). Die neunziger Jahre trieben ihn, nachdem er 
sich stark der Politik zugewandt hatte, immer mehr ins nationalistische 
Fahrwasser. Das färbt sehr in seinen Romanen „Die Babylonier" (1901), 
„Aus unruhigen Tagen" (1902) ab. Hübsch sind seine Reiseskizzen 
„Am blauen Meer". 

Ebenso arbeitet, mit überlegenem Spott und bitterer Satire, Matsch- 
tjet. Schon seine Einteilung des ganzen Menschengeschlechts in zwei 
Klassen, in die der Wölfe und Schafe oder in die der Taugenichtse und 
Ehrlichen (lies Dummköpfe) charakterisiert ihn und seine Schreibweise. 
Seine ersten Werke, Skizzen aus dem sibirischen Leben, waren objektiver 
gehalten tmd zogen durch diese Objektivität, durch ihre Anschaulichkeit, 
ihren gesunden Realismus außerordentlich an. Nicht weniger taten dies 
aber dann wegen ihrer subjektiven Bissigkeit und wegen ihrer Verfechtung 
der Wolf- und Schaflheorie seine späteren „Aus unlängst vergangener 
Zeit" (1886), „Schwarzer Undank", „Ein neues Mittel" (189 1). 

Der bedeutendste unter den Pessimisten, der sogar höher steht als 
Garschin, ist Tschechov (1860 — 1904]. Tschechov war ursprünglich 
Mecfiziner , wandte sich aber bald der Schriftstellerei zu ; sein Studium 
färbt in seinen Erzählungen ab. Er ist sehr stark im Humor und in der 
Satire, ein Meister in der anekdotischen Erzählung. Seine kleinen Skizzen 
„Nicht bei Laune", „Eine Erkundigung", „Der Tod des Beamten", „Bei 
der. Frau Adelsmarschall", vor allen sein „Kunstwerk" sind Perien köst- 
lichen Humors und geistreicher Plauderei. „Das Kunstwerk" ist ein 
Bronzdeuchter, den der dankbare Trödlerssohn dem behandelnden Arzt 
als Geschenk bringt, den dieser aber^ weil die das Piedestal bildenden 
Frauengestalten so sehr kokett xmd' so sehr nackt sind, an einen 
Freimd abschiebt xmd dieser aus demselben Grunde wieder an einen 
Bekannten usw., bis der Leuchter endlich beim selben Trödler ankommt, 
und der bringt ihn nun glückstrahlend, weil er glaubt das lang gesuchte 
Pendant gefunden zu haben, zum Arzt zurück. Tschechov ist auch ein 
Meister darin, mit wenigen Strichen eine Persönlichkeit auf das schärfste 
zu zeichnen. Humor und Satire leuchten gleichfalls aus seinen späteren 



Der Pessimismas der leüeten Dezennien des 19. Jahrhunderts j2X 

Werken hervor, nur stehen sie unter einem immer stärker hervortretenden 
Pessimismus, einem psycho-pathölogischen möchte man sagen. Die Nacht- 
seiten des Lebens, die innere Leerheit des kraftlosen Menschen, überhaupt 
das zwecklose Dasein erfüllen seine nervenzerrüttenden Erzählungen 
„2^11e Nr. 6", seüien „Schwarzen Mönch". Diese pessimistische Lebens- 
und Weltaufiassung ist auch das Leitmotiv seiner Dramen: „Die Möve*' 
(1901), „Onkel Wanja", „Drei Schwestern** (1901), „Der Kirschgarten" 
(1904), von denen das erstere, trotz mancher szenischen Schwierigkeiten, 
oft aufgeführt ist tmd auch bei uns guten Erfolg hatte. Daß man 
übrigens bei der Beurteilung solcher Werke in bezug auf die vom Dichter 
gewollte Tendenz sehr vorsichtig sein muß, zeigt eine erst jetzt bekannt 
werdende Äußerung Tschechovs, wonach er „Die drei Schwestern" und 
„Den Earschgarten" gar nicht pessimistisch, sondern als leichte Komödien 
aufgefaßt wissen will. Mag dies nun zutreffen oder nicht, Tschechov ist 
Pessimist, aber einer von denen, der seine Personen mit menschlicher 
Wärme und menschlichem Gefühl umgibt und der an eine bessere, ge- 
j rechtere, schönere Zukunft glaubt. 

Die Frucht einer Reise in den Osten Sibiriens ist das sehr interessant 
geschriebene Buch „Die Insel Ssachalin". 

Ebenso wertvolle ethnographische Untersuchungen über Sibirien 
haben wir von Gussjev und Je'lpatjewskij, die sich auch in ihrer 
Lebensauffassung mit Tschechov berühren. Gussjev (geb. 1867; nach 
seinem Geburtsort Orenburg Gussjev -Orenburgskij) war Volksschullehrer, 
dann Geistlicher, legte aber 1898 sein Amt nieder. Er selber nennt sich 
einen Schüler Usspjenskijs. Der Pessimist sieht das Schlechte hauptsäch- 
lich bei seinen Amtsgenossen und hier wieder ganz besonders in der 
schwarzen Geistlichkeit — die „schwarze" ist die höhere (Mönchs-) Geist- 
lichkeit, angesehen und im Besitz der besten Pfründen; die „weiße" die 
niedere Weltgeistlichkeit, arm, verachtet, verheiratet — ; sie ist für ihn nur 
dumm, gewissenlos und vor allem habgierig („Schlechter Ruf"). Dieser 
Haß tritt überall hervor, auch in dem sonst vorzügliche Aufklänmg über 
die sibirischen Völker, über die Kirgisen, Baschkiren, über die Mordwinen 
gebenden Buch „In die Heimat" (Sibirien). In seinem „Land der 
Väter" zeigt er sich als Nietzscheschüler und als Prediger der Revolution. 

Eingehende, höchst packende Schilderungen von Sibirien gibt auch 
Jelpatjewskij (geb. 1854) in seinen „Sibirischen Skizzen" (1893 
und 1897). Seine Verbannung nach dem fernsten Osten hatte ihn das 
Land dort genau kennen, aber nicht schätzen gelehrt. Ihn berührt nicht 
die Naturschönheit, sondern er findet nur die entsetzlichen Seiten heraus, 
die Einöde, die Schrecken der Kälte, das Vertiertsein der Menschen. 

§ 65 I Es gibt auch in dieser Nacht Sterne, die ihr licht nicht 
verdunkeln lassen, die den Menschen den Glauben an die Helle nicht 
nehmen wollen. 



X22 Eionndzwanzigstes Kapitel 



Moralische Reinheit, wanne Menschenliebe durchströmt Korolenkos 
(geb. 1853) Werke, mögen sie nun Bilder aus der südrussischen Heimat 
oder aus Sibirien bringen, wohin er 10 Jahre lang verbannt war. Selbst 
diese 10 Jahre der Verschickung haben in seinem milden, gütigen Herzen 
nur wenig Verbitterung zurückgelassen; auch hat sein glücklicher Humor 
über manches hinweggeholfen. Das offenbart schon die erste Erzählung, 
die wohl dort noch entstanden ist „Der Traum Makars'* (1885); ^eser 
Makar ist ein Halbjakute, der schwertrunken eingeschlafen ist und nun 
träumt, daß er tot vor dem göttlichen Gericht steht. Die Hauptsache 
an der Erzählung bilden die philosophischen und psychologischen Be- 
trachtungen des Dichters und die Beschreibung Sibiriens. Der Beschrei- 
bung Sibiriens, seiner Unkultiviertheit, dem Räuberleben, den Überfallen, 
den Sitten der Bewohner, den kirchlichen Sekten sind auch „Die Skizzen 
eines russischen Touristen" (1885) gewidmet. Mit derselben Wahrheit, 
denselben schönen Farben, mit innigem Heimatsgefühl schildert er klein- 
russisches Land und kleinrussische Leute. Stimmungsbilder reinster Herzens- 
freude, seines Glaubens an das Gute, Schöne sind aus den achtziger Jahren 
die Skizzen „Der alte Glöckner", „Der blinde Musikant", später die Er- 
zählung „Der Wald rauscht" (1901), wo ein alter Förster seine Eindrücke 
vom Waldesleben und Waldesweben wiedergibt, und aus der letzten Zeit „Die 
Geschichte meines Zeitgenossen" (1909), der er selber ist. Die letzten Jahre 
haben in ihm den Politiker hervortreten lassen : „ Der Fall der Zarenmacht. 
Eine Rede an einfacheLeute" (19 17). Der letztere Zusatz spricht deutlich. 

Potapjenko hat sich durch den Drang äußerer Verhältnisse zum 
Vielschreiber entwickelt und daher nicht das gehalten, was er versprach. 
Er begann seine schriftstellerische Laufbahn mit dem Werk „Heilige 
Kunst" (1881), worin er predigt, daß ein Talent sich nur durch ernste. 
Arbeit entwickeln kann. Damit ist seine Lebensauffassung gekennzeichnet. 
Er ist jedoch kein Optimist stenger Observanz, der alles nur in rosigem 
Licht leuchten läßt ; er hat auch böse Menschen, aber ihre Laster werden 
diurch menschliche Züge gemildert, die nach seiner Philosophie auch im 
Bösesten stecken. Ein Mensch muß höhere, ideale Auffassungen kennen, 
denen zuliebe er manches zu opfern imstande ist. So gibt in seiner Er- 
zählung „Im wirklichen Dienst" (1890) ein junger Mann seine glänzende 
theologische Laufbahn gegen den bescheidenen Posten eines Landgeist- 
lichen auf, um das höhere Ideal dieses Berufes zu verwirklichen. Ein 
anderer Roman „Gesunde Begriffe" (1890) zeigt einen ganz gewöhnlichen 
Menschen, der sich allein durch seinen gesunden Verstand imd durch 
seinen festen Willen sein Glück zimmert. Der Humorist Potapjenko bUckt 
dabei hindurch, wenn er sagt, daß man dazu nicht einmal viel Verstand 
brauche. Humoristisch ist u. a. auch „Der Sekretär seiner Exzellenz"; 
{1890) aber, wie gesagt, in allem leidet die Qualität durch die Quantität. 
Die Werke der neuesten Zeit verflachen sich immer mehr. 



Der PessimismiLs der letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts x23 

Auch Sslutschewskij (f 1904), der allerdings als Lyriker noch 
höher einzuschätzen ist ($ 67), gehört mit seinen „Dreiunddreißig Erzäh- 
lungen" (1888) hierher. Die besten darunter sind „Zwei Tropfen", 
„Zwd Touren Walzer", „Zwei Tannen". Poetische Stimmung und 
wahre Lebensphilosophie durchfärben sie. Großartig ist er auch in der 
Beschreibung der erhabenen Naturschönheiten, des stillen, einsiedlerischen 
Lebens des äußersten Nordens. 

Ebenso ist hier Mamin der Sibirier (f 1912) zu nennen. Er 
kennt, wie sein Beiname andeutet, Sibirien und hat Land und Leute 
trefflich gezeichnet. Er kennt ebenso ausgezeichnet Rußland, seine Groß- 
städte und deren Auswüchse. So gibt sein Roman „Die Millionen der 
Priwalovs" ein treffendes Bild vom Großuntemehmertum. Mamin war 
auch ein sehr beliebter Jugendschriftsteller und Märchenerzähler. 

Wieder einer von denen, die vorzüglich das Land- und Gutsleben, 
besonders die Verwalter, die Bereiter, das ganze Hofgesinde zeichnen, 
ist Ertel. Anfangs Schüler Turgenjevs (in seinen „Memoiren eines 
Steppenbewohners") mauserte er sich vollkommen zum Schüler Tolstojs 
durch. Sein bester Roman „Die Gardjenins. Ihr Gesinde, ihre An- 
hänger und Feinde" (1889) predigen die Tolstojsche Lehre, daß das 
Gesunde nur im Volke ist. Sein Roman „Ablösung" (1891) zeigt die 
Ablösung der alten Generation durch die neue hauptsächlich in ihrer 
Auswirkung wieder auf das ländliche Leben. 

§ 66 I Der talentvollste Lyriker, der Schwärm der ganzen da- 
maligen russischen Jugend, der männlichen und der weiblichen, das 
größte dichterische Talent seit Njekrassovs Tod war Nadson (1862 — 
1887). Seine „Gedichte" (1885) atmen krankhafte Melancholie; nicht 
allein die allgemeine politische wie die gesellschaftliche Lage erzeugte sie, 
auch der eigene sieche Körper. Er hatte die ursprüngliche OfBzierslauf- 
bahn wegen Krankheit aufgeben müssen, hielt sich dann viel in der Krim, 
dem Krankenbade Rußlands, auf und starb dort in jungen Jahren, in 
Jalta. Seine Poesie ist die der Skepsis, der tiefen Traurigkeit, des Zweifels, 
aber nicht der vollen Verzweiflung; es geht das Streben nach Licht 
und Wahrheit hindurch, die Hoffnung auf die Zukunft, der Glaube an 
Ideale. Sein Meisterwerk, das Gedicht „Mein Freund", gibt die Zeit- 
stimmung am Ende der siebziger Jahre wieder, diese furchtbare De- 
pression, die auf allen Gemütern lastete; aber der Grundgedanke läuft 
darauf hinaus, daß der Leidende nicht verzweifeln soll, wenn auch die 
Unwahrheit, der Trug in voller Macht über der in Tränen gebadeten 
Welt herrschen — die Zeit wird kommen, wo Baal untergeht und 
die Liebe zurückkehrt. Finster ist es in der Welt, das zeigen seine 
,, Träumereien", sein „Herostrat" — aber es gibt auch noch Trost, 
das sehen wir aus der „Wolke", aus der „Mondlosen Nacht", aus 
der „Einsamkeit". 



124 Einandzwaozigstes Kapitel 



NadsoDS Gedichte fanden beim jungen Publikum ungeheuren Beifall, 
ein Lyriker ist wohl in so kurzer Zeit noch nie so oft aufgelegt worden. 
Der Beifall war natürlich, gab der Dichter doch ganz die Gedanken und 
die Geföhle der jungen Aufstrebenden wieder. Dazu kam, daß seine 
Verse vollendet in der Form sind, daß sie etwas ungemein Zartes, Ein- 
schmeichelndes, Musikalisches haben, daß die Bilder voll schöner Emp- 
findung und voll hoher Grazie sind. Seine Poesie hat aber auch ihre 
Fehler; abgesehen davon, daß das Weiche, Empfindsame ihr von den 
Kommenden gerade als Fehler angerechnet wurde, es ist auch sonst zu- 
viel Abstraktion, zuviel Unbestimmtes imd so sehr wenig wirklich 
Russisches darin. Er kennt auch fast nur die Menschen, die Natur 
dagegen sehr wenig. 

Ein solch idealer Pessimist ist auch Frug (geb. 1860), er hofit 
auf den Sieg des Guten und des Wahren. Frug schreibt besonders im 
Hinbhck auf seine Glaubensgenossen, die Juden, wie sie trauernd auf 
den Trünmiem Jerusalems sitzen. Nachdem er schon 1879 ^^ ^^ 
paar Gedichten begonnen hatte, gab er die erste „Sammlung" 1885 
heraus. Seine Verse sind klar und einfach, voll schöner Bilder. Er 
sucht für das Jetzt Trost in der Vergangenheit wie in der Zukunft. Diese 
Hoffiiung bringen seine besten Gedichte, sein „ Lebensgesang '^ sein 
„Traum des Prometheus", sein „Im Tempel" schön zum Ausdruck. 
Wie er mit Vorliebe hebräische Themen hat, so bringt er in sie auch 
gern jüdische Sagen imd Legenden hinein. 

§ 67 I Andrerseits retten sich auch wieder Lyriker reiner Kunst 
aus der Häßlichkeit des Daseins heraus. 

Apuchtin (1841 — 1891) war mit seinen ersten Gedichten 1859 
hervorgetreten. Dann, ein Feind alles Lauten und Extremen, hatte er 
sich lange vom Schauplatz zurückgezogen und kam erst I885 wieder 
mit einer Buchausgabe lyrischer Gedichte. Sehnsucht nach reinem, stillem 
Glück, nach ewiger Ruhe, Melancholie tmd doch starke Hoflöiung durch- 
wehen sie; die Herbstblätter rauschen traurig, weil sie die Winterkälte 
fühlen, aber sie tröstet im Fallen der Gedanke, daß von neuem der 
Frühling kommt. Bilder von der russischen Natur („Ein Jahr im Kloster" 
1885, 99 Eine Nacht in Monplaisir") sind so schön gefühlt imd geformt 
wie bei Njekrassov. 

Ebenso ist ein Dichter reiner Kunst, mit stark patriotischem Ein- 
schlag ohne die Schönseherei und die Schönfärberei der Slawophilen, 
der schon im Roman hervorgetretene Sslutschewskij. Man hat ihn 
eine Zeitlang den „König der zeitgenössischen Poesie" genannt, so sehr 
traf er mit seinen „Liedern aus dem Winkelchen", mit den Balladen 
„Zwei Zaren", „Der Priester von Memphis" den Geschmack des gebil- 
deten Publikums. Die russische Natur, das russische Volk umfaßt er 
mit semem Herzen, und die will er mit seinen Liedern auch in die Herzen 



Der Pessimismus der letzten Dezenniea des 19. Jahrhunderts x2$ 

der andern singen. Sslutschewskij weilte im Norden Rußlands. Er malt 
ausgezeichnet in den „Widerklängen von der Murmanküste" den fernen 
Himmelsstrich mit seinen Eisschollen, den seltenen und seltsamen Tieren, 
den sonderbaren Bewohnern. 

\§\68 I Es tummeln sich auch sonst noch auf dem Parnaß der 
acht^ger Jahre Scharen von Dichtem und Schriftstellern , die, weder 
Pessimisten sind noch die reine Kunst predigen, sondern die nur die 
eine Tendenz haben, sich und das Publikum zu unterhalten. Ein paar 
Namen verdienen wohl herausgehoben zu werden: 

Der Lyriker Graf Golenischtschev- Kutusov, der hübsche 
Gedanken in melodische Form zu kleiden versteht. Seine erste Buch- 
ausgabe (1878) zeigt frische, kraftvolle Poesie; die der späteren 
Jahre ist schwerer, wehmütiger. „Es tobt der Wind. Die Nacht ist 
dunkel.** 

Ebenso hat hübsche Verse P. A. Koslo.v geschrieben. Er ist noch 
mehr bekannt durch eine gute Übersetzung von Byrons „ Don Juan*' (1890). 

Femer der Prosaschriftsteller Boborykin (geb. 1836), ein Viel- 
schreiber; 100 Bände liegen von ihm vor. Er trägt allen Literatur- 
richtungen Rechnung, von den Anklägem der sechziger Jahre bis zu den 
Erotikem des 20. Jahrhunderts. Er ist Romanschriftsteller, Dramatiker, 
Korresppndent, Kritiker, Ästhetiker, aber — sonst wäre seine große Be- 
liebtheit beim Publikum nicht zu erklären — er schreibt alles mit Geist 
und Geschmack. 

Ähnliches ist von Njemirowitsch-Dantschenko zusagen, der 
gleichfalls ein Vielschreiber ist. Aber seine Skizzen aus dem Soldaten- 
leben, aus dem Dorf leben sind trefflich, seine Schilderungen des hohen 
Nordens, vor allem Lapplands vorzüglich; er war auch ein ausgezeich- 
neter Kriegskorrespondent von ,1877 und 1904. Und was ihm sehr 
hoch angerechnet werden muß, er ist der Schöpfer des Moskauer Künst- 
lerischen Theaters ; hier hat er ganz besonders dahin gewirkt, daß neben 
Tschechov die Werke Gerhart Hauptmanns eine Stätte fanden; das 
Moskauer Künstlerische Theater wurde mit einem Gottesdienst und Teilen 
aus der „Versimkenen Glocke" eröffnet (1898). Vorbilder waren für 
Njemirowitsch-Dantschenko und ftir seinen Mitgründer Stanisslawskij 
übrigens unsere Meininger gewesen. 

§ 69 I Sonst zeigt das mssische Drama am Ende des Jahrhunderts 
eine starke Ebbe. Es wurden noch genug Stücke verfaßt, und das Pu- 
blikum strömte in Massen ins Theater ; es suchte jedoch mehr pmnkhafte 
Ausstattung, glanzvolle Szenerie und fand sich dafür mit seichtem Inhalt 
an. Ein paar bessere, geistreichere Stücke sind geschrieben wie „Tatjana 
Regina" (1888) vom Chefredakteur des „Nowoje Wremja" Ssuworin 
-oder „Der Tod der Agrippina" (X887) von seinem Mitarbeiter Burjenin, 
aber auch sie konnten nur für den Augenblick interessieren. Der, welcher 



X26 Einandzwanzigstes Kapitel 



Gehaltvolleres sehen wollte, ging leer aus. Da würde nun das Moskauer 
Künstlerische Theater gegründet. Seine Tätigkeit gehört jedoch mehr 
dem neuen Jahrhundert an. 

§ 70 I Der Kritiker dieser ganzen Zeit, und zwar der einzig 
ausschlaggebende, von allen trotz seiner Steifleinigkeit anerkannte ist 
Michailowskij (1842 — 1904). Er arbeitete schon an Njekrassovs 
„Vaterländischen Annalen" undicann als der Fortsetzer Tscherayschewskijs 
und Pissarjevs angesehen werden. Nur folgte er nicht ihren Auswüchsen : 
die Kunst hat für ihn eine moralische und soziale Aufgabe. Er hat wert- 
volle ästhetische Aufsätze, besonders im „Nordischen Boten", über 
Turgenjev, Dostojewskij , Tolstoj, Usspjenskij veröffentlicht und in seinen 
späteren Jahren scharf gegen den Symbolismus und das Dekadententum 
gekämpft. Er ist auch als Philosoph, als Ethiker und als Sozialpolitiker 
bedeutend. Von Studium Naturwissenschaftler hat er, Darwin in Ruß- 
land populär gemacht, ebenso hat er sich um die Einführung von 
Spencers und Louis Blancs Evolutionsphilosophie verdient gemacht. 

Als Philosoph, als Dichter, als Literarhistoriker genoß nicht un- 
verdienten Ruf Wl. S. Ssolowjov (1853 — 1900). Die ganze Familie 
Ssolowjov steht in der Wissenschaft in hohem Ansehen; sein Vater war 
der bekannte Historiker, sein Bruder ein guter Belletrist. Aus der Schule 
Schellings und Hegels hervorgegangen, hat er sich etwas zu stark in die 
Mystik verloren. Seine Religionsphilosophie will vor allem eine Aus- 
söhnung, eine Union zwischen der griechisch- und römisch-katholischen 
Kirche, eine für Rußland außerordentlich gefahrliche Anschauung, so 
daß ein großer Teil seiner Schriften im Ausland erscheinen mußte. 
In literarischer Hinsicht zeigt er genaue Bekanntschaft mit Goethe, 
Dostojewskij, Njekrassov; vom literarischen wie vom philosophischen 
Standpunkt aus schreibt er sehr scharf gegen Tolstoj. Er greift in seiner 
letzten Schrift „Drei Gespräche über den Krieg, die Moral und die 
Religion" (1900) den „Sophismus" Tolstojs auf das Heftigste an 
und setzt diesen, dessen schwache Seite ja in der Tat die Logik ist, 
leicht matt. 

Als Kritiker der letzten Zeit — und damit greifen wir der Kürze 
halber gleich in das nächste Kapitel hinüber — heben sich Wolynskij 
und Owssjanniko-Kulikowskij heraus. Der erstere, an Kant ge- 
bildet, hat viele eingehende Studien über Dostojewskij, über den Idealis- 
mus, die Romantik, hauptsächlich im „Nordischen Boten" veröffentlicht; 
eben da auch Owssjanniko über Lermontov, Gogol, Turgenjev, Balmont. 
Seine fünf bändige Literaturgeschichte über das 19. Jahrhundert (191 1) 
orientiert sehr gut. 



Gegenwart: Pessimismas — Symbolismus — Erotik — Futurismns — Realismus 127 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Die Gegenwart: Pessimismus — Symbolismus — 
Erotik — Futurismus — Realismus 

§ 71 I Das neue Jährhundert hat neue Wandlungen, neue Rich- 
tungen, neue Schlagwörter gebracht : die Symbolisten (Dekadenten) , die 
Erotiker, die Futuristen, die Egofuturisten, die Lucisten usw., und — cha- 
rakteristisch für heute — kaum ist eine Richtung aufgetaucht, so ist sie 
von einer andern abgelöst; man lebt gegenwärtig schnell in Rußland. 
Selbstverständlich ist auch das neue Jahrhundert keine hermetisch ab- 
schließeiide Scheidewand — der Pessimismus gedeiht weiter in der Form, 
die er bisher angenommen hatte, und zwar in sehr bedeutenden Ver- 
tretern. Während die frühere Zeit aber ganz dem Bauern galt, beginnt 
jetzt — zunächst nur in der Literatur — die Herrschaft des Arbeiters. 
Die vagen und nur in dem einen Ziel, dem der Zerstörung, einigen Be- 
strebungen des Nihilismus wurden durch den bestimmteren, mehr den 
wirklichen Lebensverhältnissen Rechnung tragenden Sozialismus ersetzt. 
Die von Deutschland und noch mehr von Frankreich importierte sozia- 
iistische Lehre gewann in Rußland festeren Böden und steHt also vor 
allem die Arbeiterfrage in den Vordergrund. So wenig das einstweilen 
politisch von Belang war, so intensiv lebt die Literatur diesem Gedanken, 
natürlich, wie ehedem beim Bauern, mit der obligaten Übertreibung. Die 
Nöte des Arbeiters, überhaupt des um das tägliche Brot hart Ringenden, 
finden sehr beredte Vertreter. 

§ 72 I An der Spitze steht Gorkij, der Sänger der Barfüßler, der 
Landstreicher, der Vagabunden. Seiner Geburt nach gehörte er nicht zu 
dieser Kategorie, er stammte aus gut bürgerlicher Familie. Nur wurde 
der 1868 in Nishnij-Nowgorod geborene Alexej Michailowitsch Pjeschkov 
— so ist sein wahrer Name — mit sieben Jahren Vollwaise, und nun 
begann für den Verlassenen eine wahre Odyssee von Irrfahrten und 
schweren Nöten, die ihn später den symbolischen Decknamen Gorki) 
(„der Bittere") annehmen ließen. Er arbeitete in einem Schuhwarenladen, 
bei einem Schreiber, war Koch auf einem Wolgadampfer, lernte dieses 
und jenes Handwerk; er durchzog den ganzen Süden Rußlands, sich 
verdingend und verdienend, wo sich ihm etwas bot. Aber bei aller 
schweren Arbeit und auf allen Wanderungen lernte und lernte der mit 
regem Verstände und reicher Phantasie Begabte; er fand auch Leute, 
die ihm in seinem Streben weiter halfen. Auf einer Wanderung, in Tiflis, 
brachte er 1892 zu der Zeitung „Der Kaukasus" eine halb märchen- 
hafte Skizze aus dem Zigeunerleben „Makar Tschudra", und die Er- 
zählung hatte Erfolg. Neue Skizzen, alle dem Leben der Vagabunden 



128 Zveinndzvaiuigites Kapitel 

und der untersten GesellschaAsscbichten entnommen und in TifUser, 
KAsaner , Petersburger Zeitungen veröffentlicht : „Tschelkasch" , „ Ko- 
nowalov", „Gewesene Leute", hatten nicht allein wegen der Neuheit des 
Gegenstandes, sondern auch wegen ihier AnschaulicMeit , Lebendigkeit, 
Lebenstreue noch gräSeren Erfolg. 

Gorkij hatte viel Glück in seiner literaiischen Laufbahn, man hat 
ihn in manchem staik überschätzt. Seine Skizzen kamen schnell in 
Übersetzungen ins Ausland, und besonders in Deutschland hatte er bald 
einen großen Freundeskieis. Auch als Dramatiker wurde er sehr beliebt; 
sein „Nachtasyl" („Auf dem Boden des Lebens") wurde in den Jahren 
1903 und 1904 in Berlin mehr als sootnal aufgeführt Andere 
Dramen, „Die Kleinbürger", „Die Sommergäste", „Kinder der Sonne", 
hatten geringeren Erfolg, sind aber inunerhin besser als die gewöhnliche 
Tagesware. 

Im Jahre 1905 wurde Gorkij wegen Teilnahme an der revolutionären 
Bewegung verhaftet. Die Nachricht rief in ganz Europa so grofies Auf- 
sehen hervor, da8 sich überall Ausschüsse bildeten, welche Telegramme, 
Adressen an den Zaren mit der Bitte um Begnadigung des berühmten 
Schriftstellers schickten, und Gorkij wurde in der Tat entlassen. 

Er begab sich ins Ausland, nach Schweden, Dänemark, Deutschland, 
tiberall gefeiert, am wenigsten in Amerika, Nach Europa zurück, nahm- 
cr ständigen Wohnsitz auf Capri. 

Gorkij hat in dieser Zeit viel geschrieben. So hat denn manches ' 
nicht die Höhe der früheren Werke erreicht, so die farblos langweiligen 
Romane „Das Städtchen Okurov", die Fortsetzung davon „Matwej 
Koschemjakin", auch „Die Beichte", die Entwicklungsgeschichte eines 
reinen Toren und Gottsuchers, mit scharfem Kampf gegen den byzan- 
tinischen Gott, femer das Drama „Die Sykovs". 

Höher steht seüa sozialer Roman „Die Mutter", ein hohes Lied 
auf die Mutter Rußland, auf den russischen Arbeiter, auf die russische 
Revolution. Als er bei Ausbruch des Krieges nach Rußland zurück- 
kehrte, wurde er sofort wegen dieses Buches unter die Anklage der 
Gotteslästerung gestellt und stand bis 19 15 unter Au&icht. 

Vom Kriege und von der Kriegshetze hat er sich vollkommen fem- 
n'enn schon in den früheren Erzählungen über allem Pessi- 
: Liebe schwebt, so daß der Leser selbst seinen ärgsten 
I zu lieben beginnt, so hat sich diese heilige Flamme seit- 
zu größerer Glut entfacht Seine „Erinnerungen" (1915) 
Kindheit sind trübe und bitter, aber auch voll süßen 
id seine Reiseskizzen „Durch Rußland" (1915}, Eindrücke 
Wanderungen, haben überhaupt keine philosophierenden Vaga- 
■hi, sondern arbeitsfrcui^ge, tätige, kraftvolle Gestalten aus 



Gegenwart: Pessimismas — Symbolismus — Erotik — Fatarismns — Realismus 129 

Unter der Herrschaft der Bokchewiki redigierte er eine Zeitlang 
die Zeitung ,, Neues Leben", in versöhnendem Sinne, 
f t . Andrej ev (1871 — 191 9) wird oft der Jünger Gorkijs genannt. 
Das stimmt jedoch |iur bedingt. Richtig ist, daß beide Pessimisten sind, 
aber dieser Pessimismus ist verschiedener Art. Bei Gorkij war Hoff- 
nung, bei Andrejev ist Tod. Andrejevs ganze große Welt ist ein Ge- 
fängnis, aus dem es kein Heraus gibt, in das kein Lichtstrahl dringt. 
Gorkij ist Realist; er nimmt, allerdings aus einer bestimmten Klasse, der 
untersten Schicht, seine Menschen, aber ' sie sind Menschen, wie wir ihnen 
täglich auf der Straße begegnen, gesunde Menschen. Andrejevs Menschen 
sind krank, abnorm, verzerrt, vertiert. Gorkij wählt sich die realsten 
Situationen des Lebens, Andrejev sucht gern das Mystische, Romantische, 
grausig Phantastische. Selbst im Stil unterscheiden sie sich; der Andre- 
jevs hat etwas Geschraubtes, Gesuchtes, den Modemisten sicn sehr nähernd. 

Andrejevs hervorragendste Schöpfung ist sein „Rotes Lachen" (1905), 
das Wahnsinnslachen über die Blutgreuel des Krieges. Der Stoff, der 
den ostasiatischen Kriegsereignissen entnommen ist, tut dabei wenig; es 
soU das Entsetzliche des Schlachtfeldes hervortreten, die grauenhaften 
Leiden und Qualen, die auf den völlig Unschuldigen fallen, der Wahn- 
sinn, der aus guten und gebildeten Menschen Mörder . macht. 

Im Wahnsinn kann das Leben nur enden, so entsetzlich- ist das 
Leid, da^ Elend dieser Welt. Das zeigt, aUerdings in großartiger Durch- 
fuhrung und Steigerung der Effecte und in vollendeter Aufblätterung der 
Menschen, der Örtlichkeiten, der Situationen der Dichter im Roman „Das 
Leben Wassilij Fiwjeiskijs" (1904 — in der deutschen Übersetzung „Der 
Glaube"); der Priester Fiwjeiskij hält am Glauben fest trotz alles furchtbaren 
Unglücks um sich herum, trotz des idiotischen Sohnes, trotz der trunkenen 
Frau; als auch der Glaube versagt, wird er wahnsinnig. 

In Nacht und Grauen stürzt uns das Leben. Das spricht sein 
romantisch - mystischer Roman „Lazarus" (1908) aus. Aus Nacht und 
Grauen ist Lazarus von Christus erweckt worden, er geht nun in die Welt 
hinein. Da beginnt die Pein : alle Frauen umwerben ihn, so daß jer die 
Eifersucht des Augustus erweckt, und der läßt ihn jetzt blenden. Da 
ist wieder Nacht und Grauen um ihn. — Ebenso ist sein Drama „Die 
schwarzen Masken " ein grauenhaftes Gemisch von Traum und Wirklichkeit. 

Die „Philosophie des Eisengitters" ist der alleinige Trost, so sagen 
und beweisen seine „Memoiren" (1908). Ein 30 Jahre lang Inhaftierter 
kommt frei. Was nun? Er fühlt sich in der ungewohnten Umgebung 
verloren. Da umbaut er sein Landhaus wie ein Gefängnis und nimmt sich einen 
strengen Wärter, den er für seine Strenge zum Universalerben einsetzt. 
Man sieht, Andrejev will verzerren. 

Er will peinigen. Wenn auch psychologisch höchst künstlerisch 
entwickelt, so ist doch „Die Geschichte der sieben Gehenkten" (19 12), 

Friedrichs, Russische Literaturgeschichte 9 



X70 Zweiundzwanzigstes Kapitel 



ihre Qualen zwischen Verurteilung und Exekution, zugleich für den Leser 
eine QuaL 

Andrejev hat sich leider zum Vielschreiber entwickelt, noch mehr 
im Drama als im Roman. Daher hat denn keines seiner Draiden rechten 
Anklang gefunden, weder die satirische Groteske „Nächstenliebe^* (1908)^ 
noch seine Eifersuchts- und Ehebruchsdramen wie „Anfissa^* (1909 — die 
Liebe eines Mannes zu drei Frauen) oder „Katharina Iwanowna'^ 
(19 12), noch sein Satansdrama „Anathema*^ (Satan läßt den Juden seine 
Mülionen fürs Volk hingeben, das ihn doch steinigt). Am meisten hat 
noch sein Studentenstück „ Gaudeamus *' (19 10) Erfolg gehabt. Der 
junge Student ist nach Sibirien verschickt worden und kommt nun mit 
48 Jahren zurück. Er wiU jetzt wieder studieren — der Lohn für die 
ausgestandenen Leiden ist, daß er von aUen verlacht wird. 

In einem Drama „Zu den Sternen^' ist Andrejev nicht Pessimist; es 
gipfelt in den Worten: „Es gibt keinen Tod für den Menschen, es gibt 
keinen Tod für den Sohn der Ewigkeit" 

Während des Krieges hielt sich Andrejey politisch zurück ; einmal ist 
er aus dieser Reserve herausgetreten. Sein Drama „König, Gesetz und 
Freiheit" ist eine Verherrlichung von Belgiens Märtyrertum. 

Noch gesteigerter ist der Pessimismus, noch mehr ist „Liebe in 
Haß, Blut in Galle verwandelt" bei Skitale z. „Wild schallt mein Lied,, 
und in dem Wort ,Ich fluche* klinget Mein ganzes Menschensein." 
Der Bauemsohn hat am eigenen Leibe ^e furchtbare Not des Daseins 
(die Novelle „Spießruten" sind die Spießruten, die er imd noch mehr 
sein Vater durch die menschliche Gesellschaft laufen mußten) kennen 
gelernt, und daher ist für ihn der Reiche nur der feohe, Dumme, Ge- 
meine, während der Proletarier immer gut imd talentvoll ist. Aber dieser 
schiefen Subjektivität stehen die wundervollen Beschreibungen der Wolga,, 
ihrer Naturschönheit wie des Lebens und Treibens auf und an ihr gegen- 
über, die weichen Stimmungen, die er in seinen Personen und durch sie 
zu erzeugen weiß, die packenden, erschütternden Bilder, die er vom 
Bauemieben imd von der Bauemseele malt. 

Etwas müder steht dem Leben gegenüber, auch mehr auf Seite der 
Intelligenz Wjerjessajev (Pseudonym für Ssmidowitsch), geboren 1867. 
Bei uns ist er durch seine „Memoiren eines Arztes" (1902) bekannt ge- 
worden- Mit Rousseau verspricht er sich von der Rückkehr zur Natur 
eine moralische Besserung; sein Buch „Zum Leben" (1909) läuft ganz 
auf diesen Gedanken hinaus. Er gibt auch hübsche Literaturbetrachtungen 
über Tolstoj, Dostojewski] usw. in seinem „Lebendiges Leben" (19 11). 
§ 73 I Neben diesem realistischen Pessimismus tauchte in 
den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts eine neue Richtung auf, die 
das Leben mit derselben pessimistischen Skepsis ansieht, aber Rettung 
aus dieser Trostlosigkeit will und deshalb zu dem Überirdischen flieht. 



Gegenwart ; Pcssimismns — Symbolismus — Erotik — Fatorismos — Realismns j 2 i 

Sie verläßt die Wirklichkeit, die reale Welt und wendet sich an den 
Himmel, die Sonne, den Mond, die Sterne; sie besingt die Ewigkeit, 
die Stille, das Dunkel, die Finsternis. Für so große, ewige, unfaßbare 
Stoffe gibt es keine faßbaren Gedanken, keine faßbare Form; sie lassen 
sich nur annähernd im Symbol wiedergeben. So nennen sie sich Sym- 
bolisten und nehmen dann, als man verspottend ihre Poesie und ihre 
AtifTassimg dekadent heißt, den Namen Dekadenten ^^^) an, ihn anders 
definierend: sie fallen ab (lat. decadunt) von allem, was vordem gebräuch- 
lich, was vordem durch den Gebrauch geheiligt war. Die erste Stelle 
nimmt bei ihnen die Musik, die Leichtigkeit des Verses ein, die Ver- 
schiedenheit und der Reichtum des Versmaßes, die Wahl und Stellung 
der Worte, die Lautnachahmung, kurz alle Verskünstelei. Ihre selb- 
ständige Erfindung ist das nicht; Paul Verlaine und Maeterlinck sind 
die Väter. 

Es gibt schon ein paar Vorläufer. Fofanovs (1862 — 1911) 
Lyrik weiß die flüchtigsten Stimmungen imd die leisesten Seelenregungen 
zum Ausdruck zu bringen. Er hat außerordentlichen Sinn für plastische 
Bilder und ist vollendet in der Form ; er liebt dabei schon die gekünstelten 
Epitheta, die herbeigezogenen Vergleiche, er müht sich um Versmaß und 
Reim. Seit 1882 ist er bekannt. Am besten ist ihm wohl das große 
Gedicht „Das Mysterium der Liebe** gelungen, aus dem neben der Kraft 
und dem Wohllaut des Verses schöne Gedanken sprechen. Auch viele 
kleine Dichtungen „Helle Sterne. Schöne Sterne", „Die Vorahiumg**, 
„Zur Herbsteszeit", „Die Braut" zeigen den gottbegnadeten Poeten. 

Minskij (geb. 1860 — Pseudonym für Wilenkin), nicht so be- 
deutend wie Fofanov, aber von der Jugend einst vergöttert, läutet gleich- 
falls die neue lyrische Periode ein. Auch für ihn birgt das Leben nur 
Kummer; neben dem Glück steht gleich das Unglück. In dem Gedicht 
„Die Dürre" malt er die Verzweiflung der Bauern, weil in der Sonnen- 
glut alles verdorrt und hinsiecht. Da setzt ein Gewitter ein, und alle 
sind erlöst und gehen frohen Herzens hinaus auf das Feld, in den duf- 
tenden Garten. Jedoch im Garten hat der starke Regen ein Nest mit jungen 
Vögeln ausgewaschen und die Jungen sind tpt, und die Mutter umkreist 
es nun, ruhelos, unaufhörlich, bis auch sie tot hinfällt. Trost in allem 
Elend gibt ein Sichvei senken in den Zauber der Natur; es sind pracht- 
volle Naturbilder, die er geschaffen im „Abend", in „Auf der Höhe", 
„Auf dem Schifif". Trost gibt auch die Liebe, und da erinnert er sehr 
an Heine, den alle diese Dichter aufs genaueste kennen. 

Wie Minskij erst nach und nach sich zum Dekadenten entwickelt 
hat, so auch D. Ss. Mjereshkowskij (geb. 1866). Seine ersten Werke 
zeigen ihn noch nicht in diesen Bahnen. Er ist eigentlich überall be- 
deutend, in der Lyrik, im Roman, im Drama, als Dichter, als Essayist, 
als Kritiker — er will von Tolstojs geistlichen Schriften nichts wissen, 

9* 



1^2 Zweiandzwanzigstes Kapitel 



und ebenso tritt er der Überschätzung Gorkijs entgegen — , als Gelehrter. 
Mjereshkowskij ist ein tiefempfindender Lyriker; die Gedichte „In den 
Alpen", „Auf der Höhe" sind Perlen. Er ist ein guter Romanschrift- 
steller. Seine Romantrilogie „Der Tod der Götter" — das ist der Kampf 
der alten heidnischen Welt mit der christlichen (russischen) Welt — hat 
ihn auch in Westeuropa bekannt gemacht. Sein Roman „Alexander I."^ 
hat ein ausgezeichnetes historisches Kolorit; er wurde 191 1 von der 
Zensur freigegeben. Ebenso hat sein Drama „Paul I." wegen des heiklen 
politischen Stoffes lange unter Zensur gestanden; es offenbart neben 
Bühnengewandtheit den Dichter. Seine gesammelten Aufsätze ,,Vom Krieg 
zur Revolution" {19 18) bilden wertvolles Material zum Verständnis der 
Zeit und zeigen den streitbaren, aber sittlich ernsten Denker. 

Als Haupt der Schule gilt Balmont (geb. 1867). Er hat viel in 
Paris und Brüssel geweilt, den Symbolismus also an der Quelle ein- 
gesogen. Seine ersten Veröffentlichungen sind schon aus dem Jahre 
1887; aber er wurde anfangs verspottet, und erst nach und nach er- 
kannte und anerkannte man seine reiche, kühne Dichtersprache. Seinen 
Höhepunkt bildet wohl das Buch „Laßt uns sein wie die Sonne" (1904), 
voll jubelnder Weltfreude und schrankenloser Lebensbejahung. Er hat 
viel geschrieben. Aus dem Zuvielen hebt sich der Gedichtband der 
letzten Zeit wieder heraus „Der grüne Weinberg" (1908). Hier zeigt 
sich nicht allein der gewandte Versmacher, sondern das lebendige Werk 
eines Künstlers, das an die besten Seiten seiner „Flammenden Gebäude" 
erinnert. Aus den Greueln des Krieges rettete er sich durch seinen 
„Adam, Sonettenkranz". Er hat neben anderen Übersetzungen eine sehr 
gute Shelleys gegeben. 

Brjussov (geb. 1873), ^^ Deutschrusse („Brüssow"), hat sich durch 
seine lyrischen Gedichte eingeführt, ist aber immer mehr zum Roman 
übergegangen und leistet darin Bedeutendes. Vor allem tritt sein Re- 
naissanceroman „Der feurige Engel" (1908) hervor, eine Erzählung aus 
dem 16. Jahrhundert, worin die Heldin die geheimnisvolle Jungfrau 
Renata ist, die mit dem feurigen Engel Madiel zu verkehren glaubt und 
infolge dieses Bekenntnisses als Hexe verbrannt werden soll. Ein roman- 
tisch-mystisch-phantastischer Stoff, jedoch voll meisterhafter lebenswahrer 
kulturhistorischer Bilder. Die Art, wie er sich in die Denk- und Emp- 
findungsweise eines fremden Volkes und in vergangene Zeiten versetzt 
und dies in prägnante Fassung bringt, offenbart ein reiches und reifes 
Talent Diese Höhe erreicht nicht der Roman „Der Siegesaltar" (1912). 
Er ist weniger dichterisch, mehr gelehrt; aber vorzüglich ist Brjussov 
gelungen, farbenreiche und dabei wahre Bilder aus spätrömischer Zeit vor 
unsere Augen zu zaubern. Seine Ijrrischen Gedichte, unter denen wohl 
„Klänge" und die Sammlung „Schattenspiegel" (1911) die besten sind, 
zeigen nicht die Gewandtheit Balmonts, kommen gedanklich ihnen aber 



Gegenwart ; Pessimismus — Symbolismus — Erotik — Futurismus — Realismus i j j 

gleich. Er hat die Dichtungen des Vaters der Symbolik Verlaine hübsch 
ins Russische übertragen. Im Krieg hat er stark bramarbasiert^^®). 

Im Roman entwickelt sich, vielleicht noch bedeutender als Brjussov, 
Bjelyj (geb. 1880, Pseudonym für Bugajev). Er ist zugleich der Wissen- 
schaftler unter den Symbolisten; seine umfangreiche Untersuchung über 
„Die Geschichte und Theorie des Symbolismus*' {1909) rechtfertigt die 
Ziele der Schule. Seine Anfangsleistung „Symphonien in Prosa" ist 
nicht hervorragend; sie können nicht erwärmen. Höher steht „Asche 'S 
der Ruf der Verzweiflung, daß alles im Leben zu Asche vergeht; imd 
ein recht bedeutendes Kunstwerk ist sein großer Roman „Die silberne 
Taube" (1909). Er ist der erste Teil einer beabsichtigten Trilogie „Ost 
und West**, die den Widerspruch zwischen dem Russentum und der 
westlichen Kultur klarlegen soll. Es handelt sich in der „Silbernen 
Taube*' um einen jungen Gelehrten, der alles gelernt hat, was der ge- 
bildete Europäer lernen kann, aber trotzdem eine ungeheure Leere in 
sich fühlt, und, da ihm der Westen mit seinei Kultur keine Heilung 
bringt, ntm Gesundimg in der Heimat sucht und sich da zu einer jener 
unzähligen Sekten, der unheimlich -mystischen der Tauben, hingezogen 
fühlt. Hier sieht er die Idealverkörperung des Weibes in der Tischlers- 
frau Matrona, die, gleichfalls von mystischem Wahnsinn umfangen, ihn 
immer mehr an sich lockt, um von ihm den Heiland zu gebären. Aber 
er entdeckt bald, daß er doch nach dem Westen gehört. Da töten 
ihn die Sektierer, die seinen Abfall merken, zu Ehren Gottes. Der Stoff, 
reichlich seltsam und mystisch, interessiert wohl weniger, mehr der 
Grundgedanke und die Ausführung. Die Büder, die Bjelyj vom dörf- 
lichen und kleinstädtischen Leben gibt, smd echt und anschaulich ; ebenso 
anschaulich tritt uns die Stimmung vor dem Ausbruch der Revolution 
entgegen. Den zweiten Teil der Trilogie bildet „Petersburg" (19 14). 
Der Dichter ironisiert die verdorbene, wüste, lügnerische, gleißende Stadt, 
die als der Mittelpunkt der Kultur gilt. Auch dies Buch ist, so sehr 
der Stoff zur Realität zieht, phantastisch-traumhaft gehalten. 

Eine stark ausgeprägte Dichternatur ist F. Ssollogub (Pseudonym 
für Tjetjernikov). „Das wirkliche Leben ist der Tod" ist seine Phüosophie. 
Der Gedanke ist wohl am besten in seinem Novellenband „Das Buch 
der Zaubereien" (1908) zum Ausdruck gebracht; die Wirklichkeit ist 
nur Schein und Trug; der wahre Herr der Welt ist der Tod. Solche 
Auffassung vom Leben und der Wahnsinn liegen dicht beieinander. Es 
ist eine sonderbare Phantasie, wenn die verlassene Braut („Der Kuß des 
Ungeborenen**) ihr Elend nicht so sehr fiihlt, weil ihr das kranke Hirn 
vortäuscht, sie habe einen Elnaben geboren und der umgebe sie überall 
imd liebkose sie — ein sonderbarer Gedanke , aber mit tiefer Innigkeit 
durchgeführt. Der Wahnsinn triumphiert auch in der Skizze „Schatten**, 
nicht der laute, tolle des „Roten Lachens*', sondern der langsam heran- 



l^A Zweiundzwanzigstes Kapitel 






schleichendei nach und nach die Opfer, Mutter und Sohn, einspinnende. 
Der Versuch, seinen gut geschriebenen Roman „Der Dämon" zu drama- 
tisieren, ist ihm mißlungen. Dagegen hat sem Märchendrama „Nächdiche 
Tänze" — Grimms zwölf Königstöchter — hohen poetischen lyrischen 
Reiz. Störend wirkt öfter sein Trivialseinwollen. Am Kriege hat er 
sich mit lyrischem Paukenschlag tmd Trompetengeschmetter beteiligt. 

Die Dekadenten stießen natürlich auf Widerstand. Ihr schlimmster 
Gegner, weil über starken Spott, scharfe Satire verfügend, ist wohl 
Bur jenin gewesen, der Mitarbeiter von „Nowoje Wremja". Noch be- 
vor die Dekadenten sich entdeckten, war er ein gefürchteter Kritiker. 
Er begann schon in den sechziger Jahren in dem Spottblatt „ Der Funke", 
imd seine erste Gedichtsammlung „Pfeile" (1881) sind wirkliche Pfeile, 
satirisch, karrikierend, parodierend. Er besitzt ein offenes Auge für alle 
Schwächen, moralische und politische, und kleidet alle Bosheiten in einen 
sehr gefalligen Vers. Er hatte auch bedeutenden Erfolg mit seinem ge- 
meinsam mit Ssuworin, dem Herausgeber von „Nowoje Wremja", verfaßten 
Drama „Medea" (1884), das die Frauenfrage sehr scharf anfaßt. Im 
neuen Jahrhundert gehörte nun seine „Liebe" den Dekadenten, in Vers 
und in Prosa, in „Nowoje Wremja", überall. 

§ 74 I So lange die revolutionäre Bewegung zur Aktion trieb, also 
bis 1905, waren die geistigen Kräfte der Jugend von ihr auf das stärkste 
in Anspruch genommen. Nun zerrann sie: die Kräfte aber waren 
derartig angespannt gewesen und hatten solche starken Erschütte- 
rungen erfahren, daß sie jetzt erschlafften. Solche Zeiten geistiger Er- 
mattung sind der Wucherboden für das Geschlechtliche. So wächst um 
diese Jahre die Wucherblume der Erotik empor, das sexuelle Problem. 
Unter der großen Zahl dieser Leute, deren höchste Aufgabe ist, die er- 
wartungsvollen, verlangenden Frauen und Mädchen zu zeichnen, ragen 
aber ein paar wirklich gut schreibende hervor. 

Arzybaschevs (geb. 1878) erster aufsehenerregender, auch bei 
uns sehr bekannter Roman ist,,Ssanin" (1907). Arzybaschev sieht alles 
nur vom sexuellen Standpunkt aus und urteilt einzig und allein nach 
diesem. Das ist selbst der Angelpunkt in solchen Romanen, deren Haupt- 
thema auf ganz anderem Gebiete hegt, wie im „Millionär" (1908), wo der 
Multimillionär sich nach Menschentum sehnt, und da er es nirgends 
findet, sich tötet. Das trifit auch in seinem „Tod des Iwan Lande" 
(1904} zu, wo der junge, zarte Student als Gottessucher durch das Land 
wanddt, und weil er seine große Idee sich nirgends erfüllen sieht, weit weg 
von allen menschlichen Behausungen geht und in der Einsamkeit stirbt 
Das wirkt noch unangenehmer, wenn sich mit dem Erotischen das 
Grausig-Phantastische mischt, wie in den Romanen: „Das Grauen", „Am 
letzten Punkt" (19 10). Andrerseits darf aber nicht außer acht gelassen 
werden, daß alle seine Romane, auch seine Novellen („Aus dem Leben 



iBoa 



Gegenwart: Pessimismus — Symbolismns — Erotik - Faturismns — Realismus j^r 

eines kleinen Mädchens" 19 13, „Revolutionsgeschichten", „Aufruhr") 
treue Bilder von der russischen Intelligenz Sum die Zeit der Revolution 
geben und uns den Ausbruch der Revolution verstehen lassen. 

Arzybaschev hat sich kurz vor dem Kriege auch als Dramatiker, 
natürlich in derselben Richtung, betätigt. Sein Drama „Eifersucht" will 
die moderne Frau an den Pranger stellen, ist aber nur ein gewöhnliches 
Ehebruchsdrama. Im Kriege, an dem er als Freiwilliger teilgenonmien, 
hat er das Drama „Der Krieg" verfaöt, von dessen AufRihrung man 
jedoch infolge der Unruhen nichts gehört hat. 

Sehr kühn in erotischen Bildern, jedoch keineswegs ungeschickt in 
Anlage und Ausföhrung, auch in Gedanken ist Dymov mit seinen poly- 
gamischen und brünstigen Motiven : „Nyu", „Knabe Wlaß" ; die dann von der 
weiblichen tmd männHchen Demimonde verschlungene Frau Wjerbizkaja 
(„Die Schlüssel zum Glück"); Kuprin mit seinen Bordellerzählüngen 
(„Die Grube"); und leider zu ihnen auch übergehend Kusmin in seinem 
neuesten Roman „Die Reisenden". Sonst ist Kusmin ein recht beachtens- 
werter Lyriker und Novellist. Seine „Novellen" (1909) zeigen glänzenden 
Stil und blendende Gedanken. 

Es bedarf übrigens kaum der Hervorhebung, daß Frau Wjerbizkaja 
nicht die einzige Schriftstellerin der letzten Zeit ist, im Gegenteil, ihr^ Zahl 
ist Legion. Sie beackern eigenüich alle das erotische Feld, und zwar das 
ganz sumpfige. Die besseren sind Frau M. W. Krestowskaja, die Tochter 
des „ Petersburger Spelunken "-Krestowskij, Frau Dmitrijewa, Frau 
Ssmirnowa, tmd mit mehr Bildung tmd Geschmack Frau Sinai da 
Hippius, die Frau Mjereshkowskijs. 

§ 75 I Arzybaschevs tmd der anderen Berühmtheit hat nicht lange 
gedauert. Alle verachtend, die Symbolisten für Klassiker erklärend, ist 
die neue Richtung der Futuristen^^®), Egofuturisten, Lucisten 
emporgestiegen. Sie wollen die „Wortbefreier" sein. Damit stehen 
sie aber den Symbolisten nicht so fem als sie tun ; sie übertrumpfen sie 
nur durch noch kühnere Bilder, eine noch gewagtere Sprache, noch ge- 
wagtere Neubildungen, so gewagt, daß man nicht mit Unrecht gesagt hat, 
ihre Sprache sei gar kein Russisch mehr tmd man brauche für sie ein 
noch zu schreibendes Lexikon. Im übrigen tout comme chez nous ! Je 
schreiender die Farben, je höher die gesungenen Töne sind, desto größer 
erscheint sich der Futurist. Mit diesen „grünen" Futuristen will nichts 
zu ttm haben der Egofuturist Ssjewjerjanin, Egofuturist, weil er eigene 
Wege und eigene Ziele hat. Auch er hat tmgewöhnliche Reime, ungewöhnliche 
Wortbildungen tmd wirtschaftet in seinen Dichtungen mit dem Neuesten, den 
Propellers und den Automobilen. Aber bei allem ist er ein Dichter. Das 
zeigen schon seine ersten Gedichtbücher „Der donnerkochende Becher" und 
„Die goldene Leier" (i 9 1 2), die im Nu vergriffen waren; das tritt noch besser 
in der Gedichtsammlung „Victoria regia" (19 15) hervor. Neue gedankliche 



2^5 Zweinndzwanzigstes Kapitel 



Gesichtspunkte, neue Stoffe bat er gleichfalls nicht. Sein Stoff ist der alte, der 
der Anakreontik. Bezeichnend nennt er seine letzte Sammlung „ Ananasse in 
Sekt^'. Gegen die teutonischen Barbaren ist er kräftig hergezogen. 

* § 76 I Neben diesen Schulen gibt es Einspänner, und zwar n^t 
nicht unbedeutender dichterischer Veranlagung. In der Lyrik den vor- 
trefflichen K. R. (Konstantin Romanov), den Grofifiirsten Konstantin 
Konstantinowitsch. Außer seinen lyrischen Gedichten kennen wir 
ihn als vorzüglichen Übersetzer Shakespeares und Schillers ; er hat auch ein 
Versdrama „Der König von Juda" geschrieben, das sich durch Wohlklang 
und Wohllaut auszeichnet. Durch seine wimderhtibschen Kindergeschichten 
bekannt isi Gar in (Pseudonym für A. Michailowskij) ; wenn er dies Gebiet 
verläßt, ist er allerdings schaurig. Im Drama und im Roman leisten 
recht Bedeutendes die beiden jüdischen Schriftsteller Tschirikov tmd 
Aisman. Beide sind vortreffliche Schilderer der Juden, der Intelligenten 
imd dann der in ihrer Denkweise noch im Ghetto Lebenden. Ein dritter Jude, 
luschkjewitsch, wühlt im jüdischen Elend und in der jüdischen Unmoral. 

§ 77 I Der Symbolismus ist gestorben; der Futurismus liegt im 
Sterben. Warum? Weil sie lebensfern sind, weil sie auf die Form 
größeren Wert legen als auf den Inhalt. Und was nun? Es will beinahe 
scheinen, als brechen wieder bessere Zeiten für die russische Literatur 
herein, als kehre ein geläuterter, geklärter Realismus ein, keiner mit 
einseitig aufdringlicher Tendenz , keiner mit Schwelgen in ^Schmutz und 
Laster, keiner mit Extremfexerei. Dafür spricht eine ganze Reihe junger 
Kräfte. Der älteste von ihnen ist Bunin (geb. 1870), der mit seinen 
ersten lyrischen Gedichten (1887) noch im symbolischen Lager steht, der 
sich jedoch auch hierin von den andern durch Zartheit und Feinheit der 
Töne wohltuend abhebt. Seine Novellen imd Romane sind aber voll- 
konmien realistisch gehalten imd auch nicht mit Autos und Propeller, 
sondern er geht wieder in den stillen Frieden der Gutshöfe, in die ein- 
samen, verlorenen Weltwinkel. Sein großer Roman „Das Dorf" (in 
Einzelausgabe 19 10) zeigt eine vortreffliche Schilderung des Bauern- tmd 
Kleinbürgerlebens, nicht mit starker Nervenaufpeitschung, sondern wie es 
sich Tag für Tag abspielt. Daß er Longfellows „Hiawatha" übersetzt 
hat, zeichnet ihn vortrefflich. 

Noch höher steht Graf Alexej Tolstoj, der 1910 mit seiner 
ersten Novellensammlung hervorgetreten ist. Er nimmt seine Stoffe aus 
demselben Milieu wie Bunin, aus dem Leben auf den alten Gutshöfen. 
Er trifft den russischen Volkscbarakter ausgezeichnet. Er hat sich auch 
dem Drama zugewendet, mit Erfolg. „Die Gewalttätigen" (19 13) geben 
ein lebensvolles, anschauliches Bild aus demselben Milieu, aus dem Leo 
Tolstojs „Macht der Finsternis" geboren ist. 

Gesunder Realismus durchzieht auch das Erstlingswerk des jungen 
Ssurgutschov, „Das Handelshaus" (1913), das, wie schon der Titel sagt, 



Gegenwart: Pessimisrnns — Symbolismas — Erotik — Futurismos — Realismus i^r 

ia eine ganz andere Welt führt. Und es gehören hierher auch wohl 
die Romane Kraschenninikovs, die mehr auf Seelenstimmung als 
auf Milieuschilderung hinzielen: „Die Kinder", „Die Schwestern", „Ein 
Lebensmärchen", „Jungfräulichkeit", die beiden letzteren von großer Zart- 
heit tmd Feinheit der Empfindungen. 

Wohin die Fahrt weiter geht? Das kann niemand sagen. Der 
Krieg selber hat, abgesehen von kleinen Entgleistmgen , keinen Dichter 
gefunden, ebensowenig der Bolschewismus. Rußland hat seit Puschkin,, 
trotz aller Auswüchse, eine außerordentlich schöne, große, reiche, selb- 
ständige Literatur gezeitigt. In die weitesten Kreise hat sich der Drang 
nach Bildung, Wissen, Kunst gelegt; es sind heute nicht mehr einzelne, 
sondern das Volk sucht Gesundheit und Genuß in den Schöpfungen 
semer Dichter. Und das Volk strebt weiter und dürstet nach immer 
neuen Quellen und will auch gern aus dem Weltenstrom fremder Zivili- 
sation und Kultur trinken. Und die Besten wollen ihm darin helfen. 
Das Moskauer Künstlerische Theater wurde, wie gesagt, mit dem Ziele 
Njemirowitsch-Dantschenkos gegründet, den Dichtungswerken Tschechovs 
und Hauptmanns eine Heimstätte zu schaffen. Es ist eine Heimstätte 
für sie geworden imd ebensosehr für Tolstoj, Gorkij, Andrejev und für 
alle besseren, gehaltvolleren Stücke russischer Kraft, und auch nicht aUein 
für Gerhart Hauptmann, sondern für unsere tmd fremde Klassiker und 
Modernen, für Shakespeare, Goethe, Schiller, Moli^re, Maeterlinck, Ibsen 
(eine sehr bedeutende Darstellerin der Gestalten der beiden letzteren war 
die 1909 gestorbene Kommissarzewskaja), für Strindberg, Stucken, Wede- 
kind, Hardt, Shaw. Und was sich dies Theater als Ziel gesetzt, das 
hat auch manches andere Theater aufgenommen. Welche Rolle spielt in 
der Oper Richard Wagner! Und was mit dem Theater geschehen ist, 
das gilt für die gesamte Literatur. Es sind heute in Rußland weite 
Kreise nicht nur in der einheimischen Literatur gut bewandert, man kennt 
gut außer Goethe tmd Schiller auch Schlegel, Novalis, Hoffmann und von 
den Neueren tmd Neuesten die Viebig, Dehm«l, Knut Hamsun, die 
Lagerlöf, Maupässant, Eapling. Sollte das alles verloren sein? Wir 
möchten mit den schönen Worten schließen, mit denen Gorkij, Andrejev 
und andere 19 16 ihre Kundgebung an die ausländischen Bertifsgenossen 
geschlossen haben : „Wir memen, daß die Böswilligkeiten in den mensch- 
lichen Herzen erlöschen und die gegenseitigen Beleidigungen ihre Schärfe 
verlieren werden, und wenn sich auf den von den Schützengräben auf- 
gewühlten und vom Menschenblute durchtränkten Feldern wieder die 
Getreideähren erheben, wenn Blumen die Gräber der Gefallenen bedecken,, 
dann wird die Zeit kommen, in der die entzweiten, jetzt so weit von- 
einander getrennten Völker wieder auf einem gemeinsamen, großen, all- 
gemein menschlichen Pfade wandeln. Wir glauben und hoffen!" 



Anhang* 



Zum ersten Kapitel 

1) „P^sni sobranija P. V. Kireerskago '*. Novaja serija. Izdan. Obsdestra 
Ljnbitelej Rossijsk. Slovesn. pri Imp. Moskov. nniversitet. Pod red. MUlera i Spe- 
ranskago. Moskra 191 1. •— „VeUkorass ▼ svoich pesnjach, obijadach i t p." 
Materialy sobran. i priveden/y. poijadok P. V. Sejnom. Peterbg. 1898 — 1900. — 
Dazu Jagiö im Ärch. für slay. Philologie 191 3. 

Eine grofie Sammlung (7 Bde) der noch heute toiq Volke gesungenen Lieder 
gibt SoboleTski/, „ Velikorosskija narodnyja pesni'*. Peterbg. 1895 — 1902. 

.2) Die erste Sammlang dieser alten Lieder stammt ans dem 18. Jahrh. ; sie wird 
Kirscha Daniloy zugeschrieben. (Speranskij, „K istorii sbomika pesen Kirsi Dani* 
loTa'* in Rnsskij Filolog. Vestnik, 191 1). Sie wurde zam erstenmal 1805 von Ja- 
kubowitsch schlecht herausgegeben, dann auf Veranlassung des Kanzlers Rumjanzov 
1 8 1 8 gut Ton Kalaidoyitsch: „ Drevnija rossijskija stichotTorenija ". Nachdem sind 
sie vielfach, kommentiert, herausgegeben worden: Izdan. Imper. Pnbliö. Bibliot. pod 
red. P. S. Seffera. Peterbg. 1901. — Vgl. auch Jagiö, »Die christlich-mjrthologische 
Schicht im rassischen Volksepos" (Archiv fär slav. Phil. 1875). — Wollner, „Unter- 
suchangen über die Volksepik der Grofirussen <<. Leipzig 1879. — A. V. Markov, 
„Iz istorii russk. bylevogo eposa.'^ Moskva 1905 i 1907. 

Bylinen ist nicht der ursprüngliche Name; man nannte sie zuerst Starina. 

Manche Forscher wollen die Einteilung in ältere und jüngere nicht. 

3) Vs. Milier, „K voprosy o vozraste i kazadestve Ilji Muromca" (Zurnal 
Minist. Narodn. ProsveSö. 191 2) — ebenda Vs. Miller, „K byline o boe Dji Mu- 
romca s Dobr]mej ". 

4) Die ursprüngliche Handschrift ist beim Brande Moskaus verloren gegangen. 
Erhalten ist nur eine schlechte Nachahmung, die ZadonSöina, ein Lied vom grofien 
Sieg über die Tataren am Don 1380. — Eine Abschrift mit Varianten, 1864 unter 
den Papieren Katharinas ü. gefunden, wurde herausgegeben von Pekarskij, „SIovo o 
polku IgorevS ". Peterbg. 1864. — Gut orientierende Volksausgaben: VI. Osolevec, 



*) Der Anhang soll hauptsächlich Fingerzeige zum Weiterarbeiten geben. Dazu 
dienen in erster Linie die kritischen Ausgaben der Dichter und Schriftsteller und die 
über sie sonst orientierenden Aufsätze. Dem Rahmen des Buches entsprechend be- 
schränke ich mich auf das AUernotwendigste ; so erwähne ich meist nur Aufsätze der 
letzten Jahre, aus denen man dann rückwärts gehend sich das Material selber be- 
schaffen kann. Die Ausgaben der modernen Schriftsteller habe ich fortgelassen, da 
sie ans jedem Bnchhändlerkatalog ersichtlich sind; mit Vorliebe sind sie bei A. F. 
Marks, M. O. Wolf, im TovariSöestvo „ Prosveäöenie <' verlegt. Viele sind ins Deutsche 
übersetzt. Die älteren haben neben den grofien kritischen Ausgaben auch billige 
Volksausgaben; dahingehören die Verläge „Drug", „Prometej'^, „ Posrednik '*, ,,Si' 
povnik<<, „ Universal'naja Biblioteka *', „Skol'naja Biblioteka^*' ; auch sind sie vielfach 
als Beigaben zu Zeitschriften erschienen, zur „Niva", zu „Ziz^ dlja vsech'* usw. 



Anmerkongen x 30 



,, Slovo o polka Igorere. Rukovodstvo dlja nöasöichsja ". Tekst, perevod, prime- 
<öanija, istor.-liter. V5rvody, slovai. Poltava 1910. — N. K. Gndzij, „Literatura 
SloTa o polkn Igoreve za poslednee dvadcatiletie *'. Feterbg. 19 14. 

5) A. N. Afanas'cT, „Narodnyja russkija legeody*'. Red. i predisloyie S. K. 
Sambinago. Moskva 19 14. — S. V. Savdenko, „Rasskaja narodnaja skazka. Istor. 
sobiranija i izncenija". Kiey 19 14. Daza Polivka im Archiv für slay. Phil. 1916. 

„Rassische Volksmärchen". Gesammelt yon Alexander N. Afanasjev. Dentsch 
von Anna Meyer. Wien 1906. Daza Polivka im Arch. für slav. Phil. 1906. — 
Jagiö, n^^ slavischen Mythologie*' im Archiv für slav. Phil. 1920. — Aagast 
von Löwis of Menar „Der Held im deatschen and rassischen Märchen *S Jena ' 
191 2. Daza Polivka im Arch. für slav. Phil. 19 16. 

6) K. Götz, „Geschichte der Slawenapostel Konstantinas (Kyrill) a. Metho- 
<lios*<. Qaellenmäßig antersacht a. dargestellt. Gotha 1897. — Snopek, „Kon- 
fitantinas-pyrillas a. Methodias, die Slawenapostel". Kremsier 1911. 

7) Über den Namen Kirchenslawisch herrscht keine Einigkeit. Zar Orientie- 
rang : „ Entstehangsgeschichte der kirchenslavischen Sprache **. Nene berichtigte a. 
erweiterte Aasgabe von V. Jagiö, Berlin 1913. — F. F. Fortanatov, „O proischoz- 
<ienii glagolicy'*. Peterbg. 19 13. — S. die Einleitang zar „ Altkirchenslavischen 
Grammatik" von Vondrak, Berlin 19 12. 

8) F. F. Fortanatov, „Sostav Ostromirova evangelija" in Sbornik statej v 
.^est VI. J. Lamanskago. Peterbg. 1908. Daza Diels im Arch. für slav. Phil. 191 1. — 
Leskien, „Handbach der altbulgarischen (altkirchenslavischen) Sprache. Grammatik. 
Texte." 4. Aafl. Weimar 1905, 

9) „Izbomik velikago kojazja Svjatoslava Jaroslavoviöa ". Izdanie Obscestva 
Ljabitelej drevnosti. Feterbg. 1880. — Jagiö „Slazebnyja minei za sentjabf, oktjabf 
i nojabf'^ Peterbg. 1886. — Bobrov, „K istorii izacenija Svjatoslavova sbornika 
1076 g." Kazan, 1901. 

10) Severjanov „ Sapraslskaja rakopis ". Feterbg. 1904. — Aach Miklosich, 
^, Monamenta palaeoslovenica e codice Soprasliensi ". Vindobonae 185 1. 

11) V. Fogorelov, „Gadovskaja Psaltyf XI v., otiyvok Tolkovanija Feodorita 
Kirrskago na Psaltyf v drevne-bolgarskom perevode *'. S prilozeniem dvych fotograf. 
snimkov. Izdan. Otdel. rassk. jazyka i sloves. Imper. Akad. Naak. Peterbg. 19 10. — 
T. Pogorelov, „Slovaf k tolkovanijam Feodorita Kirrskago". VarSava 1910. 

12) Mit den Kirchenvätern beschäftigt sich a^ch der „Paterik" des Kijewer 
Höhlenklosters; er erzählt von ihrem Leben and Treiben im Kloster. „Paterik Kiev- 
«kago Peöerskago monastyrja. Pamjatniki slavjano - rasskoj pis'mennosti ". Izdanie 
Imper. Archeograf. Kommissieju. Peterbg. 191 1. 

13) L a V r o V , „ Apokrifi^eskie teksty." Peterbg. 1 899. — Peretz, „ Materialy 
k istorii apokrif. i legendy". Peterbg. 1899 — 1901. — SaSickij, „Redakcii apo- 
krifa Syd carja Solomona". Varsava 19 14. 

14) Karamsin weist in seiner „Geschichte des rassischen Reiches" schon aaf 
ihn hin. (I, 284.) — Zam erstenmal hg. von Gorskij in „Prib. v tvor. svjatych otec." 
Bd. 2. 1844. — Izvestija Kazanskago Univers. 186$. 

15) Die Handschrift veröffentlichte zaerst Mi kl o sich, „Chronica Nestoris", 
Wien 1860. — „ Lavrentijskij Spisok." Izdanie Imper. Archeograf. Komm. Peterbg. 
1872. 

16) Zam erstenmal hg. a. ins Deatsche übersetzt von Schlözer, 1767. 

17) Golabinaja Kniga — wie za übersetzen? Man hat es aaf golab' = 
,,Taabe" zarückgeführt , weil das Bach vom heiligen Geist aasgegangen ist, dessen 
Symbol die Taabe ist Man hat aach an glabinaja = ,»tief" gedacht, weil es alle 



140 Anhamg 

tiefen Geheimnisse der Welt erschließt. — „Predstavlenie o ,more' ▼ golabinoj Knige 
(Aufsatz y. Mansikka im Zomal Minist Narodn. ProsveSc". 19 10). 

18) Vgl. zu dieser Periode noch : P. V. V l'a d i m i r o v , ,, Drevnjaja russkaja liter. 
KieYskago perioda XI — AUl vekov*'. Kiev 1900. — Dazn M. Speranskij im Arch. fur 
slav. Philologie 19 10. 

Zum dritten Kapitel 

19) SdegloY, „K istorii iza^enija soöinenij prep. Maksima Greka*' in Rossk. 
Filol. Vestnik 1911. — „Stoglay'^, licdanie D. E. Kozanöikova. Peterbg. 1863. 

20) „ Die Legende der heiligen Märtjnrer *' (Menäen) ist nicht allein eine Lebens- 
beschreibung dieser Leute, sondern, sozusagen, eine Enzyklopädie von der Bildung 
der damaligen Geistlichkeit. 

21) Das Wissenswerte in Brückner, „Ein Hausbuch ans dem 16. Jahrhun- 
dert'' in der „Deutschen Revue*', Petersburg 1864. 

22) „Knjazja A. M. Kurbskago istorija o velikom Knjaze MoskoTskom". Izdanie 
Imper. Archeograf. Kommissii. Peterbg. 191 3. 

23) Ein offenes Auge und ein freies Urteil fiber die Zustände zur Zeit Alexejs 
finden wir in dem als Geschichtsquelle wichtigen, erst 1838 in Upsala aufgefundenen 
(1859 von der KaiserL Russ. Archäograph. Kommission hg.) Buche Grigorij Ko- 
toschichins, „Über Rußland unter der Regierung Alexej Michailowitschs ^'. Nach 
Schweden ist dies Buch durch das sonderbare Geschick Kotoschichins gekommen. 
Wegen seines freimütigen Auftretens hatte er ans Rußland fliehen müssen. Glück hat 
er aber auch in Schweden nicht gehabt. Er erhielt zwar eine angesehene wissen- 
schaftliche Stellung in Stockholm, mufl aber wohl ein etwas sonderbarer Mensch ge- 
wesen sein; denn er liefi sich aus Eifersucht zum Mord hinreißen. Er wurde 1667 
hingerichtet. 

24) Hierhin gehören aus dem 16. u. 17. Jahrhundert besonders i) von den byzan- 
tinischen und südslawischen Erzählungen : Die Geschichte von Alexander — Der troja- 
nische Krieg — Leben und Taten des schönen Dewgenij — Sammlung indischer Mär- 
chen — Barlaam und Josaphat — Die Sendung des Presbyters Johann oder die Er- 
zählung vom reichen Indien — Der Richter Schemiak ; 2) von Erzählungen westlichen 
Ursprupgs: Gesta Romanorum — Der Große Spiegel 1667 — Das Schauspiel des 
menschlichen Lebens 1674, aus dem Deutschen übersetzt — Die Geschichte von den 
sieben Weisen — Der Königssohn Bowa, aus dem Italienischen — Die Geschichte 
vom Peter mit den goldenen Schlüsseln und seiner schönen Gemahlin Magelone, aus 
dem Französischen« 

Zum vierten Kapitel 

25) Awakum war der geistige Führer der Raskolniki (Altgläubigen), die in schärf- 
sten Gegensatz zu den Reformen Nikons, des Patriarchen von Moskau, traten („die 
Nikonianer"). 

26) Zur Erziehung wurde auch geschrieben „Anleitung, wie man Komplimente 
schreibt'^ (17^3)» zimi größten Teil aus dem Deutschen übersetzt; ferner „Der Ji^end 
Ehrenspiegel" 1719. 

27) Russkija Vedomosti. — Die Urform der R. Vedomosti („über Kriegs- u. 
andere Sachen") existierte schon am Ende des 17. Jahrhunderts unter dem Namen 
„Kuranty", nur zur Lektüre für den Zaren und seine Umgebung. Peter bestimmte 
dann „Die Russischen Nachrichten" fürs Publikum; die Leitung hatte die Akademie. 
Anfangs erschienen sie in der Kirchenschrift, dann erst in der „bürgerlichen". Die 
Akademie der Wissenschaften gab 1728 auch die „St. Petersburger Nachrichten" 



Anmerkungen jai 



heraas (mit einer Art wissenschaftlicher Beilage: histor. , geographische Aufsätze); 
ihr erster Redakteur war Müller (s. J 17). 

Bald nach Eröfihung der Moskauer Universität (1755) wurden |,Die Moskauer 
Nachrichten'^ herausgegeben, die eine Zeitlang, von 1779 ab, durch Nowikov sehr 
großes Ansehen erlangten. 

Die erste Privatzeituog war „Die Arbeitsbiene*', 1759 von Ssumarokor heraus- 
gegeben. Auch an dieser Var Müller Redakteur. Sie brachte hauptsächlich Ssuma- 
rokoTs eigene Arbeiten u. ging bald an dieser Einseitigkeit zugrunde. 

Das erste wissenschaftlich Uterarische Journal war „Monatliche Aufsätze, zum 
Nutzen und zur Erholung dienend '', gleichfalls von Müller 1755 — 1764 herausgegeben. 

Mit Karamsin werden Zeitungen u. Zeitschriften allgemeiner. Bald nach seiner 
Rückkehr von der großen Reise gibt er „Das Moskauer Journal'' heraus, das auch 
seine „Briefe^' bringt. Außer dem „Moskauer Journal" mit literarischem Inhalt 
gründet er den auch Politik umfassenden „Boten Europas"; der „Bote" brachte 
viel westliche Literatur. Ferner gründete er „Die Aglaja", „ Die Aonid3rj ^', „Das 
Pantheon ". 

Bedeutenden Ruf genoß der 1808 von Glinka herausgegebene nationalistische 
„Russische Bote", der besonders scharf gegen Napoleon Stellung nahm. 

In der Folgezeit heben sich heraus: „Der Beobachter im Norden"; Krylovs 
„Geisterpost", sein „Beobachter", sein „Petersburger Merkur"; „Der Sohn des 
Vaterlands ^S »I^ic Nordische. Post". Eine Flut von Zeitschriften erzeugte die Ro- 
mantik, eine Flut, die sich immer mehr gesteigert hat. Auf die wichtigsten ist vorn 
an geeigneter Stelle hingewiesen. 

Die wichtigsten Zeitschriften unmittelbar vor unserm Kriege waren: „Vestnik 
Evropy", „Russkaja Mysl'", „Russkoe Bogatstvo", — die wichtigsten Zeitungen: 
„Novoe Vremja", „Russkoe Znamja", „Sv^t", „Russkoe Slovo", „R§d'". 

28) Pekarskij, „Nauka i literatura pri Petre Velikom". (Vvedenie v istoriju 
prosve^öenija v Rossii XVIII stolelija). Peterbg. 1862. 

Zum fünften Kapitel 

29) £. Friedrichs, „Shakespeare in Rußland" in Englische Studien 19 16. 

30) V. J. Rezanov, „Famjatniki russkoj dramatiÖeskoj liter. bkol'nyja dÖjstva 
XVn-— XVni w." NSzin 1903. — V. J. Rezanov, „Iz istorii russkoj dramy. 
äkol'nyja dejstva XVn — XVm w.'^ Moskva 1910. — S. K. Bogojavlenskij , 
„Moskovskij teatr pri carjach Aleksee i Petre." Moskva 19 14. 

31) E. Friedrichs, „Shakespeare in Rußland" in Englische Studien, 1916. 

Zum sechsten Kapitel 

32) „ Soöinenija M. V. Lomonosova s oBjasniternymi primeÖanijami . . M. L. 
Suchomlinova." Izdanie Imp. Akad. Nauk. Peterbg. 1891. — „ Lomonosovskij Sbor- 
nik." Izdanie Imp. Akad. Nauk. Peterbg. 191 1. — „Lomonosovskij Sbornik". 
Sostavlen pod red. N. A. Golubcova. (Archangel'skij gubernskij statistiöeskij Komitet.) 
Archangel'sk 1911. — Sipovskij, „Liter, dejatelnost' Lomonosova" in Zumal Minist. 
Narod. ProsvSäö. 191 1. 

33) Sobolevskij, „Lomonosov v istorii russkago jazyka" in Zurnal Minist. 
Narod. Prosvg§ö> 1912. — Karski j, „Znaöenie Lomonosova v razvitii russkago 
liter. jazyka" in Russk. Filol. Vgstnik 191 2. 

34) Rezanov, „Tragedii Lomonosova" in „Lomonosovskij Sbornik". Izdanie 
Imp. Akad. Nauk. Peterbg. 191 1. — MoÖnTskij, „Lomonosov kak dramaturg" 
in Russk. Filol. Vestnik. 191 1. 



-^ 



142 Anhang 

35) T. M. Glagoleva, ,,K literatore istorii satir knjazja A. D« Kantemira. 
Vlijanie Boilean i Labruyfere". Peterbg. 191 3. 

Zum siebenten Kapitel 

36) ,, Sodinenija Imperatricy £kateriny ü*' na osnovanii podlinnycb rnkopisej i 
s ob'jasnitel'pymi primecanijami akademika A. N. Fypina. Peterbg. 1900. 

„ Memoiren der Kaiserin Katharina ü." Nach den von der Kaiserl. mss. Akad. 
der Wissenschaften veröffentlichten Manuskripten übers, und hg. yon Erich Boehme. 
Leipzig 1913. 

37) E. Friedrichs, „Shakespeare in Rnfiland** in den Englischen Stadien 
1916. 

Zum achten Kapitel 

38) £. Friedrichs, „Geschichte der einstigen Manrerei in Rufiland/' Berlin 
1904. 

39) Freimaurer nicht in dem strengen Sinn; er war Rosenkreuzer. 

40) Nowikov ist der Vater der rassischen Literaturgeschichte. Über einzelne 
Zweige der Literatur haben auch andere, z. B. Djershawin (über die l3n*ische Poesie) 
Betrachtungen angestellt. Graf Massin-Puschkin hat eine Zusammenstellung der alten 
Handschriften u. gedruckten Bücher gegeben ; diese Sammlung wurde jedoch beim 
Moskauer Brand vernichtet. Die literarische Tätigkeit von Anfang des Buchdrucks 
bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts behandelte Bischof Damaskin in seiner „Ras- 
sischen Bibliothek". Nowikov brachte zum erstenmal in seinem „Dramatischen 
Wörterbuch" (1787) die russische Literatur des 18. Jahrhunderts mit biographischen 
Daten. 

41) „Polnoe sobranie socineoij A. N. RadiSceva". Pod red. S. N. Grojniskago. 
Peterbg. 1907. — Suchomlinov, „Izsledovanija i stati po rnsskoj liter. i pro- 
sveSceniju". Peterbg. 1889. 

42) Radischtschev n. Schtscherbatov sind^ zusammen hg. von Iskander (Herzen) : 
„O povrezdenii nravov v Rossii knjazja M. Sderbatova i pnteSestvii A. Radiäöeva". 
London 1858. 

43) „ So^inenija Derzavina " s ob'jasniteVnymi primecanijami Ja. Grota. Peterbg. 
1864 ff. »y Socinenija Derzavina" s ob'jasnitel'nymi primecanijami. Peterbg. 1895 (Mertc). 

44) In Djershawins Gedicht „Das Haus der Dobrada" sind die Verse „Wachse, 
wachse, blühender Baum Mit der goldenen Früchtekrone, Den wir aus der fremden 
Zone Pflanzen in dem heimischen Raum ", eine Übersetzung aus dem Deutschen, und 
Grot stellt sie als eine Nacharbeitung von Ramlers „Fest des Daphnis" hin; sie sind 
der Anfang von Schillers lyrischem Spiel „Huldigung der Künste". 

45) E. Friedrichs, „Ein imbeachteter Herodes-Dichter. Djershawin." in den 
Neueren Sprachen, 1916. 

46) Kotzebue hat bald nach dem Erscheinen Djershawin übersetzt. „ Gedichte. 
Aus dem Russischen übertragen." Leipzig 1793. — „Felizens Bild", Reval 1792. 

Zum neunten Kapitel 

47) M .N. Rosanov, „Jakob M. R. Lenz, der Dichter der Sturm- u. Drang- 
periode '^ Leipzig 1909 (Übersetzung aus dem Russischen). 

48) Pisma russkago putegestvennika ", Moskva 1797 — 1801 wurden sofort ins 
Deutsche übersetzt von Joh. Richter, Leipzig 1799 — 1802. — Sipovskij „Karamsin 



Anmerkungen 143- 



a¥tor pisem r. puteS/* (Zapiski istoriko-filol. fakulteta Feterb. Universiteta) Peterbg. 
1899. 

49) Friedrich Hirth in der N. Zürcher Zeitung. 19 19. Nr. 431. — Huga 
Handwerck in der Frankfurter Zeitung 19 19. 218. 

50) Mit Karamsins „Geschichte" beginnt eigentlich die Slawophilie. Gegen 
sie nahm die „skeptische*^ Schule unter Leitung des Moskauer Universitäts- 
professors Katschenowskij Stellung (Katschenowskij war von 1805 ab auch Heraus- 
geber des „Europäischen Boten*'), unterstützt vom Grafen Rumjanzov und von 
N. A. Polevoj (letzterer schrieb zu diesem Zweck seine „ Geschichte des russischen 
Volkes << 1828 — 1833)^ mit starker Hinneigung zu den Deutschen. „Die Zivilisation 
ist hauptsächlich durch die Deutschen über Nowgorod, Pskov u. Ssmolensk gekommen '^ 
Hiermit kommt zugleich in Fluß die bis dahin von nur sehr wenigen gemachte Beob- 
achtung von der Verwandtschaft der Russen mit den Slawen und von der Verwandt- 
schaft der Slawen mit den anderen europäischen Völkern. Sehr Bedeutendes hat auf 
diesem Gebiete der Professor der slawischen Philologie Schafarik geleistet (er war 
auf deutscher Universität vorgebildet, hat gut „Maria Stuart'* übersetzt; -j* 1861 in 
Prag). Angeschnitten war die Frage von der Zusammengehörigkeit der slawischen 
Stämme schon wiederholt vorher — zuerst vom Kroaten Krishanitsch (geb. 161 7, 
t P), der vor allem die Vereinigung der Slawen zum Kampfe gegen die Türken will; 
dann von Peter dem Grofien, auf dessen Veranlassung Leibniz seine Schrift „Ober 
den Ursprung der Slawen" verfaßt hat, auch von Katharina II. Aber richtig aktuell 
wurde die Behandlung der Frage erst nach Karamsins Werk. 

Zum zehnten Kapitel 

51) V. V. Sipovskij, „Iz istorii russkago romana i povesti". (Materialy po 
bibliogrsifii, istorii i teorii russkago romana>. Peterbg. 1903. — V. V. Sipovskij,. 
„Oderki iz istorii russkago romana". T. L 1909; T. IL 19 10. Peterbg. — A. N. 
Pypin, „Dlja Ijubitelej kniznoj stariny**. Moskva 1888. ^— Pekarskij, „Nauka i 
literatura v Rossii pri Petre Velikom". Peterbg. 1862. 

52) „Die arme Lisa'* u. „Marfa^' sind bei Reclam erschienen. 

53) „Polnoe sobranie soöinenijKrylova". Ped. V. V. Kallasa. Peterbg. 1904/5. 
Die Fabeln dind häufiger ins Deutsche übers., u. a. von Ferd. Löwe. Leipzig 

1874. 

Zum elften Kapitel 

54) Zamotin, „ Romantiöeskij idealism v russkom obS^estvS i liter. 20 — 30 cb 
godovXDCst'^ Peterbg. 1908. — Zamotin, „Romantism dvadcatych godov XIX st. 
v russk. liter.«* Vtoroe izd. Peterbg. i Moskva. T. L 191 1; T. II. 19 13. — Vese- 
lovskij, „Zapadnoe vlijanie v novoj russkoj liter." Öetvert. dopoln. izd. Moskva 
1910. 

55) Kozmin, „N. J. Nadezdin. Zizn i nauöno-literat. dejaternost* ". Peterbg. 
1912. ^ 

56) De origine, natura et fatis poeseos, quae Romantica audit. 1830. 

57) „Polnoe sobranie soöinenij V. A. Zukovskago ". Pod red. Archangelskago. 
Peterbg. 1902 ff. — „Polnoe sobranie soöinenij". Pod red. P. H. Krasnova. Peterbg. 
i Moskva 1909. — V. J. Rgzanov, „Iz razyskanij o sodinenijach V. A. Zukovskago'^ 
in Zumal Minist. Narod. Prosv^ö. I9I3- 

58) Durch alle russ. Literaturgeschichten geht der Fehler, daß Seidlitz genannt 
wird; es ist Zedlitz' „Nächtliche Heerschau" gemeint. 



144 Anhang 

59) Er hiefi eigentlich nicht Shokowskij. Der Gutsbesitzer Shakowskij (im Gout. 
Tola) heiratete eine türkische Kriegsgefangene und adoptierte ihr Kind. 

60) Übersetzt von seinem Freund Justinus Kemer, Stuttgart 1852. 

61) P. N. Sakulin, „Iz istorii russkago idealisma. KnjajS Odoevskij^^ Moskva 
1913. 

Zum zwölften Kapitel 

62) Kotljarevskij, „ Literatumyja napraylenija Aleksandrovskoj epochi*^ 
Biblioteka „Svgtoßa". Peterbg. 1907. 

63) Seit Anfang des Jahrhunderts bilden sich Gesellschaften, offizielle wie 
private, zur Pflege der Sprache und der Literatur. Den Reigen eröffnet die „Russische 
Akademie'', deren größtes Verdienst das erste „Wörterbuch der russischen Sprache" 
ist. Der Hauptanteil an diesem Werk fallt auf ihren Vorsitzenden, den äußerst tätigen, 
aber stark einseitigen Admiral Schischkov. Schiscbkov war auch der Vorsitzende der 
„Gesellschaft (Bes^a) der Liebhaber des russischen Worts*' (1811 — 18 16); diese 
Gesellschaft war halbofflziell. Die erste private Literaturgesellschaft war die 1801 
^egrilndete „Freie Gesellschaft der Liebhaber der russischen Literatur''. Sie 
gab die Zeitschrift „ Sorevsovatel' ^' heraus, hatte auch gemeinnützige Ziele ^m 
Auge, z. B. die Unterstützung armer Gelehrter. Mit Betonung' ihres Gegensatzes 
zur „Russischen Akademie" wurde 18 10 von der Moskauer Universität „Die Gesell- 
schaft der Liebhaber der russischen Literatur " gegründet, und mit demselben Ziel bil- 
dete sich 181 5 der Spaßvogel, der „Arsamaß". Von nun ab erscheinen literar. Gesell- 
schaften häufig. 

Zum dreizehnten Kapitel 

64) Die Literatur über Puschkin ist ins Ungeheure gewachsen. Wichtiges: 
„ Sodinenija Puskina", izdanie Imp. Akad. Nauk pod red. Saimova. Peterbg. 1906 ff. — 
„Pu§Kinist". Istoriko-liter. sbomik pod red. A. S. Vengerova. Peterbg. 19 14. —r 
„Russkaja kritiieskaja literatura o proizvedenijach A. S. Puäkina". Sobral V. Ze- 
linskij. Moskva 1911. — Lerner, „Trudy i dni Pugkina'^ Vtor,, ispravl. izd. 
Imp. Akad. Nauk. Peterbg. 19 10. — V. V. Sipovskij, „Puäkinskaja jubilejnaja 
liter." Kritiko-bibliograf. obzor. Peterbg. 1901 (bringt auf 272 Seiten alles bis 1901 
über ihn Geschriebene, außer dem, was in Tagesblättem u. Wochenschriften gestan- 
den hatte). 

65) N. KaSin, „Prijatel' Puskina (Prototip Onegina)" in Russk. FUol. Vestnik 
1914. 

66) M. Pokrowskij, „Puschkin u. Shakespeare", Berlin 1907. 

67) Puschkins Werke sind häufiger ins Deutsche übersetzt. Manches ist bei 
Reclam erschienen. Einige Dichtungen kamen schon 1840 heraus. Unter den Über- 
setzungen ragt die von Fr. Bodenstedt „Poetische Werke", Berlin 1854/55 hervor. 

68) „ Zapres$enn3^*a stichotvorenija PuSkina i Lermontova" sind erschienen 
Berlin 1903 (Steinitz). 

Zum vierzehnten Kapitel 

69) „Polnoe sobranie soÖinenij M. Ju. Lermontova" pod red. D. J. Abramoviöa. 
Izd. razrjada izjaSönoj slovesn. Imper. Akad. Nauk. (Akademiöeskaja biblioteka r. 
pisatelej). Peterbg. 1910 — 1913. — L. Semenov, „Lermontov i Lev Tolstoj". K 
«tol^tiju so doja rozdenija Lermontova. Moskva 191 4. — Duchesne „M. J. Ler- 
montov, sa vie et ses oeuvres", Paris 19 10. 



Anmerkangen 



145 



70) Lermontovs „ Korsar'' verrät weniger Bjrons „Korsar'* als yielmehr den 
„Gefangenen Ton Chillon**, s. E. Friedrichs^ „Lermontov n. Byron'* in Germa- 
nisch-Romanbcher Monatsschrift 1915* 

71) „Lermontoir n. Byron'* in •Germanisch -Romanischer Monatsschrift 191 5 
(s. Anm. 70). 

72) B. Friedrichs, „Ein rassischer Dichter als .Schüler n. Herold deutscher 
Dichtung** in Breslauer Ztg., 2. Oktober 1914. 

73) F r. B o d e n s t e d t , „ Poetischer Nachlafl Lermontovs **, Berlin 1853. Manches 
ist bei Redam erschienen. 

74) Lermontovs „Verbotene Gedichte** s. Anm. 68. 



Zum fünfzehnten Kapitel 

75) „PnSkin i ego sovremenniki**. Materialy i izsl^dovanija. Povrem. izd. 
komissii dlja izd. soöinen. Pnäkina pri Otdel. mssk. jazyka i slovesn. Imper. Akad. 
Naak. Peterbg. 1 908 ff. — Es gehört noch mancher andere hierher :S. N. Brailovskij, 
„K voprosy o PoSkinskoj plejadg: Arkadij Gavriloviö Rodzjanko** (1793 — 1850) in 
Rassk. Filol. Vöstnik 19 14. — S. N. Brailovskij, „K voprosy o PoSkinskoj plejadS: 
Orest M. Somov** in V^stnik Evropy 1909. 

7(t) „Polnoe sobranie soSinenij A. S. Griboedova.** Pod red. N. K. Piksanova 
i J. A. äljapkina. Izd. razr. izjaSön. slovesn. Imper. Akad. Nank, Peterbg. 191 1 ff. 

77) „Gore ot nma. Komedija**. Teksty zandrovskoj rnkopisL Red., wedenie 
i primiÖanija N. K. Piksanova. Moskva 191 2. — Die erste deutsche Übersetzung 
von Ktaorring, Reval 1831. 

78) „Polnoe sobranie so^nenij A. V. KoFcova.** Pod red. LjaSöenka. Iz razr. 
izjaSön. slovesn. Imper. Akad. Nauk. (Akademiieskaja biblioteka russk. pisatelej.) 
Peterbg. 191 1. — „ A. V. Kol'cov, ego zizö i soiin.** Sbomik istor.-liter. statej. Sostavil 
V. J. Pokrovskij. Moskva 1914. — P. Schalfejew, „Die volkstümliche Dichtung 
Kolzovs n. die rusa, Volkslyrik**- Berlin 19 10. — Übersetzung seiner Gedichte bei 
Reclam. 

Zum sechzehnten Kapitel 

79) „Polnoe sobranie soöin. N. V. Gogolja.** Pod red. P. V. Bykova. Peterbg. 
i Moskva 1908. — Zabolotovskij, „ Gogolevskij mnzej pri Istor.-filolog. Institute 
kn. Bezborodko v Nö2in5. Nezin 191 2. — Zelinskij, „Russk. kritiö. liter. o 
proizvedenijach N. V. Gogolja.** Chronologiöeskij sbornik kritik.-bibliograf. statej. 
Moskva 1903 — 1910. — KallaS, „Gogol' v vospominanijach sovremennikov i pere- 
piske.** Moskva 1909.. — V. F. Pereverzev, „Tvoröestvo Gogolja**, Moskva 
191 4. — Die meisten seiner Werke sind mehrfach ins Deutsche übersetzt; s. vor 
aUen „Nik. Gogol. Sämtliche Werke**. In 8 Bänden hg. von Otto Buek. München 
u. Leipzig 1909. 

80) Gogol hat in der Beschreibung von Klein-Rufiland nicht unbedeutende Vor- 
gänger. Als Schöpfer der kleinrussischen Nationalliteratnr istKotlarewskij (1769 
zu Poltawa geb. n. dort 1838 f) anzusehen. Sein bedeutendstes Werk ist eine hu- 
morsprühende Travestie von Vergils „Äneis** (1798), mit der er die heruntergekom- 
menen Kasaken durch schonungslose Züchtigung ihrer Iboralischen Fehler wieder zum 
alten Heldentum aufrütteln wollte. Auch andere Dichtungen, z. B. sein dramatisches 
Sittenbild „Natalie von Poltawa** (18 19) zeigen recht hübsch kleinmssische Sitten n. 
Eigenheiten. Ebenso schildert Nareshnyj im Roman wahrheitsgetreu u. mit Humor 



Friedrichs, Russische Litentorfeschichte 



10 



I « 



146 Anhang 

die Ukraine, das Land sowohl wie die Bewohner, besonders die alten Edelleate, dann 
aber ancfa die Banem mit ihrer Streit- n. Proseflsncht („Die beiden Iwans", 182$), 
n. ausgezeichnet das Leben n. Treiben in der Bnrssa, d. h. im Priesterseminar („Der 
Biirssak'% 1834). Sein bestes, sehr satirisches Bach „Der mssische Gil Blas'^ (1814) 
kam ganz überhaupt nicht an die Öffentlichkeit; die erste Hälfte wurde verboten, q, 
damit war die zweite auch erledigt. 

81) Jagitsch, „Gogols Sajet für den Rerisor*' im Archiv für slav. Phil» 
1914. 

82) Fypin, „Die Bedeatnng Gogols für die heutige Stellung in der russ. Li* 
teratur'*. Archiv für slav. PhiloL 1903. 

83) „Polnoe sobr. so6. V. G. BSinskago*^ Pod ped. Vengerova. Peterbg. 
iQioff. — „B$linskij. Pls'ma*^ Tri toma. Red. E. A. Ljackago. Peterbg. 1914. — 
Kogan, „Bölinskij i ego vremja'^, Moskva 191 1. 

84) „SoÜnenija P. N. Polevogo" pod red. P. V. Bykova. Peterbg. 191 3. 

85) „Soöinenija A. J. Gercena" v 7 tomach. Izd. Jakovenko. Peterbg. 1905. — 
„Gercen pisatel'**. Ocerki A. Veselovskago. Moskva 1909. — „Gercen pnblicist^'. 
Izbr. stranicy so vstupitel'noj statej i ob'jasnenijami L. S. Kozlovskagp. Peterbg. 19 14. 

86) „Rannie slavjanofilj A. S. Chomjakov, J. B. Kireevskij, K. S. i J. S. Ak* 
sakovy.^ Sostavil N. L. Brodski j. (Istor.-liter. bibliot. Pod red. A. E. Gmsinskago). 
Moskva 19 10. 

Zum siebzehnten Kapitel 

88) „Polnoe sobr. soc. J. S. Tnrgeneva<< v 12 tomach. Peterbg. 1898 (Pri* 
lozenie k inmaln „Niva''). Alle Werke sind ins Deutsche übersetzt, die meisten 
auch bei Reclam erschienen. 

89) Danilov, „K pjatidesjatilStiju Otcov i dgtej^^ in Rnssk. Filol. V^stnik 19 12. 

90) Im Nacfalafl von Frau Viardot hat sich das Manuskript eines nnveröfient« 
lichten Romans von Turgenjev „Das Leben für die Kunst'' gefunden; auch noch „Ge- 
dichte in Prosa*^ (Lit Echo 1920^ Heft 17.) 

91) „Pisma J. S. Tnrgeneva k ego nemeckim druzjam" in V^stnik Evropy. 1909. 

92) „Gon$arov. Polnoe sobr. soÖ." Izd. Glazunova. 3-e izd. Peterbg. 1899. — 
„Polnoe sobr. solS.** v 12 tomach. Izd. Marksa. Peterbg. 1899. — Andr^ Mazon, 
„Un maltre du roman russe J. Gontscharov." Paris 1914. — „Iwan Gontscharow. 
Gesammelte Werke". Berlin 1909 (Cassirer). 

Zum achtzehnten Kapitel 

93) Zamotin, „Sorokovye i Sestidesjatye gody*'. Oierki po istorii russk. 
liter. XIX st. Varsava 191 1. 

94) „Polnoe sobr. soö. M. E. Saltykova (S^edrina)«. T. I — XH. Peterbg. 
1900 — 1911 (Marks). *— Die Hauptwerke sind deutsch, u. auch russisch, bei Steinitz, 
Berlin erschienen. 

95) Neu aufgefunden im Archiv durch M. M. Stasjuleviö, „Neizdannyja 
proizvedenija M. E. Saltykova* in Vestnik Evropy 19 14 (TcxUbweichungen zu Gos- 
poda TaSkeotcy). 

96) „Polnoe sobr. sof. N. G. Ccrnyäcvskago " v 10 tomach. Izd. M. N. Öer^ 
nysevskago. Peterbg. 1906* — Plechanov, „N. G. ÖernySevskij ", Peterbg. 1910. 



Anmerkangen ja*? 



97) „Poln. sobr. stichotvorenij N. A. Nekrasora'^ v 2 tomach. Peterbg. 1909 
(Savorin). 

d8) Seine „ Gedichte << a. „Wer lebt glücklich?" deutsch bei Reclam. 

99) yyPoln. sobr. soö. J. S. Nikitina ^* pod red. M. O. Geräenzona. Moskra 

100} N. V. Driceq, „Materialy k istorii nuskago teatra", Moskva 191 3. — 

E. P. Ton Berg, „Rnsskaja komedija do pojavlenija A. N. OstrOTskago *< in Rnask. 
Filol. V^stnik 1911 a. 1912. — J. Patonillet, „Le tb^Atre de moenrs rnsses des 
origines a Ostrowskij", Paris 191 2. 

101) „Tolnoe aobr. soö. A. N. Ostrovskago " pod red. M. J. Pisareya 1 P. J. 
Vejnberga. T. I—XlI. Peterbg 1908— 1909. — N. KaSin, „Etjudy ob Ostiov- 
skom'*, Moskva 1912. — N. Kagin, „ Dramatideskaja chronika OstroTskago ** in 
Zurnal Minist. Narod. ProsvöSd. 19 10 (behandelt seine Quellen). 

102) N. KaSin, „Vasilisa Melenteva". Eja istoöniki i ocSnka sovr. kritikoj in 
Zarnal Minist. Narod. Prosvgfiö. 19 13. 

103) Deutsch von Gaenther, Berlin 191 1. 

104) „Pol. sobr. soö. grafa A. K. Tolstogo". T. I— IV. Peterbg. 1893 (Stas- 
joleviö). — Seine. Gedichte, Zar Feodor, Tod Iwans sind ins Deutsche übers., auch 
bei Reclam erschienen. 

Zum neunzehnten Kapitel 

105) „Poln. sobr. soö. F. M. Dostoevskago«'. Peterbg. 1894— 1895 (Pnlo^enie 
k znmaln „Niva<^). — V. A. Zelinskij, „ Kritiöeskij kommentarij k soöinenijam 

F. M. Dostoevskago "» Sbornik krit. statej. Moskva 1907. — L. SestOY, „ Dostoevsldj i 
Nietsche. Filosofija tragedii<<. Izd. vtoroe. Peterbg. 1909. — J. J. Zamjatin, 
„Dostoevskij y russk. kritike'*. Varsava 191 3. — Fast aUe Werke sind ins Deutsche 
übers., auch bei Reclam erschienen. 



Zum zwanzigsten Kapitel 

106) Nur Einzelausgaben. — V. A. Zelinskij, „Russk. kritiö. liter. o prois- 
vedenijach L. N Tolstogo". Chronologiöeskij sbornik krit.*bibliogr. statej. Moskva 
191 2. — „Tolstovskij Muzej'^ Perepiska s gr. A. A. Tobtoj, s N. N. Strachovym. 
Peterbg. 191 1. — „Tolstovskij ezegodnik'*, Peterbg. 191 3 ff. — „ Posmet tnyja chn- 
dozestvennyja proizvedenija^', Berlin (Ladyscknikov). — Karl NÖtzel, „Tolstojs 
Meisterjahre''. München, Leipzig 191 8. — KarlNötzel, „Das heutige Rufiland". 
Eine Einführung in das heutige Rufiland an der Hand von Tolstojs Leben und Werken. 
München, Leipzig 1914. — H. Halm, „Wechselbeziehungen zwischen L. N. Tolstoj 
u. der deutschen Literatur'* im Archiv für slav. Phil. 19 14. — Fast alle Schriften 
sind ins Deutsche übersetzt. „ Sämtliche Werke *' hg. von Raphael Löwenfeld, Leipzig 
(Diederichs). — Eine Tolstoj-Enzyklopädie (russ.) in ungefähr 20 Bänden wurde be- 
absichtigt. 

Zum einundzwanzigsten Kapitel 

107) Klimentov, „Romantism i dekadenstvo ". Odessa 1914. 

108) Tasteven, „Faturism", Moskva 1914. — SemSnrin, „Fnturism v 
Stichach V. Brjusova". Moskva 191 3. 

10* 



148 Anhang 



Zum Studium: 

„ Die ostearopäischen Literaturen u. die slaviscfaen Sprachen ", hg. Ton A. Bes- 
zenberger, A. Brückner, Y. ▼. Jagiö usw. Berlin, Leipzig 1908 (in „Knltar der 
Gegenwart*', Teil I, Abteiig. IX). 

Vondrak, „AUkirchenslaTische Grammatik*'. Berlin 1912. — Leskten, 
„Handbuch der altbnlgarischen (altkirchenslaTischen) Sprache". Grammatik. Texte. 
Weimar 1905. 

Friedrichs „Kurzgefaßte systematische Grammatik der russischen Sprache für 
den Schulunterricht n. zum Selbststudium*'. Berlin 1914. — Dazu „Übungsbuch zum 
Obersetzen ins Russische". Berlin 19 19. — Zur Konversation: Friedrichs, „Rus- 
sischer Sprachliihrer. Kurzer Lehrgang der Umgangs- u. Geschäftssprache". Leipzig 
1920. 

Brückner, „Geschichte der russischen Literatur". Leipzig ^909. — Oysja- 
niko-KulikoTskij, ^,Istorija russk. liter. XDC y." Moskwa I9«9ff. (5 Bände). 

Lenström,,, Russisch-deutsches n. deutsch-russ. Wörterbuch **, Sondershausen. — 
Pawlowskij, „Russisch-deutsdies n. deutsch-russ. Wörterbuch". Leipzig 191 8. — 
Langenscheidts Taschenwörterbücher: „Russisch" von Karl Blattner. Berlin 19 10. — 
„TolkoTyj sloTaf zivogo Telikorusskago jazyka VI. Dalja. Trete izd. pod red. J. A. 
Boduena-de-Kurtene. Peterbg. i Moskva 1903 — 1904 (4 Bände). — „Slovaf russk. 
jazyka" sostav. Vtorym OtdgL Imp. Akad. Nauk. Peterbg. i89ifif. 

Konversationslexikon: Brockhans-Efron, 191 2 ff. 



Verzeiclmis der literarischen Persönlichkeiten 



AblessimoT 51 

Ackermann 35 

Adrian 18 

Alsman 136 

Alcssäkov(s) sr. 80—81 

Albov 119 

Alfieri 95 

^ndr^jev 129. 130 

AonjeQkoT 99 

Apüchtin 124 

Archenholz 47 

Ariost 61 

(Arsamlss 60. 62. 70. 144) 

Anjbischew 134. 135 

Awdj^jer 102 

Awjirkijer 106 

Ayrer 22, 23 

BacmeUter 33 
Bakdoin 78. 79 
Bilmont 126. 132 
Balzac 55. 100. 109 
Baranz^ witsch 119 
Baratj^nskij 70. 72 
Basedow 33. 34 
Bitjoschkov 70 
Bayer 26. 31. 33 
Bcccaria 34 
Besser 42 

Bjel1nskij57.73.76.77— 78. 

89. 91. 94. 99. 109 
Bjelyj 133 

Bje8Hishev(MarliDskij) 57. 58 
Blanc, Louis 126 
Bobor^fkin 125 
Bodenstedt 70. 84 
Bodmer 46 
Bogdanöwitsch 38 
Boileaa 3t. 32 
Brann 26 
Breitiager 3$ 
BijüssoY 132. 133 



Bohle 71 

Balgärin 77. 78 

Btfnin 136 

Bürger 56. 57 

Bnrj^nin 125. 134 

Byron 54. 55. 57. 58. 60. 

62. 63. 64. 66. 67. 68. 

70. 73. 91. 95. 108 

Canitz 42 
Carlyle 100 
Chamisso 73 
Chemnizer 36. 38 — 40 
Ch^nier 55. 63 
Chjerässkov 37. 38. 49 
ChiDJelnfzkij 71 
ChomjakÖT 80 
Chwoschtschlnskaja 100. 103 
Coleridge 55 

Corneille, P. 25. 46. 52. 109 
Corneille, Th. 33 
Crailsheim 23 

Danil^wskij 105 

Dante 107 

Däschkowa 36. 37. 39. 40. 

41. 103 
Daudet 84 
Daw^do¥ 73. 77 
D61wig 70. 72 
Dickens 74. 92 
Diderot 32. 33 
Djershäwin 35. 36. 40 — 44. 

51. 60 
Dmftrijev 39. 51 
Dmitrijewa 135 
Dobroljübov 89. 90 
(Domoströj 15. 102) 
Dostojewski] 74. 78. 85. 

87. 91. 109-111. 126. 

130 
Dmshinin 85. 09—100. 102 



Dncis 52 
D^moT 135 

Em£n 43. 49. 50 
Ertel 123 
Eschenbnrg 33 
Euler 26. 33. 36 

F^nelon 41. 49 

Fet 107. 108 

Fichte 77. 78. 79 

Flanbert 84 

FöfanOT 131 

Fonwfsin 9^ 45 

Friebe 33 

Friedrich der Grode 34. 39. 

41 
Fmg 124 

Fürst 24 

Gadebnsch 33 

Garcia-Viardot 83 

Gärin 136 

Gärschin 118 

Geliert 25. 38. 39. 40. 4«. 

43 44. 45. 49. 53 
Gerbel 108 

Gerhard 33 

Gessner 42. 46. 49 

Glinka 73 

GnjddiUch 51. 52. 71 

Goethe 40. 43. 44.46. 47. 

49.50. 51. 54.55.56.58. 
63. 64. 66. 67. 68. 70. 

71. 72. 73. 74. 80. 104. 

107. 108. 109. 126 
G6gol 74—70. 78. 81. 83. 

85. 87. 89. 96. 99. 126 
Goldsmith 57 

Golenischtscbev-KnttisoT 125 
Golizyn 120 
Golowin 102 



ISO 



Verzeichnis der literaritchen Persönlichkeiten 



(aoncourt 84 

GontscharöT 78. 81. 8S— S6. 

89 los. 116 
Görldj 64. 74.92. 127—128. 

129. 132 
Gottsched 24. 25. 27. 28. 

«9. 30. 45 
Gregori 22. 23 

Gretsch 77. 79 
Grey 56 

Griboj^ov 70. 71 
Grigörfer loo 
Grigoröwiuch 91. 116 
Grimm 32. 33 
Grotios 20 
Grjphiiis 23 
Gttnther 28. 29 
Güssjev 121 
Gutzkow 108 

Hsgedom 40. 41. 42. 43 

HaUer 40. 41. 42. 46. 49 

Hauptmann 125 

Hebbel 95 

Hegel 77. 78. 79. 126 

Heine 95. 107. 108. 109 

Heinse 47 

Herder 39. 41. 43. 46. 49. 

55. 56. 74 
Herwegh 95 

Herzen 77.78—79. 95. 102. 

HO. 

Heyse 84 

Hilferding 2$ 

Hippins 135 

Hoflfmann, E. T. A. 54. 55. 

74. 109 
Holberg 25 

Hnch 55 

Hogo 54. 55, 58. 71. 109. 

III 

Haygens 20 

lassfoskij 119 
las^koT 70. 7s. 80 
lawörskij 21 
Ibsen 85 
lelpatj^wskij 121 
Iffland 47 
(Igor 6) 
(Isbörniki 9) 
Iskänder s. Herzen 
Jang-Stüling 36 



Itfschkjewitsch 136 
Iwibi IV. 15. 31 

Kant 46. 60. 79 
Kantjem(r 31—32. 39. 43 
Kapofst 37 

Karamsin 28. 31. 35. 37. 
40, 41. 44-50. 51. 52. 
. 53. 57. 65. 80 
Kar^tygin 96 
Katjenfü 71 

Katharinall. 32. 33. 41. 103 
KatkÖT 81. 99 
Katschenöwskij 143 
Kemer 56. 58 
Kiröjewskij 81 
Kleist 40. 41. 46 
Klinger 60 
Klopstock 39. 40. 41. 42. 

44. 46 
Kljiischnikoy 100 
Kltfschin $0 
Knjashnin 37. 51. 52 
Kokoschkin 71 
Kolzöv 73. 95 
KomarÖT 49 
König 42 
Konstantin Konstantinowitsch 

136 
Korol^nko 117. 122 
KoslöT 73 
KoslöT, P. A. 125 
Kostomärov 194—105. 107 
Koüar^wskij 145 
Kotoschichin 140 
KoUebne 36.47. 51. 52. 71 
Kraschenninikov 137 
Krestöwskij 100. loi. 135 
Krestöwskij, Ws. s. Chwo- 

schtschinskaja 
Krishanitsch 143 
KrylÖT 39 51. 53 
Krylör, V. 99 
KOkolnik 59. 98 
Kanst 23. 24 
Ktfprin 135. 
Kürbskij 15 
Kasmfn 135 
Kntüsov 35. 40 

Labmy^re 31 

Libsin 35 

Lafontaine 32. 38. 43. 51. 53 



Laroche 49 

Lash6tschnikOT 59 

Lavater 46. 48 

Leibniz 19. 20. 26. 39 

L^jkin loi 

Lenaa 95. 109 

Lenz 45. 49 

L^rmonto? 54. 58. 60. 81 — 

70. 79. 8ar. 86. 95. 117. 

126 
I^sage 49 
Lessing 25. 26. 46. 47. 54. 

66.67. 68.69. 71. 89. 99 
Lesköv loi 
LewitOY 93 
Lfgarid 17 
Lipsius 20 
Locke 34. 39 
Lohenstein 23 
Lomonösov 27—30. 31. 33. 

37—45. 51. 52 
Longfellow 109. 136 

Lopachin 35 

Lwov 36. 43 50. 

Maeterlinck 131 
MäjkoT, V. I. 39 
MdjkoT, A. N. 107 
Mämin (Ssibirjäk) 123 
Mann 98 

Mann, Joh. Hinrich 24 
Märkov 102 
Marko witsch 103. X04 
Mart^nov 96 
Massäbkij 59 
Matschtjet 120 
Matthisson 70 
Manpassant 84 
Maxim Grek 14. 16 
Meiners 60 
Mej 106 
Mendelssohn 39 
Menzel 84 
MichäiloT, A. 92 
Michäilov, M. P. 109 
Michailöwskij 126 
Milton 37. 46 
Mlnskij 131 
MjelnikÖT lOi. 102 
Mjereshköwskij 131.132135 
Moli^re 22. 23. 25. 42. 96 
Montesquiea 31. 34 
Moore 55. 58